DLF-Nachrichtenchef: "Das Letzte, was die Informationsgesellschaft braucht"
Welche Nachrichten wurden 2018 unterschlagen und warum? Solche Enthüllungen verspricht Gerhard Wisnewski in seinem aktuellen Bestseller. Ein ärgerliches Buch mit Hang zu Verschwörungstheorien, meint DLF-Nachrichtenchef Marco Bertolaso.
Joachim Scholl: Jeden Donnerstag begutachten wir in der "Lesart" einen aktuellen Titel aus den deutschen Bestsellerlisten, und dort steht derzeit Gerhard Wisnewskis Buch "Verheimlicht, vertuscht, vergessen. Was 2018 nicht in der Zeitung stand". Und wir haben jetzt dafür wohl den besten Fachmann unseres Hauses am Start, Marco Bertolaso, Chef der Nachrichten im Deutschlandfunk. Was, Herr Bertolaso, ist das denn für ein Buch?
Nur vermeintliche Enthüllungen
Marco Bertolaso: Gerhard Wisnewski präsentiert pro Monat so an die zehn Themen, bei denen er aus seiner Sicht etwas entlarven kann. Und eines davon vertieft er dann immer als Schwerpunkt. Es wird beim Lesen ziemlich schnell klar, wie der Hase läuft, denn immer wieder ist vom "Merkel-Regime" die Rede, Zuwanderung ist eine Gefahr, Überfremdung Europas das Ziel etwa beim UNO-Migrationspakt. Und deutsche Männer haben es immer schwer, müssen verweichlichen und dürfen kein Fleisch mehr essen.
Vielleicht noch mal ein paar konkrete Beispiele: Beim NSU-Prozess ging es nicht um rassistische Morde, wenn man dem Autor glaubt. Die Opfer sind vielmehr einem Tiefen Staat deutscher und türkischer Krimineller und Geheimdienstler zum Opfer gefallen, weil sie Geschäftsleute waren. Das aber darf niemand erfahren.
Und geschah in Chemnitz ein Mord mit Ansage? Gerhard Wisnewski will beweisen können, dass im Internet das Solidaritätskonzert gegen Rechtsextreme und Rassisten schon längst angekündigt war, bevor Daniel H. auf dem Stadtfest erstochen wurde, also lange, bevor irgendjemand von den Ausschreitungen in Chemnitz überhaupt wissen konnte. Und die Brücke in Genua – das ist vielleicht mein Favorit –, ist sie wirklich eingestürzt? Könnte es nicht viel eher die Sprengung eines im besten Zustand befindlichen Bauwerks gewesen sein? Und liegt das Motiv nicht klar auf der Hand, nämlich die der EU unbequeme neue italienische Regierung in Bedrängnis zu bringen. So läuft das also in dem Buch.
"Ein sektenartiger Ansatz"
Scholl: Diese Beispiele hören sich wirklich nach krudestem Verschwörungstheorie-Geschwurbel an. Hat das Buch denn überhaupt irgendeine Relevanz, oder hat es irgendwas Überzeugendes an sich?
Bertolaso: Gerade wegen dieses Ansatzes, hinter die Kulissen blicken zu wollen, macht mich das Buch eigentlich wütend. Denn als Nachrichtenmensch will ich ja, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und gern auch eine überraschende Wahrheit - und am besten natürlich in unseren Sendungen exklusiv.
Und natürlich ist es auch richtig zu sagen, dass es zu viel Verlautbarungsjournalismus gibt, und es gibt auch vergessene Nachrichten. Gerhard Wisnewski setzt aber nicht auf Recherche und Fakten – das ist im Übrigen auch ziemlich anstrengend –, sondern er setzt vor allem auf Unterstellungen und Mutmaßungen. Ich glaube, sein Ansatz ist weniger aufklärerisch oder ist es vielleicht gar nicht, sondern sektenartig. Das ist aus meiner Sicht das Letzte, was die Informationsgesellschaft braucht.
"Ein super Geschäftsmodell"
Scholl: Jetzt ist das Buch aber dennoch auf den Bestsellerlisten. Was, glauben Sie, macht ein solches Buch so verkaufsträchtig oder so erfolgreich? Ist das das Marktschreierische oder vielleicht auch die Sucht nach der großen Käseverschwörung?
Bertolaso: Klar, das Buch erscheint und verkauft sich zum zwölften Mal. Das Ganze ist ein super Geschäftsmodell. Sie haben nach dem Warum gefragt. Ich glaube, Gerhard Wisnewski inszeniert sich als furchtloser Wahrheitssucher, als Tabubrecher gegen den Mainstream. Und das kommt in bestimmten Gruppen der Gesellschaft an und ist wohl auch, wenn man das sagen darf, in Teilen der AfD anschlussfähig.
Für mich ist das Buch eine Papier gewordene geschlossene Facebook-Gruppe, vielleicht ja für besorgte Bürger ohne Internet. Und vielleicht sind die 286 Seiten in Hardcover auch in bestimmten Kreisen ein Statussymbol.
Wenn ich mal was dagegenhalten darf: Mir ist was aufgefallen. Gerhard Wisnewski gibt sein Werk ja schon lange immer Ende November in den Druck. Das Ergebnis ist, es gibt kein Dezember-Kapitel. Stellen Sie sich das mal vor. Ein Monat wird totgeschwiegen, der letzte im Jahr, der Monat der Geburt Christi. Das kann kein Zufall sein. Da bin ich jetzt mal dran.
Scholl: Danke schön. Marco Bertolaso mit seinem Blick auf diesen derzeitigen Bestseller.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.