Gérald Bronner: „Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft“
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Das Gehirn in Zeiten der Informationsflut
05:51 Minuten
Gérald Bronner
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen GesellschaftC.H. Beck, München 2022285 Seiten
24,00 Euro
Soziale Medien machen sichtbar, wie intuitiv unser Gehirn auf äußere Reize reagiert. Das kann das klare Denken behindern. Wer gegensteuern will, müsse die Mechanismen verstehen, mahnt der Soziologe Gérald Bronner in seinem neuen Buch.
Kognitive Apokalypse: Was für ein alarmistischer Titel! Klingt nach Zerstörung des menschlichen Geistes, ausgelöst durch die Digitalisierung.
Neu wären solche Szenarien nicht. Allerdings: Gérald Bronner ist kein Technikpessimist. Mit Apokalypse meint er die ursprüngliche Bedeutung des Wortes: Offenbarung.
Digitale Medien hätten wie nie zuvor offengelegt, wie leicht sich das Gehirn des Menschen mit technischen Tricks in den Bann ziehen lässt, schreibt er. Die Kehrseite: Aufmerksamkeit wird abgezogen, klares Denken behindert. Und das könne durchaus apokalyptische - gemeint ist: dramatische - Folgen haben.
Ablenkung ist stets willkommen
Mit seinem Buch will der französische Soziologe gegensteuern. Aber nicht, indem er all das Gedaddel in den sozialen Medien verurteilt. Sein Ziel ist Aufklärung.
Das permanente Scannen von News, das Liken von Bildern, das Chatten wie auch der Online-Konsum von Sex-Videos – all das treffe auf „anthropologische Imperative“, die im menschlichen Gehirn verankert sind. Und deshalb könne man solchen Aufmerksamkeitstriggern nur schwer widerstehen.
Das heißt, alles, was die eigene Identität berührt, wird unmittelbar wahrgenommen – auch gegen unseren Willen. Spektakuläres etwa, Neuigkeiten über Stars oder Informationen, die eine Gefahr oder Warnung darstellen, aber auch einzelne Wörter wie der eigene Vorname oder das Wort Sex.
Mit Hilfe zahlreicher Studien erklärt Gérald Bronner, was dabei im Gehirn abläuft. Wie es beim Einsetzen des „Vergleichsreflexes“ Dopamin ausschüttet. Oder in welchen Regionen festgelegt wird, was besonders schnell wahrgenommen wird.
Ein Selektionsvorteil wird zur Last
Das Dilemma: Der einstige Selektionsvorteil – schnell reagieren zu können – wird durch das Internet zur Last. Auch hier belegt der Soziologe seine Thesen mit Studien. Sie zeigen: Je mehr Informationen auf schnelle Reflexe abzielen, desto schwerer wird es, Nachrichten noch richtig einzuordnen. Etwa zu erkennen, wann wirklich Gefahr droht. Doch wie umgehen mit diesen „kognitiven Verzerrungen“? Was muss die Gesellschaft tun?
Zuallererst realistische Vorstellungen über das menschliche Wesen entwickeln! Nachdrücklich macht Gérald Bronner, der sich selbst „Neorationalist” nennt, klar, wie wenig er von einer „naiven Anthropologie“ hält. Diese gehe davon aus, dass der Mensch, etwa wenn er profitorientierte (digitale) Medien nutzt, von seiner Natur entfremdet handelt.
Ebenso scharf rechnet er mit der Ideologie von „Neopopulisten“ wie Trump, Grillo oder Bolsonaro ab, die demokratische Instanzen ausschalten wollen und behaupten, nur die direkte Kommunikation mit dem Volk (via Internet) sei genau das, was die Bürgerinnen und Bürger wünschten.
Das Vermögen, selbst zu denken
Bronner sieht diesen Ausweg: Als Ausgleich müssen diejenigen Teile des Gehirns gestärkt werden, die derzeit zu kurz kommen. Die Fähigkeit zum Aufschub unmittelbarer Befriedigung etwa. Oder das Vermögen, selbst zu denken. Wissenschaft, Bildung und Chancengleichheit sind dabei für ihn zentral. Das ist freilich eher ein Statement, denn ein (politischer) Plan. Seiner brillanten, mehrfach preisgekrönten Analyse tut das aber keinen Abbruch.