Gerichtspsychologin: Manches wird falsch erinnert
Zeugenaussagen vor Gericht seien nicht immer zuverlässig, weil sich Menschen zum Teil fehlerhaft erinnern, sagt Renate Volbert, Gerichtspsychologin vom Institut für forensische Psychiatrie der Charité in Berlin.
Ulrike Timm: Wir haben uns in dieser Woche mehrfach hier im "Radiofeuilleton" mit der Erinnerung beschäftigt, mit dem Gedächtnis und dem Selbst, das Menschen abhanden kommt bei Demenz, aber auch damit, wie unser Gehirn überhaupt wahrnimmt und wie es überhaupt sortiert. Da stellt sich dann heraus, Erinnerung kann trügerisch sein. Jeder kennt das, in der Familie oder im Freundeskreis: Zwei Menschen können sich an ein und dasselbe Ereignis ganz unterschiedlich erinnern und beide beharren drauf, dass es genau so war, wie sie es erlebt haben. Das sorgt im kleinen Kreis manchmal für Erheiterung, häufig aber auch für handfesten Krach. Was aber, wenn es auf Erinnerungen ankommt, wenn sie gar justiziabel werden? Mit Zeugenaussagen hat die Rechtspsychologin Renate Volbert häufig zu tun, sie arbeitet als psychologische Gutachterin bei Gericht. Schönen guten Tag, Frau Volbert!
Renate Volbert: Guten Tag!
Timm: Frau Volbert, fangen wir mal ganz einfach an. Stellen wir uns vor: Autounfall, Fahrerflucht, ein Zeuge sagt, das war ein rotes Auto, ein Opel, ganz sicher. Wie sicher ist das?
Volbert: Ja, ganz sicher ist in diesem Fall wirklich schwierig zu beantworten. Gerade solche Dinge, die Sie jetzt angesprochen haben – Farben, periphere Details, die nicht so ganz zentral eigentlich sind –, sind etwas, was häufig falsch erinnert wird. Wir müssen uns vorstellen, dass die Funktion des Gedächtnisses eigentlich ist, Erfahrungen auszuwerten und für zukünftige Geschehnisse nutzbar zu machen. Die Funktion ist nicht, sich jede Einzelheit zu merken. Aber gerade bei Gericht kommt’s gerade auf Einzelheiten drauf an und manchmal auch auf nebensächliche Einzelheiten. Und man kann sagen, das ist fehlerhaft, aber eigentlich funktioniert das Gedächtnis deswegen, weil wir uns nicht jede Einzelheit merken, sondern weil wir uns wichtige Dinge merken. Und wenn es aber beim Gericht gerade auf so Einzelheiten, auf periphere Details ankommt, kann es manchmal zu falschen Zeugenaussagen kommen. Da können wir eigentlich nur sagen, gedächtnispsychologisch wissen wir, wo häufig Fehler auftreten, und darauf können wir hinweisen. Und Fehler treten zum Beispiel bei Beschreibungen häufig auf, bei der Beschreibung von Kleidung, bei der Beschreibung von Farben, bei Größenbeschreibungen und solche Dinge. Interessanterweise können Menschen eine Interaktion beobachten und ganz richtig wiedergeben, was da passiert ist, was die zwei Menschen miteinander gemacht haben. Und wenn sie die beiden Menschen beschreiben sollen, eigentlich Dinge, die viel weniger Voraussetzungen sind, man sieht das ja, dann treten Fehler auf. Dann wird behauptet, jemand hat ne rote Jacke an, der in Wirklichkeit eine schwarze an hatte, dass der blonde Locken gehabt hätte oder eine Brille getragen hätte, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht gestimmt hat.
Timm: Woran liegt das, am Stress, den jemand im Moment hat oder schafft sich das Gedächtnis in der Erinnerung die Erinnerung selbst?
