"Wir sind nahe der Hölle"
Ungarn bezieht Gas und Atomtechnik aus Russland. Dabei hat das Land beste Voraussetzungen für Geothermie. Doch statt die Nutzung der heimischen Energiequellen zu unterstützen, schafft die Regierung sogar Hemmnisse für die Geothermie.
Budapest, 8. Bezirk: Die Wohnsilos an der Szigony Utca überragen das umliegende Altstadtviertel. Die Balkone sind mit braun getöntem Plexiglas verblendet, so wie es in den 1980er-Jahren modern war. Vor den hässlichen Beton-Burgen steht ein kleiner hölzerner Zeitungskiosk. Süßigkeiten und Zigaretten gibt es hier nicht – dafür aber Energie.
Der Kioskbesitzer reicht der jungen Frau eine Plastikkarte und einen Zettel aus seinem Fensterchen, bittet sie um ihre Unterschrift. Die Kundin hat sich am Kiosk ein Elektrizitätsguthaben gekauft. Der Betrag ist auf ihre Magnetkarte gebucht. Erst wenn sie diese zuhause in ihren Zähler steckt fließt der Strom.
Ungefähr für zwei Wochen reiche ihr Guthaben von umgerechnet 18 Euro, sagt die Frau. Der Kioskbesitzer staunt. Na ja, wenn es kälter wird, bräuchte sie natürlich mehr, sagt die Frau, denn sie heize auch mit Strom.
Nicht nur Strom könne man bei ihm am Kioskkaufen, sagt Laszlo Wölfinger, auch Gas.
„So, wie telefonieren."
Viele seiner Kunden konnten in der Vergangenheit ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und bekommen jetzt Strom und Gas nur noch bei Vorauszahlung. Aber das wird immer schwieriger: Löhne und Einkommen stagnieren, die Arbeitslosigkeit ist hoch, Renten und Sozialhilfe sind äußerst niedrig. In der Folge können immer mehr Ungarn ihre Energiekosten nicht mehr bewältigen. Daran hat auch die 25-prozentige Preissenkung 2013 durch dienationalkonservative Regierung von Viktor Orbán - rechtzeitig vor den letzten Wahlen – wenig geändert.
"Wir haben bereits eine Grenze überschritten, die die Gesellschaft kaum noch ertragen kann."
Energie-Effizienz als Fremdwort
Sagt der ehemalige Energiemarkt-Manager György Horuczi. In den letzten 15 Jahren haben sich die Importpreise für Erdgas – Ungarns wichtigster Energieträger für die Strom- und Wärmeerzeugung – versechsfacht. Das Bruttosozialprodukt des Landes ist dagegen kaum gewachsen. Hinzu kommt: Riesige Wohnsiedlungen, viele Gebäude und Industrieanlagen stammen aus der Zeit des Sozialismus, als das Gas noch billig und Energie-Effizienz ein Fremdwort war. Statt, wie heute, in großen Mengen Erdgas aus Russland zu importieren, sollte Ungarn zukünftig besser heimische Energiequellen anzapfen, sagt Horuczi. Sie befinden sich in der Erdkruste, die hier zwei Drittel dünner ist als anderswo in Europa. „Wir sind hier nahe an der Hölle", meint der 62-jährige Energieexperte, lächelt ein wenig diabolisch und startet seine Computerpräsentation.
Die Grafik zeigt die verschiedenen Gesteinsschichten, die von dem darunterliegenden flüssigen Erdkern aufgeheizt werden. Und die in der Erdkruste eingelagerten Wasserreservoirs, die diese Hitze an die Oberfläche transportieren können. Sie erstrecken sich unter etwa zwei Dritteln des Landes. Und wären vielerorts kommerziell nutzbar zu machen.
"Auf der Oberfläche haben wir die Technik, wir haben den Markt - alles was man braucht, um die Hitze aus der Tiefe zu übernehmen, um daraus elektrischen Strom zu erzeugen, um damit Städte zu beheizen oder die Industrie zu versorgen."
