"Wir dürfen nicht Angst zu unserem Ratgeber machen"
Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hält es für falsch, nach den Attentaten in Paris von "Krieg" zu sprechen, wie einige Politiker es derzeit tun. "Krieg ist eine andere Dimension", betont er und warnt vor verbaler Kraftmeierei und Gesetzesverschärfungen.
Der FDP-Politiker Gerhart Baum warnt vor möglichen Forderungen nach Gesetzesverschärfungen im Zusammenhang mit den Attentaten in Paris. Im Deutschlandradio Kultur sagte Baum, der von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister war, das Grundgesetz sei an Menschenwürde und Freiheit ausgerichtet – "wir können nicht die Verfassung außer Kraft setzen lassen durch Terroristen, das wäre ja noch schöner! Das wollen die ja, dass wir unsere Werte verraten".
Seiner Meinung nach habe, zumindest in Deutschland, bislang niemand versagt, alles, was möglich sei, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, werde getan. Baum räumte ein, dass die Bundesregierung in den 70er Jahren bei der Bekämpfung des RAF-Terrorismus die Grenzen des Rechtsstaates überschritten habe: "Wir waren drüber. Und wir haben das wieder korrigiert."
Ein Rundum-Schutz ist unmöglich
Gerhart Baum betonte, man müsse sich damit abfinden, dass die Bürger nicht immer und überall hinreichend geschützt werden könnten. Etwas anderes zu behaupten, sei unverantwortlich.
Er wandte sich scharf gegen Politiker, die in der jetzigen Situation von "Krieg" sprächen. Auch Bundespräsident Joachim Gauck sei in seiner Rede zu weit gegangen: "Krieg heißt Einsatz der Bundeswehr – dass sind ganz klare Regelungen im Grundgesetz." Juristisch sei eine solche Wortwahl deshalb nicht haltbar.
Der FDP-Politiker betonte, er begrüße es, wenn Politiker die Wahrheit aussprächen.
"Aber ich möchte meine Hilflosigkeit nicht kaschieren durch Worte, durch Kraftmeierei wie der Herr Söder das tut. Ich möchte nicht, dass wir plötzlich einen Generalverdacht errichten gegen die Flüchtlinge. Das ist geradezu schändlich, was da geschieht."
Die Flüchtlinge seien ja genau vor diesem Terrorismus geflohen.
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Dieser Angriff erfolgte, weil Frankreich das Land der Freiheit und der Menschenrechte ist. Francois Hollande, der französische Präsident hat diese Worte gestern vor den Abgeordneten seines Landes in Versailles gebraucht, um zu erklären, was eigentlich nicht zu erklären ist, warum sein Land Ziel dieser unglaublichen Gewalt war. Frankreich ist ein Land im Krieg, das hat der Präsident schon am Wochenende gesagt, und die Tatsache, dass Frankreich wohl über drei Monate ein Land im Ausnahmezustand sein wird, belegt: Es ist mehr als nur Rhetorik.
So sehr all das nachvollziehbar ist in diesen Stunden, so sehr stellt sich die Frage über den Tag hinaus: Ist das der richtige Weg? Wie kann eine offene Gesellschaft klug auf Terror reagieren? Gerhart Baum hat diese Fragen beantworten müssen als Bonner Staatssekretär und Innenminister für die FDP zu Zeiten des Terrors der RAF in den 70er-Jahren. Herr Baum, ich grüße Sie!
Gerhart Baum: Ich grüße Sie auch!
Frenzel: Haben die Taten vom Freitag bei Ihnen Erinnerungen wachgerufen?
Baum: Natürlich, das sind immer die gleichen Reaktionen der Erschütterung, des Mitgefühls, und dann stehen die Politiker vor der Frage, wie sie reagieren sollen, um so etwas zu verhindern. Da muss man ganz deutlich sagen: Das ist nicht zu verhindern, leider nicht. Bitter zu sagen, wir sind nicht hinreichend geschützt gegen diese Art von Terror.
Und ich halte nichts davon, jetzt von Krieg zu sprechen. Krieg ist eine andere Dimension. Wir haben es mit Schwerverbrechern zu tun, die wir bekämpfen, und das müssen wir mit Augenmaß tun, wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wir dürfen nicht Angst zu unserem Ratgeber machen. Das sind genau die Situationen, die wir früher schon mal erlebt haben.
Krieg heißt: Einsatz der Bundeswehr
Frenzel: Das heißt, lassen wir mal die Franzosen außen vor, es gab ja auch deutsche Stimmen dieser Art, der Bundespräsident zum Beispiel Joachim Gauck, der das Wort Krieg in den Mund genommen hat ... Ist er damit zu weit gegangen?
Baum: Ja. Krieg heißt Einsatz der Bundeswehr, das sind ganz klare Regeln im Grundgesetz. Juristisch ist das nicht haltbar. Und die Frage ist, ob man jetzt so tut, als seien wir in einer ganz neuen Situation. Herr Söder hat gesagt, die Anschläge in Paris ändern alles. Ja, kann man sagen, ändern alles für die Familien der Opfer.