Volbert: Das liegt eben daran, dass wir uns einfach auf bestimmte Sachen konzentrieren müssen, um überhaupt ein effektives Gedächtnis zu haben. Wenn wir uns alles gleichwertig merken würden, dann wäre das so eine Flut von Informationen, die kein Mensch verarbeiten könnte. Es ist gerade das Tolle am Gedächtnis, dass es im Grunde filtern kann, dass es unwichtige Informationen beiseite lassen kann, aber für ein Gerichtsverfahren ist es vielleicht wichtig. Also wenn man Opfer eines Verkehrsunfalls ist, ist es egal, welche Farbe das Auto gehabt hat, ne? Aber um jemand zu verfolgen, ist es wichtig zu wissen, welche Farbe das Auto gehabt hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit der Rechtspsychologin Renate Volbert über den Wert von Zeugenaussagen vor Gericht. Nun ist die Farbe eines Autos ja eine relativ einfache Sache. Was ist denn, wenn Erinnerungen ganz extrem gefühlsbeladen sind und wenn die Zeugenaussage zugleich eine Opferaussage ist, wenn zum Beispiel die Aussage von einer vergewaltigten Frau stammt, die von einem Moment auf den anderen Todesangst, Demütigung, körperlichen Schmerz erlebt hat und nun Aussagen zum Täter machen soll? Wie genau können solche Aussagen sein?
Volbert: Da spielt natürlich das auch eine Rolle, was Sie eben schon angesprochen haben, die Belastung und der Stress in der Situation wirkt sich natürlich aus, und da gilt umso mehr, dass nicht alle Informationen gleich gut gespeichert werden und man hinterher eine perfekte Personenbeschreibung beispielsweise geben kann, obwohl man eigentlich denken würde, mein Gott, das müsste man sich ja ganz besonders gut merken jetzt in so einer belastenden Situation, aber dass eben man viele dieser Informationen doch nicht so wahrnimmt und hinterher auch gar keine guten Personenbeschreibungen geben kann. Da ist auch der Stress in der Situation natürlich sehr hoch, dass nicht jede einzelne Information behalten wird.
Timm: Da haben Sie eine Doppelaufgabe. Zum einen möchten Sie dem Opfer helfen, sich zu erinnern, zum anderen müssen Sie aus einer ganz gefühlsgeladenen Situation eine objektive Aussage bekommen. Ist das überhaupt möglich?
Volbert: Also wenn wir tätig sind als Gutachter, als psychologische Gutachter an Gerichten, haben wir eigentlich noch eine andere Funktion, also wir müssen eigentlich herausfinden, ob das, was jemand sagt, tatsächlich erlebnisbasiert ist oder nicht. Das heißt, wenn wir mit jemandem sprechen, wissen wir überhaupt gar nicht, ob es sich um ein Opfer handelt oder nicht, sondern das ist die Frage, die es zu beantworten gilt. Also das ist einerseits die Frage, könnte das gelogen sein, aber die zweite Frage ist auch, könnte das eine sogenannte Pseudoerinnerung sein, das heißt, könnte jemand einfach glauben, dass ihm so was passiert ist, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht passiert ist. Und da sind wir einem Bereich, wo eigentlich die komplexesten Fehlerscheinungen auftreten und die man eigentlich zunächst sich wahrscheinlich am schwierigsten vorstellen kann, dass es tatsächlich passieren kann, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen glauben, sie haben etwas erlebt, meinen, sich erinnern zu können an auch ein belastendes Ereignis, das in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat. Und in diesen Fällen werden wir als Gutachter hinzugezogen.
Timm: Wie können Sie denn so eine Situation aufdröseln, wie können Sie sich da ein Bild verschaffen?
Volbert: Da geht es ganz stark darum, die Aussagegeschichte sozusagen zu rekonstruieren, zu schauen, wann hat zum ersten Mal jemand diese Erinnerung oder vermeintliche Erinnerung geäußert, unter welchen Umständen ist die aufgekommen.
Timm: Geben Sie doch mal ein Beispiel.
Volbert: Ja, dass jemand sagt, er glaubt, er ist in seiner Kindheit sexuell missbraucht worden, hat das aber zwischenzeitlich nicht erinnert, hat aber immer irgendwelche Ängste bekommen, und dann hat er darüber nachgedacht, was passiert sein könnte, hat Träume ausgedeutet, Dinge dieser Art gemacht, und ist dann zu der Erkenntnis gekommen, er ist sexuell missbraucht worden und hat dann auch entsprechende Bilder entwickelt, in welchen Situationen das passiert ist. So was kann vorkommen, und diese Bilder, die im Kopf entstehen, können Bilder sein von Ereignissen, die nicht tatsächlich stattgefunden haben. Aber wenn man glaubt, etwas ist passiert, wenn man sich ganz intensiv auf die Suche nach solchen vermeintlichen Erinnerungen begibt und sich ganz stark damit beschäftigt, entstehen möglicherweise Bilder im Kopf, die dann ganz lebendig sind und ganz vertraut sind, weil man sich so viel damit beschäftigt. Und weil sie so lebendig und vertraut sind, hält man sie für Erinnerungen.
