"Da verabschieden sich Gruppen der Bevölkerung aus der Demokratie"
Prekär Beschäftigte und insbesondere Wohnungslose gehen in Deutschland im Durchschnitt deutlich seltener wählen. Ulrich Lilie hält nicht nur das Wahlverfahren für Menschen ohne Wohnsitz für zu kompliziert. Es sei alarmierend, dass sich immer mehr Menschen aus der Demokratie verabschieden, so der Präsident der Diakonie Deutschland.
Dieter Kassel: Es gibt Zahlen, die ziemlich deutlich zeigen, dass Menschen in Deutschland, die zum Beispiel arbeitslos sind oder bei geringem Lohn beschäftigt, im Durchschnitt deutlich seltener zu Wahlen gehen als Menschen, die ein durchschnittliches oder sogar gutes Einkommen haben. Dabei darf eigentlich wirklich jeder wählen, zum Beispiel auch Obdachlose. Es ist tatsächlich nicht so, wie ich bis vor Kurzem geglaubt habe, dass ein fester Wohnsitz unabdingbar ist für die Teilnahme an einer Wahl. Das gilt auch für die kommende Bundestagswahl, wobei da übrigens sehr bald die Frist für eine entsprechende Anmeldung ausläuft.
Wir wollen Details besprechen darüber, wie auch Wohnungslose wählen können und warum sie, wie auch viele andere, so selten von ihrem Recht Gebrauch machen. Und wir wollen darüber jetzt sprechen mit Ulrich Lilie. Er ist der Präsident der Diakonie Deutschland, und er ist aus beruflichen Gründen im Moment gerade in Kalifornien, weshalb wir um diese für deutsche Verhältnisse etwas sehr frühe Zeit live mit ihm sprechen können. Schönen guten Morgen, beziehungsweise bei Ihnen schönen guten Abend, Herr Lilie!
Ulrich Lilie: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Mich hat das mit den Wohnungslosen ein bisschen überrascht. Wie können die denn, so sie das wollen, tatsächlich an einer Bundestagswahl teilnehmen jetzt?
Lilie: Das ist für Wohnungslose erstmal genauso wie für jede Bundesbürgerin oder jeden anderen Bundesbürger auch. Man muss in einem Wählerverzeichnis eingetragen sein. Das ist natürlich für Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, die nicht gemeldet sind, per se eine ganz schwierige Geschichte, und darum gibt es eine Regelung, die eben den Organisationen, zum Beispiel der Diakonie, die solche Leute vor Ort unterstützen, ermöglicht, Sammelanträge für Menschen ohne festen Wohnsitz zu stellen, und dann werden die in einem Sammelantrag in das jeweilige Wählerverzeichnis eingetragen, wo diese Organisation arbeitet, und dann können diese Leute ihr Wahlrecht auch wahrnehmen.
Kassel: Das kann man, glaube ich, was diese Bundestagswahl angeht, nur noch ein paar Tage, bis Ende der Woche?
Lilie: Das kann man nur noch ein paar Tage. Das ist auch ein relativ kompliziertes Verfahren, immerhin ein Versuch, politische Teilhabe zu ermöglichen. Das ist eben trotzdem sehr schwierig, weil es natürlich gerade auch bei diesen Menschen um Menschen geht, die grundsätzlich mit Behördengängen und formellen Geschichten manchmal keine guten Erfahrungen haben oder eine gewisse Reserve haben. Darum ist dieses Verfahren, das stellt sich in der Praxis eben heraus, gut gemeint, aber immer noch zu kompliziert.
Kassel: Das heißt, es sind vermutlich auch nicht allzu viele Wohnungslose, die davon in der Regel tatsächlich Gebrauch machen, oder?
Lilie: Das sind keine großen Zahlen. Immerhin wird es Ihnen ermöglicht, das finde ich ja schon mal einen Schritt in die richtige Richtung, wir müssten noch mal überlegen, wie wir es vielleicht noch mehr entbürokratisieren können, dieses Verfahren. Das müssten man dann auswerten und dann wirklich mit den politisch Verantwortlichen noch mal besprechen.
Kassel: Haben die das eigentlich auf dem Schirm? Ich spitze es mal ein bisschen zu: Ich hatte bisher noch nie das Gefühl, ein Wahlplakat oder etwas anderes zu sehen, das sich wenigstens teilweise auch an Wohnungslose richtet.
"Die sagen einfach, ich komme sowieso nicht vor"
Lilie: Ja, das ist ein Teil unseres Problems. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen ohne festen Wohnsitz, sondern überhaupt für Leute, die sich aus Gründen sozialer Situation einfach nicht zum Mainstream gehörig fühlen, dass die sich eben, das wissen wir aus vielen Statistiken, an politischen Prozessen überhaupt gar nicht mehr beteiligen. Das heißt, die sagen einfach, ich komme sowieso nicht vor, warum soll ich denn dann wählen gehen. Das ist natürlich auch der gravierendere Teil des Problems.