Aus Erdwärme Heizwärme gewinnen
Vor gut 15 Jahren reiste György Horuczi erstmals auf die Vulkaninsel Island. Schaute sich an, wie die Menschen dort aus der Erdwärme extrem billig und sauber Strom und Heizwärme gewinnen. Bei weiteren Besuchen ließ sich Horuczivon isländischen Geologen in die Geheimnisse der Heißwasser-Suchein der Erdkruste einweihen.
"Zusammen mit Ihnen habe ich die Methodologie entwickelt, Vorkommen zu identifizieren und zwar aufgrund der vorhandenen geologischen Datensammlungen."
Mit diesen Methoden ging Horuczi auf die lange Suche:Fünf Jahre lang sichtete und kopierte er die Datensätze geologischer Institute: In Ungarn, Polen, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Diese Daten sind zumeist Nebenprodukte aus der früheren Öl- oder Gassuche.
"Es war eine fantastische, umfangreiche und sehr zeitraubende Arbeit. Aber am Ende dieser Prozedur war ich vermutlich der einzige, der wusste, wo eine Suche nach den Heißwasser-Reservoirs im Untergrund erfolgreich sein wird."
Nach Abschluss seiner geologischen Recherchen, suchte Horuczi nach potentiellen Anwendern in der Nähe der jeweiligen Heißwasser-Vorkommen: Er suchte nach vorhandenen Fernwärmenetzen, nach möglichen Kraftwerksstandorten, nach energieintensiven Industrie-Unternehmen. Rund 50 lohnende Projekte habe er in Ungarn und seinen Nachbarländern, die ebenfalls im sogenannten pannonsichen Becken liegen, identifiziert, sagt Horuczi. Ein kurzes Lächeln huscht über sein blasses Gesicht. Alle nötigen Daten habe er, die Bohrtechnik könne er organisieren.
"Ich habe die Märkte, ich habe die Technologie – ich habe nicht das Kapital. Aber wird das Kapital diese Märkte erschließen, mit unserem Wissen, unserer Infrastruktur und unserer Technologie – das ist die Frage."
Chancen nicht erkannt
Horuczi blickt jetzt wieder ernst. Sein Problem sei die ungarische Regierung. Sie habe die Chancen der kommerziellen Erdwärme-Nutzung noch immer nicht erkannt. Sie müsse endlich entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen schaffen.
"Die Gründe dafür: Ein Mangel an Wissen. Es gibt niemanden in der Regierung und ihrer Verwaltung der einen ganzheitlichen Blick auf die Möglichkeiten der Geothermie-Nutzung hat: Auf die Stromerzeugung, die Versorgung der Fernwärmenetze und die Entwicklung der ländlichen Räume."
Statt die Nutzung der heimischen Energiequellen zu unterstützen, schaffe die Regierung sogar Hemmnisse für die Geothermie, klagt Unternehmer Horuczi. Er verweist auf ein neues Gesetz, dass es schwieriger macht, tiefer als 2500 Meter zu bohren. Dort liegen in Ungarn jedoch die Heißwasser-Reservoirs, die auch eine preiswerte Stromerzeugung ermöglichen. Gerne würde das der Geothermie-Experte der Regierung erklären.
"Das Problem ist, dass ich keine Möglichkeit habe, den Entscheidern meine Informationen und meine Vorstellungen mitzuteilen."
Seit vier Jahren bemühe er sich um einen Kontakt – vergeblich. Warum wisse er nicht, deutet aber einen Einfluss der etablierten Energiewirtschaft an. MOL - Ungarns Öl und Gaskonzern - ist der größte Steuerzahler des Landes. Und der größte Stromerzeuger, das Atomkraftwerk in Páks, ist ein Staatsbetrieb. György Horuczi klappt seinen Laptop zusammen. Jetzt will er sein Wissen in Ungarns Nachbarländern nutzen.