Timm: Das heißt, Sie müssen aber auch ständig abwägen, ausbalancieren, letztlich dann auch entscheiden, wie glaubwürdig ist jemand. Wie groß ist denn die Unsicherheit, dass Sie da zum richtigen Ergebnis kommen?
Volbert: Zwei Kommentare dazu: Also entscheiden tun wir …
Timm: Tut der Richter, aber Sie machen sich ein Bild und liefern die Vorlage.
Volbert: Genau. Natürlich gibt es Fälle, in denen Unsicherheiten bleiben, in denen das nicht sicher aufzuklären ist. Für ein Gerichtsverfahren ist es allerdings auch so, dass alle Beteiligten davon überzeugt sein müssen, dass etwas tatsächlich passiert ist, um jemanden zu verurteilen. Wenn Unsicherheiten bleiben, wird man entscheiden, dass dann jemand nicht verurteilt werden kann, was nichts …
Timm: Im Zweifel für den Angeklagten.
Volbert: Genau, im Zweifel für den Angeklagten, was nicht zwingend bedeutet, dass das jetzt eine falsche Aussage gewesen ist oder eine Pseudoerinnerung gewesen ist.
Timm: Wir haben jetzt gesprochen über Menschen, die sich ihre Erinnerungen unbewusst selbst geschaffen haben. Was ist denn aber, wenn Sie zum Beispiel ein Kind haben, das einziger Zeuge ist – Kinder haben blühende Fantasie, sind aber deswegen ja nicht unglaubwürdig –, wie können Sie denn da herausfinden, das hat das Kind gesehen und das hat man ihm vielleicht auch eingeredet? Das stelle ich mir unglaublich schwer vor.
Volbert: Auch da geht es wiederum um den Prozess der Aussagegeschichte – zu gucken, wann hat das Kind das erste Mal was gesagt, bestand vorher schon ein Verdacht, hat das Kind vielleicht auf die ersten Fragen immer gesagt, nein, ich weiß gar nicht, ist gar nichts passiert, und erst nachdem massive Befragungen erfolgt sind. Also es geht immer darum, zu gucken, wie diese Aussagegeschichte erfolgt ist und wie viel suggestive Einflüsse es gegeben hat, bevor es eine Aussage gegeben hat.
Timm: Ist das nicht auch ein Drahtseilakt?
Volbert: Ja, und deswegen muss man auch wirklich darauf achten, dass man nicht etwas hineininterpretiert, was gar nicht da ist, sondern immer das kritisch hinterfragen, was ist jetzt das eigene Konzept, was stülpt man den Kindern über.
Timm: Das habe ich verstanden, aber was machen Sie denn zum Beispiel? Da ist ein Kind, das hat eine Geschichte, Sie sollen sagen, ist die Geschichte glaubhaft. Was tun Sie dann?
Volbert: Zwei Sachen: Ich rede mit dem Kind, lass mir die Geschichte erzählen, und gucke mir aber vor allen Dingen die Aussagegeschichte an, das, was ich gerade betont hatte, mit Hilfe von Gesprächen mit Dritten, die mit dem Kind gesprochen haben. Ich habe ja auch die Akteninformationen zur Verfügung, alles, was ermittelt worden ist, und es geht in allererster Linie darum, zu schauen, wie sind die äußeren Einflüsse gewesen und wie ist die Entwicklung der Aussage des Kindes selbst im Verhältnis dazu. Und je mehr äußere Einflüsse sind, auch die Geschichte immer mehr aufblüht und dann auch viele unrealistische Elemente enthält oder Dinge dieser Art, dann kann ich hinterher in der Regel auch nicht sicher sagen, das ist Suggestion gewesen. Aber was wir sagen müssen dann, man kann das nicht ausschließen, dass das Suggestion gewesen ist, und dann gilt eben das: im Zweifel für den Angeklagten.
