Gerhard Henschel: "Arbeiterroman"
Hoffmann & Campe, Hamburg 2017
528 Seiten. 25 €
Belletristik und Bauchtanz
"Arbeiterroman" ist der siebte Teil der Lebenschronik Martin Schlossers, eine Art autobiografisches Großprojekt des Autors Gerhard Henschel. Hier beschreibt er Schlossers erste literarischen Gehversuche und wie seine Freundin ihn verlässt, um im Bauchtanz Erfüllung zu finden.
Es gibt hierzulande keinen Autor, der mit derartiger Konsequenz für seine Generation das schreibt, was Walter Kempowski für seine Generation mit der "Deutschen Chronik" vorgelegt hat. Nicht ohne Grund taucht "Vater Kempowski", Verfasser "gottvoller" Romane wie "Tadellöser & Wolff", im "Arbeiterroman" auch immer wieder auf – als Briefpartner des 26-/27-jährigen Martin Schlosser, das literarische Alter Ego Gerhard Henschels.
Der Sammler, Archivar und Schriftsteller aus Nartum darf als Patron und Ziehvater Henschels gelten - neben Eckard Henscheid und dem in diesem Roman einer Schriftstellerwerdung die wohl wichtigste Rolle spielenden Michael Rutschky. Rutschky, seinerzeit (der Roman spielt in den Jahren 1988-1990) Redakteur der Berliner Zeitschrift "Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen", veröffentlichte erste Texte des angehenden Autors, der sich mit Gelegenheitsarbeiten in einer Spedition sowie mit einem Kellnerjob in der Diskothek "Na Nu" und ersten satirischen Gehversuchen beim Hamburger Magazin "Kowalski" durchschlug.
Ermuntert von Rutschky, der seine "Fertigkeiten in der Kunst der soziologischen Feinmalerei" erkennt, schreibt Schlosser/Henschel über Grünkohlwanderungen und Kaffeefahrten, bis ihm sein Förderer eines Tages nahelegt - "nur Mut" -, seine Beobachtungsgabe doch für ein Buch zu nutzen.
Feiner Blick fürs Detail
Ein Glücksfall, denn dieses "Schreiben Sie ein Buch" Rutschkys kann als Initialzündung für den gesamten Martin-Schlosser-Zyklus gesehen werden. Der Autor selbst spricht von seiner Reihe "historischer Romane" der jüngeren Zeitgeschichte. Ein solcher ist auch der "Arbeiterroman" zweifelsohne, erzählt er doch mit feinem Blick für das Detail von jener Zeit, da nicht nur die DDR stetig ihrem Ende entgegenging, sondern in der bundesdeutschen Provinz (Henschels bevorzugtem Terrain) der "lange Donnerstag" eingeführt wurde und man im Supermarkt Einkaufswagen erstmals mit Einmarkstücken loskettete.
Henschel gelingt es, mittels einzelner Wörter - ein Begriff wie "Besucheransturm" findet in Zusammenhang mit der Massenflucht aus der DDR damals in die Nachrichtensprache - Erinnerungskaskaden auszulösen.
So wird Martin Schlossers Geschichte bei allen biographischen Besonderheiten (Schlossers Mutter Ingeborg stirbt an Krebs, was Henschel lakonisch-anrührend schildert) zu unser aller Geschichte. Zudem verfügt Henschel über einen klugen, leisen Witz, der seinem schriftstellerischen Großunternehmen auch die nötige ironische Selbstdistanz verleiht und ihm gerade bei Schilderung des nicht immer einfachen Beziehungslebens mit der bauchtanzenden Freundin zupass kommt.
Unspektakuläres Leben als literarisches Ereignis
Selten ist ein unspektakuläres Leben, das zwischen dem Hören von Bob-Dylan-Songs und Badewannenbesuchen eher so dahinplätschert, literarisch zu einem solchen Ereignis geworden.
"Was das Gedächtnis alles aufbewahrte. Über zwei Jahrzehnte! Es schien eine unbegrenzte Speicherkapazität zu besitzen."
So sinniert der Erzähler einmal, erstaunt über sein Vermögen, Dinge zu memorieren. Dieses Gedächtnis und ein bemerkenswertes Archiv bilden das Fundament für diesen zitatgespickten fortlaufenden Lebensoman, dessen nächster - achter - Band mit dem "Dorfroman" längst in Arbeit ist.