Kassel: Da sind wir ja eigentlich schon bei dem Punkt, dass man bei Obdachlosen immer auch sagen kann, es liegt auch an der komplizierten Prozedur. Das kann man natürlich bei Menschen, die zum Beispiel arbeitslos sind oder in einem Beschäftigungsverhältnis, in dem sie sehr wenig Geld verdienen. Da kann man das nicht sagen. Eine Wahlbenachrichtigung kriegen die in der Regel ja schon. Und doch zeigt zum Beispiel der aktuelle Armutsbericht – er ist ja noch relativ neu – der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass halt tatsächlich die Bereitschaft, zu wählen, offenbar in einem relativ direkten Zusammenhang mit dem sozialen Status und dem Einkommen steht.
Lilie: Es gibt auch eine interessante Untersuchung, gerade zu den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, die gezeigt hat, dass in den Bezirken, wo die Menschen relativ wohlhabend sind, die Wahlbeteiligung entsprechend hoch ist. In den Bezirken, wo wir wissen, dass es da relativ arm zugeht und dass da viele Menschen mit sehr niedrigen Einkommen leben, die Wahlbeteiligung eben sehr runtergegangen ist. Auch das sind eben alarmierende Geschichten. Da verabschieden sich eben wichtige Gruppen der Bevölkerung aus den demokratischen Prozessen, und das ist eine Geschichte, die, glaube ich, für jeden Menschen, der an einer lebendigen Demokratie interessiert ist, ein Alarmzeichen sein muss.
Ermunterung, sich selbst und ihre Interessen zu vertreten
Kassel: Aber nun könnte man natürlich auch die Frage stellen, welcher Zusammenhang besteht hier tatsächlich? Das Problem mit Zahlen, auch wenn sie korrekt sind, ist ja immer die Interpretation. Könnte es nicht auch sein, dass Menschen, die Probleme haben, ihr eigenes Leben zu organisieren, die, sagen wir es positiv, wirklich andere Sachen im Kopf haben, als lange Wahlsendungen im Fernsehen zu gucken, man könnte es auch ein bisschen bösartiger sagen, die einfach im Leben nicht besonders gut zurechtkommen, dass die sagen, ich habe einfach kein Interesse an Politik, mir ist das zu kompliziert.
Lilie: Das ist sicherlich bei bestimmten Teilen dieser Gruppe so. Sicherlich bei einem Teil von den Menschen, die wohnungslos sind, da wissen wir, da gibt es auch einen Anteil von Menschen, die zum Beispiel mit psychischen Erkrankungen zu tun haben, mit Suchterkrankungen zu tun haben, die sind in der Tat mit sich sehr beschäftigt. Da ist es, glaube ich, wichtig, so wie wir das bei anderen Gruppen auch machen, dass wir sie ermuntern, trotzdem auch an Wahlen und an politischen Fragen teilzuhaben und sich selbst und ihre Interessen zu vertreten. Das tun wir. Wir wissen aber wirklich aus diesen Statistiken und den Auswertungen aus begleitenden Interviews, dass das viele Leute sind, die sagen, okay, ihr interessiert euch sowieso nicht für uns, ihr nehmt unsere Interessen nicht wahr, also verabschieden wir uns dann auch aus dieser Demokratie und werden immer unpolitischer. Und das ist eine Entwicklung, die mir wirklich große Sorgen macht.
Kassel: Könnte man nicht auch davon ausgehen, da ja auch diese Gruppe, über die wir reden, von den Wohnungslosen bis zu den prekär Beschäftigten, immer größer wird, dass sich das Problem insofern lösen lassen müsste, dass die Politik ja sagen muss, das sind so viele, das könnten ja für uns genau die Prozente sein, die wir brauchen, um zu gewinnen.
"Wir müssen wieder in die Sozialräume gehen"
Lilie: Das ist so. Das tun ja auch schon einige Parteien. Nicht die, die wir uns in die Parlamente wünschen, das heißt, das sind eben die Radikalisierer, die, sage ich mal, auch die bösen Vereinfacher. Ich glaube, dass gerade die Vertreter der demokratischen Parteien, auch der großen Parteien, wieder so etwas machen müssen wie, dass sie sagen, wir gehen in diese Bezirke rein – ich weiß, das tun ja in Berlin – jetzt mal von einer Politikerin, ich will jetzt ja hier keinen Wahlkampf machen, aber das hat mich sehr beeindruckt, Petra Pau aus Marzahn, die gesagt hat, wir sind wirklich in diesen Stadtteil reingegangen und bemühen uns, diese Menschen für die Politik wiederzugewinnen. Und das, glaube ich, müssen wir in ganz vielen Kiezen und Stadtteilen und Bereichen in Deutschland machen. Das heißt, wir müssen wieder in die Sozialräume gehen. Das heißt, die politischen Parteien, auch die, die wollen, dass da wieder politische Beteiligung passiert, wie zum Beispiel die Wohlfahrtsverbände. Und ich glaube, wir müssen uns aktiv um diese Menschen bemühen, und sie müssen das Gefühl haben, dazuzugehören und auch angehört zu werden. Dann werden sie, glaube ich, auch wieder bereit, sich politisch zu beteiligen.
Kassel: Ulrich Lilie, der Präsident der Diakonie Deutschland, der gerade in Kalifornien ist, weshalb wir live mit ihm darüber reden konnten, dass und wie zum Beispiel auch Wohnungslose wählen können, aber auch, warum die, so wie viele geringfügig Beschäftigte und Arbeitslose, von diesem Recht immer seltener Gebrauch machen. Herr Lilie, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Lilie: Ich danke Ihnen auch, und einen schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.