Gerhard Schröders Erinnerungen

Von Norbert Seitz |
Noch nie haben Kanzler-Erinnerungen einen derartigen Medienwirbel entfacht wie die des Merkel-Vorgängers Gerhard Schröder in der vergangenen Woche.
Drei Aspekte der Schröder-Memoiren gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik: Der frühe Zeitpunkt des Erscheinens, das Publikationsmotiv und der Stil des Umgangs mit Nachfolgern, Gegnern und Freunden, den echten wie den Parteigenossen.

Dabei scheint vor allem das Zeitargument in unseren medialen Fastfood-Welten nicht sehr stichhaltig zu sein. Denn die Vorstellung mutet geradezu naiv an, man müsse nach dem atemberaubenden Neuwahljahr 2005 dem abgewählten Kanzler erst einmal eine längere Phase von neuer Nachdenklichkeit verordnen, um ihm zu weiseren Urteilen über sich und seine Regentschaft zu verhelfen.

Doch der Zeitfaktor ist weder eine Reflexions- noch Gelassenheitsgarantie. So wartete Helmut Kohl sieben Jahre nach seiner Abwahl mit immer noch nicht abgeschlossenen Mammut-Memoiren auf, die sich auf mehr Verschwörungsthesen und Rechthabereien als nüchterne und selbstkritische Urteile eines Elder Statesman stützt.

Und, Hand aufs Herz: Strotzen Willys Brandts letzte Erinnerungen aus dem Jahre 1988, bei denen seine dritte Gattin die Feder mitgeführt hat, von größerer Ausgewogenheit als jene, die zwei Jahre nach seinem Kanzlersturz anno ´76 erschienen waren?

Auch Helmut Schmidt ist in seinem Erinnerungsband "Weggfährten" über innerparteiliche Kritiker wie zum Beispiel Erhard Eppler unerbittlicher als weiser gestimmt, je ferner die Auseinandersetzungen zurück liegen.

Um es in Anlehnung an den ersten Kanzler Adenauer zu sagen: Schröder ist Schröder, einen anderen kriegen wir nicht. Deshalb lieferte er sofort und nicht erst nach einer Grübelphase anhaltender Exerzitien.

Vor allem möchte er sich das Deutungsmonopol über seine siebenjährige Regentschaft nicht von Parteilinken und feindseligen Gewerkschaftlern abjagen lassen, die seinen entschiedenen Basta-Stil mit der unerwachsenen Basislegende aus den 70er Jahren bekämpfen möchten, dass Entscheidungen von unten wachsen müssten. Und das heißt im Klartext von Funktionären gemacht werden, von denen es in den Erinnerungen heißt, sie würden "Festigkeit in der Politik" häufig mit der "Starrheit im Denken" verwechseln.

Schröders erstes Motiv für seine memorative Rasanz war gewiss die nochmalige Verteidigung seines Neuwahlbestrebens vom Abend des 22. Mai letzten Jahres nach der für ihn so verlustreichen Nordrhein-Westfalen-Wahl.

Denn die Kritiker in den eigenen Reihen mehren sich, die nach den ersten konjunkturellen Wetterleuchten und dem erbaulichen WM-Festival im Lande wieder einmal an einer typisch linken "Legende von der verpassten Chance" herumbasteln - nämlich der, dass Schröder mit der vorschnellen Parlamentsauflösung einen in diesem Jahr eher möglich gewesenen Wahlsieg verspielt habe.

Besonders scheinheilig dabei, dass jene Kritik aus dem Lager derer kommt, denen Schröder in seinen Erinnerungen vorhält, nicht seine Amtsverlängerung, sondern - im Gegenteil - seinen vorzeitigen Sturz betrieben zu haben.

So bleibt der Ex-Kanzler in seinen Erinnerungen bei seiner Version: Seine Entscheidung vom Mai 2005, Neuwahlen anzustreben, ist staatspolitisch ohne Alternative und notwendig für das Überleben der SPD gewesen.

Bliebe da noch der Vorwurf an Schröder, Kanzlerin Merkel kritisiert zu haben. Das verstoße gegen die Spielregeln, heißt es reihum.

Doch die Schonung des Nachfolgers im Kanzleramt gehörte schon immer zu den pharisäerhaftesten Vorsätzen gestürzter, abgewählter oder zurückgetretener Regenten. Segnete der biblisch bejahrte Adenauer nicht zufrieden das Zeitliche, als er kurz davor noch den von ihm mitbetriebenen Sturz seines ungeliebten Nachfolgers Erhard hat erleben dürfen?

Ebenso fügte Willy Brandt seinem Nachfolger Helmut Schmidt manche empfindliche innerparteiliche Niederlage bei. Dieser predigte zwar immer fromme Zurückhaltung gegenüber Helmut Kohl, obwohl doch jedes seiner Interviews und Bücher zu den Defiziten der deutschen Einheit sich wie versteckte Seitenhiebe auf den Pfälzer Rekordkanzler lesen sollten.

Gerhard Schröder kann also mit dem Vorwurf leben, sich nicht viel anders verhalten zu haben als seine Vorgänger. Der Medienrummel um seine Vorab-Memoiren bestätigt zumindest seine Maxime, die wir auf Seite 33 seiner kompakten Erinnerungen wiederfinden: Nicht allen Einflüsterungen zu trauen, sondern wesentlich auf das zu hören, was die einen "innere Stimme" und die anderen "Instinkt" nennen würden.


Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, promovierter Politologe, ist verantwortlicher Redakteur der politischen Kulturzeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte"; schreibt u.a. für den "Tagesspiegel", die "Frankfurter Rundschau" und verschiedene Magazine. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung" (2005).