Gerd Hankel: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord.
Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird
Zu Klampen, Röse 2016
487 Seiten, 24,80 Euro
Vergangenheitsbewältigung unerwünscht
Ruanda gilt heute als afrikanischer Vorzeigestaat. Dabei wird der Völkermord an Tutsi und Hutu vor 20 Jahren erheblich unter den Teppich gekehrt. Völkerrechtlicher Gerd Hankel wertet die fehlende Aufarbeitung als erneutes Unrecht und "Gründungslüge" des neuen Staates.
Nachdem am Abend des 6. April 1994 das Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten Habyarimana und dessen burundischem Amtskollegen kurz vor der Landung in Kigali abgeschossen worden war, explodierte schlagartig die Gewalt: Bis Mitte Juli desselben Jahres wurden etwa eine Million Menschen umgebracht, darunter 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie – was oft übersehen wird – mindestens 100.000 moderate Hutu, die sich an dem Morden nicht beteiligten oder sogar aktiv dagegen einsetzten.
Gut zwei Jahrzehnte nach dem Völkermord hat sich Ruanda zu einem Vorzeigestaat in Zentralafrika gewandelt: In der Hauptstadt Kigali künden Hochhäuser und Einkaufszentren von einem Leben in Frieden und Zuversicht; die Streitkräfte wurden modernisiert und gehören zu den schlagkräftigsten des Kontinents, die auch für Einsätze der UNO unverzichtbar sind. Die Verfassung garantiert die Achtung der Menschenrechte; und dass sich erst vor wenigen Wochen Vertreter von mehr als 150 Nationen zum Welt-Klima-Gipfel in Kigali trafen, unterstreicht die phänomenale Entwicklung, die das Land nach dem Genozid genommen hat.
"Das ist die eine Seite."
Schreibt Gerd Hankel.
"Die andere ist, dass der weltweiten Anerkennung und solidarischen Unterstützung heftige erbitterte Kritik gegenübersteht. Folgt man ihr, dann ist es so, als ob es kein Übel der Welt gäbe, das nicht in Ruanda zu Hause ist."
Unterdrückte Kritik in Ruanda
Gerd Hankel ist Völkerrechtler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Als ausgewiesener Ruanda-Experte beobachtet er seit 2002 insbesondere die juristische Aufarbeitung des Genozids.
Nun hat er ein Buch vorgelegt, in dem er nicht nur der heftigen, im Land selbst aber unterdrückten Kritik nachgeht; Hankel erzählt überdies in einem persönlich-engagierten, doch immer auch ruhigen und sachlichen Ton von seinen Begegnungen mit Hunderten von Ruandern – Tutsi wie Hutu – und von dem Preis, den das von der Regierung verordnete Zusammenleben von Opfern und Tätern kostet.
"Ausgangs- und Zielpunkt ist immer und überall der Völkermord. Die Tatsache, dass er geschehen konnte und von den Konstrukteuren eines neuen Ruanda beendet wurde, erlaubt keine kritischen Nachfragen."
Die könnten sich unter anderem auf die Vorgeschichte des Genozids beziehen: Auf den Krieg zum Beispiel, der am 1. Oktober 1990 ausbrach, als der militärische Arm des Front Patriotique Rwandais (FPR) von Uganda aus das Land überfiel. Mitglieder des FPR waren zum größten Teil Tutsi, die vor der Verfolgung durch Hutu geflohen waren. Jetzt ging es darum, die Rückkehr dieser Flüchtlinge mit militärischer Gewalt zu erzwingen.
Für die dem FPR nahe stehenden ruandischen Tutsi gilt dieser – im Übrigen völkerrechtswidrige Überfall – als alternativloser Auftakt zur Befreiung des Landes. Vor allem für jene Hutu hingegen, die im Norden des Landes längs der ruandisch-ugandischen Grenze lebten, wurde dieser Krieg zum Inbegriff von Tod und Vertreibung.
Warum dauerte es so lange, den Völkermord zu beenden?
Eine weitere, noch unbequemere Nachfrage könnte den Umstand betreffen, dass der FPR 1994 ganze drei Monate brauchte, um das Land zu erobern und das Völkermorden zu beenden – obwohl er doch bei anderen Angriffen bewiesen hatte, wie schnell sie vorrücken konnte.
Und warum weigerte sich die FPR-Führung unter Paul Kagame, dem heutigen Staatspräsidenten, eine neue, stärkere UN-Friedensmission zuzulassen – obwohl dies viele Menschenleben hätte retten können? Ging es Kagame hauptsächlich darum, als uneingeschränkter Sieger in die Geschichte einzugehen?
"Von dieser Perspektive aus gesehen wird man schwerlich behaupten können, der FPR stehe der geltend gemachte Anspruch, entschlossen für die Sache der Menschlichkeit eingetreten zu sein, zu Recht zu. (…) Dass der Völkermord von Hutu begangen wurde, bleibt davon unberührt."
Nicht jedoch das Selbstverständnis, das sich nach dem Genozid unter der Regierung des FPR in der ruandischen Politik etabliert hat. Hankel ist nicht der erste, der den ungeheuren Verdacht äußert, der FPR habe im Interesse der eigenen Macht den Völkermord billigend in Kauf genommen. Schon Roméo Dallaire, damals Kommandeur der UN-Friedensmission in Ruanda, war nach mehreren Begegnungen mit Paul Kagame zu dem Ergebnis gekommen, diesem und seiner Armee sei es allein um die Erlangung der Herrschaft gegangen.
Sollte dieser schwer erträgliche Gedanke zutreffend sein, ist es nur logisch, mit welcher Akribie der regierende FPR an einem Narrativ gebastelt hat, in dem es nicht um Aufarbeitung und Versöhnung geht, sondern um die Durchsetzung eines Geschichtsbildes, das keinen Widerspruch duldet.
"Ich halte das für falsch. Wenn die Gründungslüge des neuen Ruanda ignoriert und die Implementierung totalitärer Strukturen verharmlost werden, kann aus dem Ergebnis dieses Vorgangs nicht die Existenz einer stabilen und geeinten Gesellschaft (…) herausgelesen werden."
Verbrechen blieben weitgehend ungeahndet
Von einer "Gründungslüge" zu sprechen, ist ziemlich starker Tobak. Dies umso mehr, als Hankel das nicht moralisch oder moralisierend meint, sondern nüchtern als Völkerrechtler argumentiert.
"Ein Völkerrechtsverbrechen kann ein anderes nicht verdrängen. (…) Gibt es (…) jenseits der Betroffenheit über die Völkermordverbrechen ein Unrecht, das trotz allen Fortschritts kenntlich bleibt und von diesem (…) nicht zu trennen ist?"
Die Antwort heißt: Ja, es gibt dieses Unrecht; und es umfasst nicht nur die Massaker, die von Tutsi während des Befreiungskrieges begangen wurden, sondern auch massive "Strafaktionen" gegen Hutu, nachdem das Land befreit war. Nach dem Völkerrecht sind es Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die allerdings weitgehend ungeahndet blieben.
Weder bei dem von der UNO eingesetzten Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, noch bei den Prozessen vor ruandischen Gerichten oder bei den von Laien-Richtern geführten so genannten Gacaca-Gerichten spielten sie eine wesentliche Rolle. Wohl aber in der Erinnerung der Opfer, die sich allein schon deshalb diskriminiert fühlen, weil ihnen der Opferstatus abgesprochen wird.
So etwas nennt man gemeinhin "Siegerjustiz". Da ist es kaum verwunderlich, dass Ruanda die Meinungsführerschaft unter jenen afrikanischen Staaten übernommen hat, die sich weigern, den Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir zu vollstrecken, den der Internationale Strafgerichtshof wegen des Begehens von Kriegsverbrechen und Völkermord ausgestellt hat.
Das Bild von einem Ruanda als Leuchtturm der Entwicklung in der zentral-afrikanischen Region wird noch schiefer, wenn man liest, wie unbequeme Oppositionelle spurlos verschwinden oder wie ungleich Kagames Wohlstandsversprechen eingelöst wurde – nämlich überwiegend zugunsten einer kleinen Machtelite, zu der Hutu kaum Zugang haben. Oder wenn man erfährt, wie auch Kagame der "afrikanischen Krankheit" erlegen ist und durch eine Verfassungsänderung im kommenden Jahr seine dritte Amtszeit antreten wird. Sollte die Staatsmacht einmal wanken, wäre laut Hankel durchaus die Gefahr von Pogromen gegen die Tutsi gegeben. Also muss die Faust des Präsidenten noch eiserner werden.
"Reicht das als Fazit?"
Fragt Hankel am Ende seiner profunden Studie.
"Ich denke schon, wenn man, wie hier geschehen, eine menschenrechtliche Matrix anwendet und damit die ruandische Politik an den eigenen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit laut propagierten Zielen misst. Nicht ausreichen wird es sicherlich, wenn man realpolitische Aspekte betont. Dann ist leicht ebenso Schlimmes oder noch Schlimmeres denkbar."