Timm: Danke an Renate Volbert, Gerichtspsychologin vom Institut für forensische Psychiatrie der Charité in Berlin, die uns über eine schwierige Arbeit berichtete. Und wenn Sie mögen, sprechen Sie auch heute mit einem Spezialisten über Erinnern und Vergessen, darüber, wie das Gedächtnis uns im Stich lässt manchmal, wie uns Erinnerungen täuschen und wie wir auch mit Erinnerungen leben, die das Gedächtnis womöglich ein bisschen zurechtgerückt hat, damit sie vielleicht besser in unser Leben passen. All das hier im "Radiofeuilleton" live gegen 15:45 Uhr.
Renate Volbert: Guten Tag!
Timm: Frau Volbert, fangen wir mal ganz einfach an. Stellen wir uns vor: Autounfall, Fahrerflucht, ein Zeuge sagt, das war ein rotes Auto, ein Opel, ganz sicher. Wie sicher ist das?
Volbert: Ja, ganz sicher ist in diesem Fall wirklich schwierig zu beantworten. Gerade solche Dinge, die Sie jetzt angesprochen haben – Farben, periphere Details, die nicht so ganz zentral eigentlich sind –, sind etwas, was häufig falsch erinnert wird. Wir müssen uns vorstellen, dass die Funktion des Gedächtnisses eigentlich ist, Erfahrungen auszuwerten und für zukünftige Geschehnisse nutzbar zu machen. Die Funktion ist nicht, sich jede Einzelheit zu merken. Aber gerade bei Gericht kommt’s gerade auf Einzelheiten drauf an und manchmal auch auf nebensächliche Einzelheiten. Und man kann sagen, das ist fehlerhaft, aber eigentlich funktioniert das Gedächtnis deswegen, weil wir uns nicht jede Einzelheit merken, sondern weil wir uns wichtige Dinge merken. Und wenn es aber beim Gericht gerade auf so Einzelheiten, auf periphere Details ankommt, kann es manchmal zu falschen Zeugenaussagen kommen. Da können wir eigentlich nur sagen, gedächtnispsychologisch wissen wir, wo häufig Fehler auftreten, und darauf können wir hinweisen. Und Fehler treten zum Beispiel bei Beschreibungen häufig auf, bei der Beschreibung von Kleidung, bei der Beschreibung von Farben, bei Größenbeschreibungen und solche Dinge. Interessanterweise können Menschen eine Interaktion beobachten und ganz richtig wiedergeben, was da passiert ist, was die zwei Menschen miteinander gemacht haben. Und wenn sie die beiden Menschen beschreiben sollen, eigentlich Dinge, die viel weniger Voraussetzungen sind, man sieht das ja, dann treten Fehler auf. Dann wird behauptet, jemand hat ne rote Jacke an, der in Wirklichkeit eine schwarze an hatte, dass der blonde Locken gehabt hätte oder eine Brille getragen hätte, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht gestimmt hat.
Timm: Woran liegt das, am Stress, den jemand im Moment hat oder schafft sich das Gedächtnis in der Erinnerung die Erinnerung selbst?
Volbert: Das liegt eben daran, dass wir uns einfach auf bestimmte Sachen konzentrieren müssen, um überhaupt ein effektives Gedächtnis zu haben. Wenn wir uns alles gleichwertig merken würden, dann wäre das so eine Flut von Informationen, die kein Mensch verarbeiten könnte. Es ist gerade das Tolle am Gedächtnis, dass es im Grunde filtern kann, dass es unwichtige Informationen beiseite lassen kann, aber für ein Gerichtsverfahren ist es vielleicht wichtig. Also wenn man Opfer eines Verkehrsunfalls ist, ist es egal, welche Farbe das Auto gehabt hat, ne? Aber um jemand zu verfolgen, ist es wichtig zu wissen, welche Farbe das Auto gehabt hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit der Rechtspsychologin Renate Volbert über den Wert von Zeugenaussagen vor Gericht. Nun ist die Farbe eines Autos ja eine relativ einfache Sache. Was ist denn, wenn Erinnerungen ganz extrem gefühlsbeladen sind und wenn die Zeugenaussage zugleich eine Opferaussage ist, wenn zum Beispiel die Aussage von einer vergewaltigten Frau stammt, die von einem Moment auf den anderen Todesangst, Demütigung, körperlichen Schmerz erlebt hat und nun Aussagen zum Täter machen soll? Wie genau können solche Aussagen sein?
