Weitere Informationen über das Projekt finden Sie unter https://chatterbaby.org.
"Ihr Kind ist zu 42 Prozent hungrig"
Ist es hungrig, müde oder hat es Schmerzen? Junge Eltern sind oft unsicher, weshalb ihr Baby schreit. Die App "ChatterBaby" analysiert den Klang und liefert eine Erklärung. Dahinter steckt ein nicht unumstrittenes Forschungsprojekt der Universität von Kalifornien.
Judith hält ihre elf Monate alte Tochter fest im Arm, das kleine Mädchen schreit seit wenigen Minuten und Judith versucht sie zu beruhigen.
"Fuzzy, ja, das ist es auch."
Das Baby ist laut "ChatterBaby"zu 63 Prozent müde.
"Also, so ist der Anteil? So ist der wahrscheinlich meistens bei ihr, weil sie eigentlich sehr oft so schreit."
Judith und Max vertrauen auf ihre Intuition. Ihre Tochter hat noch keinen Mittagsschlaf gehalten und ist deshalb quengelig. Da müssen die jungen Eltern keine App befragen, die den Klang des Schreis analysiert: "Die Körpersprache und was sie gerade macht, sind manchmal doch auch wichtig, um das einordnen zu können. Oder dass man weiß 'Oh, sie ist jetzt schon fünf Stunden wach, dann ist sie wahrscheinlich müde' oder 'Oh, sie hat vier Stunden noch nichts gegessen, dann ist es Hunger'. Den Kontext zu wissen, ist doch meistens auch hilfreich, würde ich sagen."
Stimmt, aber Ariana Anderson hat die kostenlose App "ChatterBaby" gerade für die Eltern entwickelt, die sich anders als Judith und Max mit ihrem weinenden Baby unsicher sind.
Eine Trefferquote von fast 90 Prozent, sagt die Erfinderin
"Ich habe vier Kinder", sagt sie. "Als ich mein erstes Kind bekommen habe, hatte ich gerade meinen Doktor in Statistik in der Tasche. Ich war eine Expertin, wenn es um Zahlen geht. Ich sah auf dem Papier sehr gut aus. Aber als ich eine Mutter wurde, hatte ich keine Ahnung, was ich tun soll."
Die App funktioniert wie eine Art Übersetzermaschine für das Weinen der Babys: "Du nimmst fünf Sekunden des Babyweinens auf. Die Aufnahme geht an die UCLA. Wir lassen unsere Software drüberlaufen und wir vergleichen dein Baby-Weinen mit all den anderen in unserer Datenbank, die die Mütter schon eingeordnet haben. Und wir finden heraus, ob es quengelig, hungrig ist oder Schmerzen hat."
Und das mit einer Trefferquote von annähernd 90-Prozent, sagt Ariana Anderson. Die Statistikerin von der "University of California" in Los Angeles hat gemeinsam mit ihrem Team über 2.000 unterschiedliche Wein- und Schreilaute in den ChatterBaby-Algorithmus eingefüttert, die zuvor von Müttern durchgehört und einsortiert wurden.
Der Algorithmus filtert dann aus diesen unterschiedlichen Weinlauten wiederum an die 6.000 Merkmale aus und analysiert dabei unter anderem Tonhöhe, Lautstärke und Frequenz. Anhand dieser Merkmale legt er dann fest, ob das Kind quengelt, hungrig ist oder Schmerzen hat. Das Analyseergebnis wird den Eltern innerhalb von Sekunden auf dem Smartphone angezeigt. In Prozenten steht dann, was am ehesten zutrifft. Judith ist skeptisch: "Jetzt ist es 'Pain'. Aber das ist ja totaler Quatsch. Kannst zurückmelden, dass das eine ziemlich hohe Fehlerquote hat. "
Tatsächlich ist das möglich. Stimmt die Einschätzung nicht, kann das in der App angegeben werden. So wird der Algorithmus mit jeder Anwendung weiter trainiert.
Kann man Autismus am Weinen erkennen?
Doch ChatterBaby soll nicht nur beim Auslesen der Befindlichkeiten des Babys helfen.