Energieversorgung aus eigener Kraft
April 2014. Protestszenen im Parlament begleiteten die Abstimmung zum Bau zweier neuer Reaktor-Blöcke für Ungarns einziges Atomkraftwerk. Stein des Anstoßes: Russland soll die riesigen Atommeiler bauen und vorfinanzieren, so beschloss es die Regierungspartei Fidesz mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit. Das Projekt gilt vielen Fachleuten als intransparent, unwirtschaftlich und finanziell riskant. Über die Hälfte der Ungarn lehnen es ab. Auch Orbáns langjähriger politischer Wegbegleiter, der ehemalige Fidesz-Umweltminister Zoltán Illés. Er fordert mehr Unabhängigkeit und mehr Energieversorgung aus eigener Kraft:
"Erneuerbare Energien! Anstatt Nuklearenergie, für die wir die Brennstäbe aus Russland brauchen oder Gas, das wir aus Russland bekommen, sollten wir die Sonnenenergie nutzen, Biomasse, Windenergie - alle diese heimischen erneuerbaren Energien."
Zoltán Illés zählt die Möglichkeiten an den Fingern seiner linken Hand ab. Ungarn sollte aus der Atomenergie aussteigen. In zehn bis fünfzehn Jahren könnte sein Land eine grüne Energiewende schaffen, sagt der ehemalige Minister und Professor. Und bis dahin sollte Ungarnbilligen Strom aus Westeuropa zukaufen. Denn dort gibt es große Überkapazitäten. Doch statt über die Vorschläge auch nur zu diskutieren, ließ Regierungschef Viktor Orbán Zoltán Illés feuern.
"Ich bin auch kein Parlamentsabgeordneter mehr. Diese Entscheidung wurde - wie ich erfahren habe - vom Ministerpräsidenten direkt getroffen, der entschieden hat mir nicht die Möglichkeit zu geben, weiter zu machen. Weder im Parlament noch als Minister."
Regierungschef Orban schweigt dazu. Wie Ungarn angesichts der Krise zwischen EU und Russland zukünftig seine Energieversorgung sicherstellen kann, wisse er im Moment aber auch nicht, räumte er kürzlich in einem Zeitungsinterview ein. Welche Chancen Ungarn mit der Nutzung erneuerbarer Energien hätte, zeigt eine kleine Stadt im Süden des Landes. Dort ist man eigene energiepolitische Wege gegangen.
Eine mit großen Bäumen gesäumte Hauptstraße, ein altes Schloss und ein modernes Schulzentrum – die südungarische Kleinstadt Boly hat gerade mal 4000 Einwohner. Aber sie wächst. Neue Unternehmen siedeln sich an, neue Arbeitsplätze entstehen. Das hat viel mit den Heißwasser-Reservoirs zu tun, die hier bereits 1983, bei der Suche nach Uranerzen entdeckt wurden. Und mit Bolys Bürgermeister József Hárs, der 1994 das Amt übernahm.
Der Bürgermeister ist gelernter Ingenieur für Gebäude- und Versorgungstechnik. Die Erdwärme sah er als Chance für die Beheizung der Gebäude in seiner Stadt. Hárs schrieb Gutachten, sammelte Geld, stellte Anträge, wartete auf Genehmigungen der staatlichen Behörden. Unglaublich lange dauerte das alles. Aber Jozsef Hárs gab nicht auf. Über zwanzig Jahre nach der Entdeckung des Heißwasser-Reservoirsging die geothermische Wärmeversorgung in Boly 2008in Betrieb:
"Neben der ursprünglichen Forschungs-Bohrung, haben wir zwei neue Bohrungen abgeteuft – also niedergebracht. Diese versorgen uns jetzt mit heißem Thermalwasser, dass wir durch isolierte Pipelines in die Stadt leiten."