Volbert: Da spielt natürlich das auch eine Rolle, was Sie eben schon angesprochen haben, die Belastung und der Stress in der Situation wirkt sich natürlich aus, und da gilt umso mehr, dass nicht alle Informationen gleich gut gespeichert werden und man hinterher eine perfekte Personenbeschreibung beispielsweise geben kann, obwohl man eigentlich denken würde, mein Gott, das müsste man sich ja ganz besonders gut merken jetzt in so einer belastenden Situation, aber dass eben man viele dieser Informationen doch nicht so wahrnimmt und hinterher auch gar keine guten Personenbeschreibungen geben kann. Da ist auch der Stress in der Situation natürlich sehr hoch, dass nicht jede einzelne Information behalten wird.
Timm: Da haben Sie eine Doppelaufgabe. Zum einen möchten Sie dem Opfer helfen, sich zu erinnern, zum anderen müssen Sie aus einer ganz gefühlsgeladenen Situation eine objektive Aussage bekommen. Ist das überhaupt möglich?
Volbert: Also wenn wir tätig sind als Gutachter, als psychologische Gutachter an Gerichten, haben wir eigentlich noch eine andere Funktion, also wir müssen eigentlich herausfinden, ob das, was jemand sagt, tatsächlich erlebnisbasiert ist oder nicht. Das heißt, wenn wir mit jemandem sprechen, wissen wir überhaupt gar nicht, ob es sich um ein Opfer handelt oder nicht, sondern das ist die Frage, die es zu beantworten gilt. Also das ist einerseits die Frage, könnte das gelogen sein, aber die zweite Frage ist auch, könnte das eine sogenannte Pseudoerinnerung sein, das heißt, könnte jemand einfach glauben, dass ihm so was passiert ist, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht passiert ist. Und da sind wir einem Bereich, wo eigentlich die komplexesten Fehlerscheinungen auftreten und die man eigentlich zunächst sich wahrscheinlich am schwierigsten vorstellen kann, dass es tatsächlich passieren kann, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen glauben, sie haben etwas erlebt, meinen, sich erinnern zu können an auch ein belastendes Ereignis, das in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat. Und in diesen Fällen werden wir als Gutachter hinzugezogen.
Timm: Wie können Sie denn so eine Situation aufdröseln, wie können Sie sich da ein Bild verschaffen?
Volbert: Da geht es ganz stark darum, die Aussagegeschichte sozusagen zu rekonstruieren, zu schauen, wann hat zum ersten Mal jemand diese Erinnerung oder vermeintliche Erinnerung geäußert, unter welchen Umständen ist die aufgekommen.
Timm: Geben Sie doch mal ein Beispiel.
Volbert: Ja, dass jemand sagt, er glaubt, er ist in seiner Kindheit sexuell missbraucht worden, hat das aber zwischenzeitlich nicht erinnert, hat aber immer irgendwelche Ängste bekommen, und dann hat er darüber nachgedacht, was passiert sein könnte, hat Träume ausgedeutet, Dinge dieser Art gemacht, und ist dann zu der Erkenntnis gekommen, er ist sexuell missbraucht worden und hat dann auch entsprechende Bilder entwickelt, in welchen Situationen das passiert ist. So was kann vorkommen, und diese Bilder, die im Kopf entstehen, können Bilder sein von Ereignissen, die nicht tatsächlich stattgefunden haben. Aber wenn man glaubt, etwas ist passiert, wenn man sich ganz intensiv auf die Suche nach solchen vermeintlichen Erinnerungen begibt und sich ganz stark damit beschäftigt, entstehen möglicherweise Bilder im Kopf, die dann ganz lebendig sind und ganz vertraut sind, weil man sich so viel damit beschäftigt. Und weil sie so lebendig und vertraut sind, hält man sie für Erinnerungen.
Timm: Das heißt, Sie müssen aber auch ständig abwägen, ausbalancieren, letztlich dann auch entscheiden, wie glaubwürdig ist jemand. Wie groß ist denn die Unsicherheit, dass Sie da zum richtigen Ergebnis kommen?