"Eine Sache, die uns wichtig ist: Wir wollen die Forschung zu Autismus vergrößern", so Anderson. "Zum Beispiel werden Kinder von armen Familien häufig erst spät diagnostiziert, im Gegensatz zu Eltern mit Geld. Das macht es sehr schwer die Kinder zu behandeln. "
Hierzu können Eltern mit Hilfe der App auch an einer Studie über sechs Jahre hinweg teilnehmen. Anderson und ihre Kollegen vergleichen das Weinen von gesunden und kranken Babys und versuchen so Anzeichen für Autismus herauszulesen. Ein ambitioniertes Projekt, an dem sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt versuchen - das aber auch seine Grenzen hat.
"Das ist nicht besonders genau" sagt Stephebn Sheinkopf von der Brown-University. "Ich glaube nicht, dass wir einfach nur das Weinen nehmen können und so eine Art von Behinderung bei dem Kind von einer anderen unterscheiden können. Dafür gibt es bislang keine Belege."
Für Stephen Sheinkopf können die Schrei- und Weinlaute zwar generell dabei helfen, zu erkennen, ob etwas mit einem Baby nicht stimmt. Eine exakte Diagnose aber gebe es erst in der Kombination aus Lautanalyse und anderen Untersuchungen: "Was wir Autismus nennen, gibt es nicht wirklich bei Kleinkindern. Die Symptome können nicht zuverlässig diagnostiziert werden, bis das Kind 12 Monate alt ist."
"Will ich wirklich eine App entscheiden lassen, wie es meinem Baby geht?"
Denn autistische Menschen haben Schwierigkeiten in der Interaktion. So es fällt ihnen beispielsweise schwer, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, sich in deren Gefühlswelt einzufühlen. Auch ihre Kommunikation und Wahrnehmungsverarbeitung unterscheiden sich von der nicht-autistischer Menschen. Alles also Anzeichen, die sich bei Babys kaum nachweisen lassen. Der Psychologe Stephan Sheinkopf warnt vor Falschdiagnosen:
"Wir wollen vorsichtig damit sein, die rote Fahne zu schwenken, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt, wenn vielleicht doch alles gut ist. Das kann einen negativen Effekt auf die Familien haben, denn die machen sich viele Sorgen und verschwenden dann am Ende vielleicht auch ihre Ressourcen, obwohl es ihrem Kind eigentlich gut geht."
Eine Sorge, die auch Kathleen Wermke vom Universitätsklinikum in Würzburg teilt. Die medizinische Anthropologin hat mit ihrem Team unter anderem den wichtigen Einfluss der Sprache der Mutter auf die Babylaute untersucht:
"Will ich wirklich selbst die Verantwortung abgeben und eine App entscheiden lassen, wie es meinen Baby geht? Oder ist es nicht auch eine Gefahr? Denn diese bisher existierenden Systeme geben vor, auf wissenschaftlicher Grundlage zu agieren. Wir arbeiten 30 Jahre auf dem Gebiet. Ich würde mich hüten zu sagen, dieses Baby hat auf der Schmerzskala zwischen 0 und 10 Schmerz Nummer 5."
Sprachanalyse ist in der Medizin auf dem Vormarsch
Tatsächlich aber spielt die Sprachanalyse in der Medizin eine immer wichtigere Rolle. Forscher suchen neue Wege, um frühe Anzeichen für Erkrankungen auszumachen. Neben Autismus gibt es erste Versuche, Herzerkrankungen mit Hilfe von Stimmanalysen nachzuweisen.
Für Babys könnte das auch ein Weg sein, ohne invasive Maßnahmen wie eine Blutabnahme Diagnosen exakter und früher zu stellen. Und es würde Medizinern ermöglichen, gerade bei einer Erkrankung wie Autismus eine Analyse anhand von festen Kriterien und nicht nur Beobachtungen zu liefern. Aber selbst, wenn das irgendwann möglich werden sollte, Eltern sollten nie ausschließlich per App von einer möglichen Erkrankung ihres Kindes erfahren.
Bislang liefert ChatterBaby ja lediglich Infos über den Jetzt-Zustand. Zur Absicherung von Eltern, die sich unsicher sind, ob ihr Kind ernsthafte Schmerzen hat oder nicht. Auch nicht unproblematisch: Schon heute klagen Notaufnahmen darüber, dass immer mehr überbesorgte Kleinkindeltern ihre Kinder zu Unrecht vorstellen.