Geld in die Stadtkasse
Über Wärmetauscher werden jetzt mehr als zwanzig Gebäude versorgt, das abgekühlte Wasser anschließend zurück in die Tiefe gepumpt.Die Heizung der öffentlichen Gebäude mit der Erdwärme spare 60 Prozent der vorherigen Heizkosten ein. Und der Verkauf der günstigen Energie an private Abnehmer bringe Geld in die Stadtkasse.
"Wir bieten diese Energie vorzugsweise unserem Gewerbegebiet an. Und zwar ein Drittel günstiger als der aktuelle Gaspreis. Damit wollen wir Boly natürlich auch zu einem attraktiven Unternehmens-Standort machen."
In Bolys Industriepark haben sich mehrere große Firmen aus der Elektrotechnik und der Metallverarbeitung angesiedelt. Sie nutzen die vergleichsweise günstige Heiz- und Prozesswärme und schätzen vor allem, dass die Preise der heimischen Energie auch in Zukunft stabil bleiben– anders als bei Gas und Öl. Vielen Bürgermeister-Kollegen aus anderen Kommunen habe er die Geothermie-Anlage schon vorgeführt, sagt Jozsef Hárs und lächelt. „Der Heizer", so wird er in Boly auch genannt.
"Und ich erzähle jedem: wenn wir vorher gewusst hätten, dass es unter diesen Bedingungen so gut funktioniert, hätten wir es auch ohne staatliche Fördergelder begonnen, die es damals noch gab. Und wir hätten es viel früher angefangen."
Geothermische Fernwärmenetz
Das Schulzentrum war eines der ersten Gebäude, das an das geothermische Fernwärmenetz angeschlossen wurde. Nun hat es eine komfortable Fußbodenheizung und die Schüler können im angeschlossenen Freibad auch im Frühling und Herbst schwimmen. Aber das ist noch nicht alles, sagt Schulleiterin Maria Blandl und zeigt stolz auf die schimmernden Solarstrommodule auf dem Dach der Turnhalle, der Bürgermeister hat sie dort montieren lassen.
"Wir versorgen uns auch mit eigenem Strom - also Heizung durch Thermalwasser und Strom über Sonnenenergie."
Auch viele Privathaushalte im Ort würden sich gerne auf günstige erneuerbare Energien umstellen. Doch den meisten fehlt das Geld für die Investitionen. Staatliche Unterstützung wie in Deutschland gibt es in Ungarn nicht. Schulleiterin Maria Blandl hat sich trotzdem eine Fotovoltaik-Anlage auf ihr privates Hausdach bauen lassen. In nur acht Jahren soll sie sich – dank der vielen Sonne in Ungarn - bezahlt gemacht haben. Die Lehrerin ist dann in Pension und bekommt ihren Strom umsonst.
"Wenn man daheim ist, ich höre das von den Kollegen, braucht man viel mehr Energie. Dann haben wir gedacht: Wir investieren jetzt ein bisschen und dann können wir leichter leben."
Orban setzt auf russische Gasimporte und Atomreaktoren
Die südungarische Kleinstadt Boly zeigt, wie sehr man in Ungarn von erneuerbaren Energien wirtschaftlich profitieren könnte. Auch eine geothermische Stromerzeugung wäre vielerorts kommerziell möglich. Doch die Regierung von Viktor Orban setzt ausschließlich auf russische Gasimporte und Atomreaktoren – und verbaut Ungarn damit die Energie-Zukunft – so sieht es Orbans geschasster Umweltminister Zoltán Illés:
"Was ich sage ist, wir sollten die Politik ändern. Da mit einer Änderung der Politik die Erneuerbaren konkurrenzfähiger werden könnten. Was ich sehe, ist, dass innerhalb der nächsten acht bis zehn Jahre erheblich größere Kapazitäten aufgebaut werden könnten. Mit ungarischem Geld, mit EU-Geld und mit westlichen Investoren im Bereich erneuerbare Energien - aber dafür müsste man die Politik ändern. Und wer kann die Politik ändern? Die Regierung!"