Aber sonst sind wir doch nicht überrascht! Wir haben doch Charlie Hebdo gehabt, wir haben Anschläge gehabt, verschiedene Anschläge in Westeuropa und wir müssen damit rechnen, dass das bei uns auch passiert!
Das ist ein Reflex auf die schreckliche Lage im Nahen Osten mit den zerfallenden Staaten, wo es keine Regierung mehr gibt, wo es keine Ansprechpartner gibt. Übrigens, mit wem soll man in diesem Krieg denn irgendwann mal Frieden schließen, wer ist denn der Kriegsgegner?
Frenzel: Es gibt ja auf der anderen Seite jemanden, der sich Staat nennt, Islamischer Staat. Und wenn Sie all das aufzählen, Herr Baum, all die Attentate, erst im Januar dieses Jahres der Angriff auf Charlie Hebdo, wir haben Madrid, wir haben London, wir haben New York allen voran. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es in der Tat ein dauerhafter Angriff ist, ein Krieg?
Baum: Krieg nicht, ein dauerhafter Angriff. Wer hat denn uns den Krieg erklärt? In der traditionellen Vorstellung gibt es Kriege zwischen Staaten. Hier haben wir es nicht mehr mit Staaten zu tun, das ist ja ungeheuer schwierig! Wir haben es mit fanatisierten Einzeltätern zu tun, acht oder zehn Menschen können Paris in einen solchen Schock versetzen durch massenhafte Tötung. Das ist eine Dimension, der wir ins Auge sehen müssen, die ist einfach da.
Hilflosigkeit mit Kraftmeierei kaschieren
Frenzel: Hilft es nicht vielleicht manchmal – und so habe ich vielleicht diese Aussagen auch verstanden von Politikern in Frankreich, aber auch von Joachim Gauck beispielsweise –, damit eine Fassungslosigkeit auszudrücken, eine geballte Faust in der Tasche? Ist es nicht gut, wenn Politiker auch das aussprechen, was wir alle empfinden?
Baum: Natürlich, ich empfinde das auch. Aber ich möchte mich der Wahrheit nicht entziehen. Ich möchte meine Hilflosigkeit nicht kaschieren durch Worte, durch Kraftmeierei, wie der Herr Söder das tut, ich möchte nicht, dass wir plötzlich einen Generalverdacht errichten gegen die Flüchtlinge, das ist geradezu schändlich, was da geschieht! Terrorismus findet unabhängig von den Flüchtlingen statt und die Flüchtlinge sind ja vor diesem Terrorismus geflohen!
Frenzel: Wenn wir aber noch mal auf das schauen, was der Staat kann, was er leisten muss in dieser Situation, da stehen wir ja vor diesem Dilemma: Wie viel Sicherheit, wie viel Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen brauchen wir, wie stark schränkt das unsere Freiheit ein? Brauchen wir nicht in einer Situation wie dieser eher einen Staat, der sagt, wir setzen zuallererst auf die Sicherheit der Bürger?
Baum: Das kann er gar nicht. Wir sind an der Menschenwürde, an der Freiheit ausgerichtet. Wir können hier nicht die Verfassung außer Kraft setzen lassen durch Terroristen, das wäre ja noch schöner! Das wollen die ja, dass wir unsere Werte verraten! Wir müssen alles tun, was getan werden muss. Und wer mir jetzt sagt, das sei bisher nicht geschehen, dann müssen die deutschen Innenminister des Bundes und der Länder eigentlich ihr Versagen öffentlich bekennen.
Ich bin der Meinung, es ist bisher alles getan worden, was hat getan werden müssen. Man kann natürlich das eine oder andere noch mal hinterfragen, aber es wäre wirklich unverantwortlich, den Menschen zu sagen, wir können euch schützen. Wir können sie nicht hinreichend schützen!
Wir können alles nur Mögliche tun, um die hier lebenden Gefährder, also Leute, die im Dschihad waren, zu beobachten, das ist ja in Frankreich gar nicht hinreichend geschehen. Ein Teil der Täter waren ja bekannt und Frankreich hat ein System der inneren Sicherheit, wo Menschenrechte weitgehend außer Kraft gesetzt worden sind. Und auch das hat nichts genützt!
Frenzel: Sie haben ja damals in den 70er-Jahren einen ganzen Instrumentenkasten rausgeholt, wo man sagen kann, Sie waren an der Grenze des Rechtsstaats. Oder waren Sie auch manchmal drüber?
Baum: Wir waren drüber und wir haben das hinterher auch korrigiert. Wir haben die weitgehende Einbeziehung von Unbeteiligten, die sich nichts zu Schulden kommen lassen haben, wieder herausgenommen. Und nach dem 11. September musste man natürlich reagieren, das war eine neue Dimension des islamistischen Terrors in New York, da sind gesetzliche Anpassungen gemacht worden, auch meines Erachtens zu weit gehend, und das Verfassungsgericht hat einiges zurückgedreht.
Aber nach jedem Attentat zu fragen, müssen wir noch was tun, wäre ein Ausdruck, ein Bekenntnis zu einer bisherigen Untätigkeit und ich habe keinen Anlass, die deutschen Sicherheitsbehörden zu kritisieren.
Frenzel: Der frühere Innenminister und FDP-Politiker Gerhart Baum, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Baum: Ja, ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.