Gepierct, tätowiert, operiert

Von Astrid von Friesen |
Herr oder Frau über den eigenen Körper zu sein, ihn zu manipulieren, zu verändern, in die Natur eingreifen zu wollen - das ist heute Normalität. Dabei wird der Körper zur Projektionsfläche für die selbst konstruierte Identität, meint die Therapeutin Astrid von Friesen.
Tierschützer laufen Sturm gegen das Brandzeichnen von Pferden. Vergleichbare, nicht weniger eingreifende Körperveränderungen bei Menschen nehmen dagegen zu. Das sind Piercing, Tätowierungen, Ganzkörperrasuren, Schönheitsoperationen bis hin zu extremen Selbstverstümmelungen. Denn manche Menschen haben das chronische Bedürfnis sich zum Beispiel die Beine amputieren zu lassen, was ihnen mittlerweile in England auch gestattet wird.

Dies sind aktuelle Formen des uralten Kampfes sich von der Natur abzugrenzen. Bei den Urvölkern dienten Bemalungen und Piercings dazu Entwicklungsübergänge aufzuzeigen, wie den sozialen Rang oder den ehelichen Status. Es ging und geht immer um die Zugehörigkeit zu abgegrenzten Sub-Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.

Seit den Griechen ist das westliche Ideal bislang der unversehrte Körper gewesen, wie Gott ihn geschaffen hat. Doch die Nazis veränderten dies: Sie brandmarkten ihre Opfer in den KZs ebenso wie ihre Angehörigen der SS. Bisher galten diese Körpereingriffe als Sünde gegen Gott. Doch in unserer Zeit spielen die Menschen Gott, indem sie meinen, ihre Körper vervollkommnen zu müssen.

Die Entdeckungsreisenden hatten diese Art der Selbstveränderungen aus Ozeanien nach Europa gebracht. Deswegen mendelte sich diese Mode von den Matrosen über die Kriminellen zunächst in die Unterschicht und nun in die Mittelschicht, denn mittlerweile sind mehr als 50 Prozent aller 18- bis 24-Jährigen tätowiert.

Es sind sowohl öffentliche wie private Mitteilung: Liebesbeziehungen, Schwüre, Dank nach schweren Krankheiten - wie bislang auf Votivtafeln - werden symbolisiert, man signalisiert Insider oder Outsider zu sein. Das ICH betont seine Individualität durch diese Körperbilder, durch den Mut zur Selbstverletzung beim Piercing oder den vergrößerten Busen - gegen die als immer unerträglicher empfundene Fremdbestimmung.

Heute geht es um individuellen Protest gegen das Schönheitsideal der Natürlichkeit. Als wild und ungezähmt möchte man sich von der Elterngeneration abgrenzen und merkt nicht – wie alle Pubertierenden zu allen Zeiten, dass man sich nun einem anderen Gruppenzwang unterwirft.

All dies sind Kompensationen des Narzissmus. Sie verweisen auf ein niedriges Selbstwertgefühl und innere Leere. Gesucht werden Reize und Risiko. Dies entsteht, wenn das Kind nicht wirklich als einmalig durch die Eltern wahrgenommen wird; die verschlüsselten Hilfeschreie nehmen zu.

Erklärlich auch deswegen, weil wir seit der Steinzeit symbolische Mitteilungen von kultureller Bedeutung indirekt kommunizieren, indem wir sie auf dem Körper lesbar machen. Vorzugsweise an Körperteilen, die mit Tabus und Gefahr verknüpft sind wie etwa die Geschlechtsteile, die Brustwarzen, die Nase oder der Mund.
Warum verstärkt sich dieser Trend gerade heute? Wir leben in Zeiten, in denen jeder seine Biografie selbst erfindet. Dass wir bald unser Geschlecht freiwillig wählen sollen, wird bereits diskutiert. Unsere Kleidung diente bisher durch die Markenbetonung als Brandzeichen für den Status.

Nun hat es die Körperoberfläche erreicht: Der Körper als Projektionsfläche für die selbst konstruierte Identität. Da wir auch unter der Schnelllebigkeit leiden, verpassen wir dem Körper beständige Bilder, Male, stolz getragene sichtbare Verwundungen.

Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin. Sie unterrichtet an den Universitäten in Dresden und Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Im MDR-Hörfunkprogramm "Figaro" hat sie eine Erziehungs-Ratgeber-Sendung. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Ellert & Richter Verlag Hamburg).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat