Gerhard Falkner: Apollokalypse
Berlin Verlag, Berlin 2016
432 Seiten, 19,99 Euro
Wüst, witzig und abgründig
"Apollokalypse", der erste Roman des Lyrikers Gerhard Falkner, hat es in sich. Drei junge Männer gehen im Berlin der 80er- und 90er-Jahre auf einen Sex- und Drogen-Trip und treffen den Teufel persönlich. Großartige deutsche Literatur.
Wer "Ich" sagt, hat noch nichts begriffen. Das Ich ist ein unzuverlässiger Zeuge, wenn es denn stimmt, dass Wahrheit erinnerungstechnisch nichts anderes ist als eine "in Sicherheit gebrachte Lüge". Da scheint der Gedanke nahezu tröstlich, das "Ich" als ein Gemeingut zu betrachten, "auf das eine Gemeinschaft von Nutzern gleichzeitig Zugriff haben könnte." Wie das funktioniert, führt Gerhard Falkner in seinem furiosen Roman "Apollokalypse" vor.
Drei gespaltene Männer und ein Psychoanalytiker
Auf der Ereignisoberfläche handelt es sich um einen Berlinroman über die 80er- und 90er-Jahre mit dem Mauerfall und der Wendezeit im Zentrum. Drei junge Männer, "Modell Bundesrepublik", also mit der Gnade der Sorglosigkeit ausgestattet, jedoch so unfertig wie die Stadt, die solche Typen angezogen hat, stürzen sich in ein "außerplanmäßiges Existieren", getrieben von Drogen aller Art und sehr viel, wirklich sehr viel Sex. Der eine ist ein Dandy, der absehbar verspießern wird, ein ausgeprägt analerotischer Charakter.
Der zweite ist künstlerisch ambitioniert und schizophren und wird unweigerlich zugrunde gehen. Er erlebt die geteilte Stadt als wäre er es selbst, als trennte die Mauer zugleich die beiden Hemisphären seines Hirns. Der dritte, der Ich-Erzähler Georg Autenrieth, ist narzisstisch und sexbesessen, blickt aber – die Indizien verdichten sich – auf eine irgendwie konspirative Vergangenheit im Sympathisantenkreis der RAF zurück, ja vielleicht war er sogar an einem Anschlag beteiligt und hat außerdem mit der Stasi kooperiert.
Aber das ist noch nicht genug der Spaltungen und Dunkelheiten. Ein mephistophelischer Verführer tritt auf, ein Psychoanalytiker und ein mysteriöser Doppelgänger. Doch was, wenn der Analytiker erklärt: "Sie haben keinen Doppelgänger, sie sind der Doppelgänger", um schließlich als der eigene Patient aufzutreten? Vor allem aber gibt es kräftige Frauenfiguren, die geeignet sind, das Begehren zu wecken und die Männer in den Wahnsinn zu treiben: die schöne Isabell, mit der Georg Autenrieth nach Kalifornien reist und dort eine Nacht in einer verlassenen Kapelle verbringt, und später dann die aus Bulgarien stammende, zu grandioser Unordnung neigende Billy, die irgendwas mit dem Geheimdienst zu tun hat und nebenbei eine merkwürdige Beziehung mit einem deutschen Bundeswehrgeneral unterhält.
Sprachliche und sexuelle Urgewalt
Erotik, Begehren, Wunsch und Wille, Geschichte und Politik, Kunst und Psychoanalyse und Persönlichkeitsspaltung: Gerhard Falkner, bisher vor allem als Lyriker berühmt, hat diesen wüsten, so witzigen wie abgründigen Roman dem Vernehmen nach zehn Jahre lang liegen lassen. Vielleicht hat er sich selbst ein wenig gefürchtet vor dieser sprachlichen und sexuellen Urgewalt. Zum Glück hat er sich nun doch zur Veröffentlichung entschlossen. Dass er als Lyriker vielleicht manchmal etwas zu viel des Guten tut, stört nur zu Beginn. Die Berlin-Beschreibungen sind großartig und die Metaphern und Sprachbilder, die er findet, so treffend wie erkenntnisfördernd.
Das gilt schon für den Titel, der das Schöne (Apollo), die Verführung (Kalypso) und die Zerstörung (Apokalypse) zu einer Einheit zusammenfügt. Der prekäre Ich-Erzähler wächst einem in all seiner leiblichen, lustvollen Geisterhaftigkeit sehr ans Herz, auch wenn er sich in seiner ichverliebten Selbstauslöschung allmählich zum Verschwinden bringt: "Es gab also einen Georg Autenrieth, der ich nicht gewesen sein konnte." Aber gerade das ist der leere, also in alle Richtungen offene Ausgangspunkt, um eine irrwitzige, hochpoetische Biographie zu erfinden. Auf der Longlist des deutschen Buchpreises steht der Roman sehr zu Recht. Er wäre ein würdiger Gewinner. Deutsche Literatur kann auch mal großartig sein.