Géraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen, Erinnerungen einer Europäerin
Secession Verlag für Literatur, Zürich, 2018
445 Seiten, 28,80 Euro
Schmerzhafte Aufarbeitung der Vergangenheit
Der Großvater von Géraldine Schwarz profitierte von der Arisierung, verdrängte nach 1945 seine Schuld und ihr Vater lehnte sich dagegen auf. In "Die Gedächtnislosen" arbeitet sie ihre Familiengeschichte auf. Ein aufrüttelndes Werk über Mitläufertum.
Die Journalistin Géraldine Schwarz wurde 1974 in Straßburg als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren. Sie bezeichnet sich selbst als Kind der deutsch-französischen Versöhnung mit einem intensiven Blick auf die Geschichte und Entwicklung dieser beiden Gesellschaften im letzten Jahrhundert bis zur Gegenwart. In ihrem ersten Buch "Die Gedächtnislosen", in dem sie sich obsessiv der oft schmerzhaften Aufarbeitung der Vergangenheit widmet, stellt sie die These auf, dass die Gedächtnisarbeit ein wesentlicher Bestandteil für den Aufbau und den Erhalt eines kritischen Geistes in einer demokratischen Gesellschaft ist.
Als Vehikel nutzt die Autorin ihre persönliche Familiengeschichte der letzten drei Generationen. Ihr Mannheimer Großvater Karl Schwarz, Mitglied der NSDAP – eher aus Opportunismus, denn aus Überzeugung –, kauft 1938 das Mineralölunternehmen der jüdischen Familie Löbmann, weit unter Wert, wie zu der Zeit üblich. Die geplante Flucht der Löbmanns misslingt, fast alle Familienmitglieder werden in Auschwitz ermordet. Nur Julius Löbmann entkommt nach Amerika und stellt nach dem Krieg Reparationsanträge. Der gesamte Briefwechsel zwischen den beiden Männern und den von ihnen eingeschalteten Anwälten wurde im Keller des Mannheimer Familienhauses aufbewahrt.
Aufarbeitung der Geschichte Frankreichs
Géraldine Schwarz ist betroffen über den Ton ihres Großvaters, der nicht nur jegliche Empathie vermissen lässt, sondern sich zunehmend selbst als Opfer inszeniert. Bei ihren historischen Recherchen muss die Autorin feststellen, dass dies durchaus dem Zeitgeist der jungen Bundesrepublik entspricht. Erst die Auschwitzprozesse und das Aufbegehren der Studentenbewegung, zu der sich auch ihr Vater zählt, fordert und fördert die intensive Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der NS-Zeit und auch der Blick auf die Verstrickungen jedes Einzelnen. Dagegen hält sich in Frankreich viel länger die Auffassung, dass das Vichy-Regime nicht zu Frankreich gehörte, – ein Satz von General Charles de Gaulles – und folglich fast alle Franzosen in der Résistance, dem Widerstand, waren. Ein Mythos, das belegt die Journalistin nicht nur mit ihrer eigenen Familiengeschichte.
Der Wechsel zwischen persönlicher und politischer Geschichte, die Einbindung von Literatur und historischen Forschungen macht das Buch überaus lebendig und faktengesättigt. Dabei schwingt die Autorin niemals die moralische Keule, sondern fragt sich oft, wie sie zu jener Zeit gehandelt hätte. Sie sucht nach Handlungsalternativen und ist immer wieder erschüttert über den vorauseilenden Gehorsam und die vielen Mitläufer, die ihrer Meinung nach erst das Ausmaß der Katastrophe des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges ermöglicht haben.
Für ihre Arbeit erhält Schwarz den Europäischen Buchpreis
Géraldine Schwarz spannt den Bogen weiter bis in die Gegenwart und weitet den Blick auf die europäischen Nachbarn aus. Sie legt den Finger in die Wunde der Verdrängung in Bezug auf den Faschismus in Italien, Österreich, der DDR und großen Teilen Osteuropas und sieht darin einen direkten Zusammenhang mit dem Erstarken der Rechtspopulisten. Erinnerungsarbeit ist das Wort, das sich durch ihren Text zieht. Es ist das Plädoyer für eine Methodik der Aufarbeitung, die die Deutschen quasi "erfunden" haben, und die heute als vorbildhaft gilt: Hinschauen, um aus dem Negativen das Positive abzuleiten und es fest verankern.
Der Europäischen Buchpreis, den diese faktenreichen und aufrüttelnden "Erinnerungen einer Europäerin" dieser Tage in Brüssel verliehen bekommen, ist wohlverdient.