Volbert: Zwei Kommentare dazu: Also entscheiden tun wir …
Timm: Tut der Richter, aber Sie machen sich ein Bild und liefern die Vorlage.
Volbert: Genau. Natürlich gibt es Fälle, in denen Unsicherheiten bleiben, in denen das nicht sicher aufzuklären ist. Für ein Gerichtsverfahren ist es allerdings auch so, dass alle Beteiligten davon überzeugt sein müssen, dass etwas tatsächlich passiert ist, um jemanden zu verurteilen. Wenn Unsicherheiten bleiben, wird man entscheiden, dass dann jemand nicht verurteilt werden kann, was nichts …
Timm: Im Zweifel für den Angeklagten.
Volbert: Genau, im Zweifel für den Angeklagten, was nicht zwingend bedeutet, dass das jetzt eine falsche Aussage gewesen ist oder eine Pseudoerinnerung gewesen ist.
Timm: Wir haben jetzt gesprochen über Menschen, die sich ihre Erinnerungen unbewusst selbst geschaffen haben. Was ist denn aber, wenn Sie zum Beispiel ein Kind haben, das einziger Zeuge ist – Kinder haben blühende Fantasie, sind aber deswegen ja nicht unglaubwürdig –, wie können Sie denn da herausfinden, das hat das Kind gesehen und das hat man ihm vielleicht auch eingeredet? Das stelle ich mir unglaublich schwer vor.
Volbert: Auch da geht es wiederum um den Prozess der Aussagegeschichte – zu gucken, wann hat das Kind das erste Mal was gesagt, bestand vorher schon ein Verdacht, hat das Kind vielleicht auf die ersten Fragen immer gesagt, nein, ich weiß gar nicht, ist gar nichts passiert, und erst nachdem massive Befragungen erfolgt sind. Also es geht immer darum, zu gucken, wie diese Aussagegeschichte erfolgt ist und wie viel suggestive Einflüsse es gegeben hat, bevor es eine Aussage gegeben hat.
Timm: Ist das nicht auch ein Drahtseilakt?
Volbert: Ja, und deswegen muss man auch wirklich darauf achten, dass man nicht etwas hineininterpretiert, was gar nicht da ist, sondern immer das kritisch hinterfragen, was ist jetzt das eigene Konzept, was stülpt man den Kindern über.
Timm: Das habe ich verstanden, aber was machen Sie denn zum Beispiel? Da ist ein Kind, das hat eine Geschichte, Sie sollen sagen, ist die Geschichte glaubhaft. Was tun Sie dann?
Volbert: Zwei Sachen: Ich rede mit dem Kind, lass mir die Geschichte erzählen, und gucke mir aber vor allen Dingen die Aussagegeschichte an, das, was ich gerade betont hatte, mit Hilfe von Gesprächen mit Dritten, die mit dem Kind gesprochen haben. Ich habe ja auch die Akteninformationen zur Verfügung, alles, was ermittelt worden ist, und es geht in allererster Linie darum, zu schauen, wie sind die äußeren Einflüsse gewesen und wie ist die Entwicklung der Aussage des Kindes selbst im Verhältnis dazu. Und je mehr äußere Einflüsse sind, auch die Geschichte immer mehr aufblüht und dann auch viele unrealistische Elemente enthält oder Dinge dieser Art, dann kann ich hinterher in der Regel auch nicht sicher sagen, das ist Suggestion gewesen. Aber was wir sagen müssen dann, man kann das nicht ausschließen, dass das Suggestion gewesen ist, und dann gilt eben das: im Zweifel für den Angeklagten.
Timm: Danke an Renate Volbert, Gerichtspsychologin vom Institut für forensische Psychiatrie der Charité in Berlin, die uns über eine schwierige Arbeit berichtete. Und wenn Sie mögen, sprechen Sie auch heute mit einem Spezialisten über Erinnern und Vergessen, darüber, wie das Gedächtnis uns im Stich lässt manchmal, wie uns Erinnerungen täuschen und wie wir auch mit Erinnerungen leben, die das Gedächtnis womöglich ein bisschen zurechtgerückt hat, damit sie vielleicht besser in unser Leben passen. All das hier im "Radiofeuilleton" live gegen 15:45 Uhr.