Geovani Martins: "Aus dem Schatten. Stories"
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp, Berlin 2019
126 Seiten, 18 Euro
Alle sind Täter und Opfer zugleich
06:08 Minuten
Geovani Martins wuchs im größten Armenviertel Lateinamerikas auf. In seinen Kurzgeschichten gelingt ihm ein packendes Bild über das Leben in den Favelas. Die Helden seines Debüts "Aus dem Schatten" koksen, morden, werden von der Polizei verfolgt.
"Von Favela-Besuchen wird dringend abgeraten." Die Mahnung an Brasilien-Reisende auf der Website des Auswärtigen Amtes ist eindeutig. Für Touristen mag die Vokabel noch immer exotisch klingen. Die Bewohner von Südamerikas Armengebieten dürften das anders sehen.
Dass das Leben in den Favelas einer somnambulen Hölle gleicht, ist auch die Quintessenz von Geovani Martins' Erzählungen. In 13 kurzen Stories gelingt dem brasilianischen Nachwuchs-Autor ein packendes Bild dieses urbanen Dschungels aus verwahrlosten Slums, frei hängenden Stromleitungen und rivalisierenden Gangs.
Unpathetisch, aber mit Verve zeichnet Martins den Kreislauf aus Drogen, Armut und Angst, für den die Vokabel bis heute steht. Seine halbwüchsigen Protagonisten koksen von morgens bis abends, werden ständig von der Polizei verfolgt, legen aber auch mal selbst einen Drogenkunden um.
Neues Talent der brasilianischen Literatur
Martins, 1991 geboren, und in Lateinamerikas größter Favela Rocinha in Rio de Janeiro aufgewachsen, schöpft aus der Kenntnis des Insiders. Seit seiner Entdeckung in einer Schreibwerkstatt von Rios "Festa Literária das Periferias - Flup" stilisieren ihn die Medien zum neuen Stern am brasilianischen Literatenhimmel.
Eine vollkommen neue Ära, wie sie der Publizist João Moreira Salles sieht, wenn er von der "Ankunft einer neuen brasilianischen Literatur" schwärmt, markiert Martins Prosa aber kaum. Der 27-Jährige ist nur ein besonders ungestümer Wiedergänger des guten alten Realismus. Er intoniert diese bewährte Ästhetik aber nicht magisch, wie oft in Lateinamerika, sondern rotzig, direkt, ungefiltert.
Gut angereichert hat der junge Autor seine skizzenhaften Episoden mit Slang-Wendungen, alle tönen sie im Sound der Straße: "Die Typen sind echt süchtig, ohne Scheiß, so was hab ich noch nicht gesehen. Zehn Uhr morgens, die Sonne knallt wie Sau, und die hauen sich das Zeug in die Nase".
"O sol na cabeça", "Die Sonne auf meinem Kopf", der Originaltitel des Buches, spiegelt die benebelte Psyche seiner — ausnahmslos männlichen — Protagonisten besser wieder als der deutsche Titel.
Kennzeichnend für Martins Realismus, ist, wie er ihn mitunter existentialistisch verdichtet. In Momenten der Gefahr werden seine sonst so coolen Jungs plötzlich melancholisch und selbstreflexiv.
"Stimmte es tatsächlich, dass wir allein auf die Welt kamen und allein starben, ohne jemals anderen Zugang zu unserem Innersten zu gewähren?", fragt sich einer der Protagonisten nach einem Angstflash, der ihn bei einem Kiff-Ausflug an den Strand überfällt.
Martins überzeugt durch unsentimentalen Ton
Geovani Martins ist nicht die erste authentische Stimme aus der Peripherie. 1997 schrieb sich sein Landmann Paulo Lins mit dem Favela-Roman "Die Stadt Gottes" zu Weltruhm.
Was Martins Debüt so eindringlich macht, ist der Ton des Unsentimentalen und Illusionslosen. "Aus dem Schatten" ist weder Anklage noch weist es einen Ausweg aus der Hölle auf Erden. Alle in diesen Stories sind Täter und Opfer zugleich.
"Ab jetzt würde der Schmetterling sein Lieblingstier sein", dachte der kleine Breno noch in dem symbolhaften Moment, als das verirrte Tier in der Küche plötzlich in dem Öl ertrinkt, in dem ihm seine Großmutter Pommes Frites backt.