Gerhard Henschel: Künstlerroman
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
573 Seiten, 25,00 Euro
Bettelarm, doch an Fleischeslust reich
Mit dem "Künstlerroman" veröffentlicht Gerhard Henschel nun den bereits sechsten Band seiner autobiografischen Tiefenbohrung - und schafft es inzwischen bis ins Jahr 1987. Sex spielt dabei eine besonders große Rolle.
Als Gerhard Henschel 2004 – nach einem Präludium, dem umfangreichen Briefroman "Die Liebenden" – seinen "Kindheitsroman" veröffentlichte, kündigte sich eines der ungewöhnlichsten Projekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur an. Unerschrocken machte sich Henschel fortan daran, ein Bild seines eigenen Lebens akribisch nachzuzeichnen.
Martin Schlosser, so hieß der unverkennbar autobiografisch geprägte junge Held und Ich-Erzähler, an dessen frühen Lebensjahre, von 1964 bis 1975, wir teilhaben durften. Mit dem "Künstlerroman", dem sechsten Band der Folge, hat es Henschel in seiner autobiografischen Tiefenbohrung immerhin bis ins Jahr 1987 geschafft, nach insgesamt knapp 3500 Druckseiten.
Wer zu den Henschel- und Schlosser-Anhängern gehört, ahnte schon, dass es im "Künstlerroman" zu einer einschneidenden Zäsur kommen wird. Des faden Germanistikstudiums (in Berlin und Köln) endgültig überdrüssig, beschließt Martin zum Entsetzen seiner Eltern die Universität ohne Abschluss zu verlassen und sich als freier Schriftsteller einzurichten. Oldenburg, wo sich für 180 Mark eine Vierzimmerwohnung ergattern lässt, wird zum neuen Lebenszentrum, von wo aus die Republik literarisch erobert sein will.
Der mutige Entschluss, einen solchen "Ein-Mann-Betrieb" zu gründen, bedarf der finanziellen Unterfütterung. Martin nimmt quälend langweilige Fabrikjobs an, spart, wenn es nicht um Bücher geht, an allen Ecken und Enden und trampt durch Deutschland – vor allem um seine Freundin Andrea zu besuchen.
Sexualität als eines der Leitthemen
"Bettelarm, doch an Fleischeslust reich", lautet die Zwischenbilanz seiner Autorenexistenz, und in der Tat ist die Sexualität eines der Leitthemen dieser im Detail oft sehr komischen Biografie. Gevögelt wird, wann und wo immer es geht, und ob es opportun ist, dieser Freizeitbeschäftigung ausschließlich mit Andrea nachzugehen, wird ausführlich diskutiert. Ja, wir sind offenkundig in den 80er-, in den Helmut-Kohl-Jahren, und wie immer sind Henschels Schlosser-Romane wunderbare Dokumente ihrer Zeit, gesehen aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Geistes. Unabhängig? Nun, auch der nicht leicht zu beeindruckende Martin macht den Firlefanz jener Jahre nimmt, besucht Atemtherapie- und Bioenergetikseminare, legt das Crowley-Tarot und interessiert sich, nicht nur aus erotischen Motiven, für Bauchtanz.
Das Esoterikzeitalter lässt grüßen und wird dank Gerhard Henschels schonungslosem Umfang mit seinen Mitmenschen (und mit sich selbst) aufs Schauderlichste reanimiert. Zum Glück verfallen Autor und Held den Einflüsterungen nicht mit Haut und Haaren.
Da helfen die literarischen Säulenheiligen wie Karl Kraus, Eckhard Henscheid, Arno Schmidt oder Rolf Dieter Brinkmann und die musikalischen wie Bob Dylan, Leonard Cohen und Tom Waits, deren Liedzeilen immer wieder das eigene Tun kommentieren.
"Wie der sich wohl fühlen mochte, so als Romanfigur?"
Ja, der "Künstlerroman" ist auch ein Roman, der die politischen Ereignisse heraufbeschwört, die allmähliche Öffnung in Osteuropa, der rätselhafte Tod Uwe Barschels oder das Reaktorunglück in Tschernobyl. All das saugt der angehende Autor Martin Schlosser in sich auf und kommentiert es unentwegt.
Und ja, der "Künstlerroman" ist auch der Roman einer verzweigten, hoch komplizierten Familie. Die Eltern, die quälend über den Einsatz von Soßenbinder streiten, wollen sich scheiden lassen, und wenn alle Schlossers zusammenkommen und sich dem "Lebensvernichtungsritual" von frischem Kaffee und aufgewärmten Anekdoten hingeben, verzweifelt Martin – und denkt doch keine Sekunde daran, dieser Sippe und damit dem Stoff seiner künftigen Romane abzuschwören. Denn im "Künstlerroman" steckt bereits die Keimzelle des Schlosser-Zyklus – wenn Martin Richtung Koblenz aufbricht, den Schauplatz des "Kindheitsromans", und die Orte seiner frühen Jugend mit leiser Wehmut mustert.
Und wenn er Walter Kempowskis ihm bislang nur als literarische Gestalt bekannten Bruder Robert trifft und sich prompt fragt: "Wie der sich wohl fühlen mochte, so als Romanfigur?" Eine Frage, der sich die Familien Schlosser bzw. Henschel sicher noch viele Jahre stellen müssen.