Wer hat Weihnachten geklaut?
09:40 Minuten
Weihnachten ist nur geklaut? Ein germanisches Wintersonnenwendfest, das Christen übernommen haben? Wissenschaftlich belegt ist diese Geschichte nicht. Trotzdem hat das sogenannte Julfest für neuheidnische Gruppen eine große Attraktion.
Im vierten Band der "Harry Potter"-Serie über die Erziehung eines jugendlichen Zauberers fällt der alljährliche Weihnachtsbesuch der Internatsschüler bei den Eltern aus. Stattdessen feiert die Zauberschule einen Ball mit Tanz und Roben und viel Aufregung um die Frage, wer mit wem hingeht.
Der Name des Festes? Nicht etwa Weihnachtsball, sondern: Jul-Ball – jedenfalls im englischen Original. Die deutsche Übersetzung setzt die Bezeichnung "Yule" gleich mit Weihnachten. Aber das sieht nicht jeder so.
"Jul selber wird, zumindest in unserem Herd, vor allem um die Zeit der längsten Nacht, also um die Wintersonnenwende gefeiert, weil das eben die längste und die dunkelste Nacht ist", sagt Uwe Ehrenhöfer.
Gemeinsam feiern im Jahreskreis
Ehrenhöfer ist Vorsitzender des Vereins Eldaring, in dem sich Menschen versammeln, die ein an germanischen und nordischen Vorbildern orientiertes Neuheidentum leben. Kern des religiösen Lebens ist der sogenannte Herd, eine lokale Gruppe, und solche Herde sind überall in Deutschland verteilt. Der Herd von Ehrenhöfer hat ein Einzugsgebiet von ungefähr 160 km Durchmesser – im Allgäu leben nicht so viele Neuheiden.
"Deswegen versuchen wir natürlich, wenigstens die Jahreskreisfeste gemeinsam zu feiern. Unter normalen Umständen, also nicht wie jetzt unter Corona-Bedingungen, würden wir uns treffen", sagt Ehrenhöfer. Erst zum gemeinsamen Essen im Gasthaus, dann irgendwo draußen, ums Feuer herum.
"Wir laden das Göttliche in unseren Kreis mit ein", erklärt der Vorsitzende. "Wir nutzen das als eine Art Dankesfest: Wir sagen Danke für das, was passiert ist. Wir nutzen das natürlich auch, um unsere Wünsche zu äußern." Gerade beim Julfest werde außerdem des vergangenen Jahres gedacht.
Speise- und Trankopfer rund ums Feuer
Das Ritual rund ums Feuer heißt Blot – abgeleitet von einem altnordischen Wort für Opfern. Das öffnet einen weiten Raum für Assoziationen. Wer oder was wird da geopfert? Aber das Opfern bei Neuheiden im Allgäu sei harmlos, sagt Uwe Ehrenhöfer:
"Es gibt dann für jeden die Möglichkeit, sein eigenes Opfer darzubringen, zum Beispiel indem man Brot, Getränke oder Tabakwaren dem Feuer übergibt oder der Erde übergibt. Oft kombinieren wir das Ganze noch mit einem sogenannten Sumbel, das ist eine Art Trankopfer. Da wird unter normalen Umständen ein Trinkgefäß herumgereicht in drei Runden: In der ersten Runde wird traditionell den Göttern gedacht, in der zweiten Runde den Ahnen, und die letzte Runde ist frei, wo jeder noch so seine eigenen Wünsche, sein eigenes Dankeschön sagen kann."
Statt besinnlichem "Stille Nacht" unterm Weihnachtsbaum also Gruppenritual mit Opfergaben rund ums Feuer. Das klingt irgendwie ursprünglicher als das christliche Fest, oder?
"Eine Studentin von mir hat eine lange Dissertation von fast 400 Seiten über das Julfest geschrieben und alles zusammengetragen, was man darüber so weiß, und das ist tatsächlich herzlich wenig", so das ernüchternde Fazit von Rudolf Simek, der an der Universität Bonn über ältere deutsche und skandinavische Literatur forscht.
Kein Konflikt zwischen Weihnachten und Julfest
Simek räumt auch mit einer anderen Fehlannahme auf: dass es einen Machtkampf zwischen Weihnachten und Jul gegeben habe.
"Die Frage, ob das Christentum das ältere Julfest 'geklaut' hat, stellt sich gar nicht, weil das Julfest in einer vorchristlichen Tradition überhaupt nicht zu belegen ist in irgendeiner Weise."
Nun ist die Tradition eines Festes im Winter, Jul genannt, natürlich nicht völlig an den Haaren herbeigezogen. In der literarischen Tradition vor allem aus Island finden sich immer wieder Bezüge darauf. Allerdings, sagt Simek:
"Dass man zu Jul die Götter in irgendeiner Weise verehrt hätte, dafür gibt es nur extrem dünne Belege, überhaupt von Opferfeiern, wo man auf die Götter angestoßen hätte, und die wenigsten davon sind ausgerechnet zu Jul zu verorten. Da treffen sich die Nachbarn, da trifft man sich mit den Freunden, das ist es aber."
Isländische Sagas von der nordischen Weihnacht
Also im Prinzip so, wie in skandinavischen Ländern heute noch Weihnachten gefeiert wird. Was dort ja auch ganz selbstverständlich "Jul" heißt – aber eben das christliche Weihnachten meint, kein Fest der Vorväter und -mütter aus uralten Zeiten, wie Simek erläutert:
"Wir haben viele Sagatexte, die mögen nicht historisch sein, aber die schildern uns natürlich in farbenprächtiger Form solche Feste. Die sie als Julfest bezeichnen, die aber eindeutig einen christlichen Zustand beschreiben, weil dann die Leute nach dem Besäufnis auch noch in die Kirche gehen, in die Christmette."
Kein Wunder eigentlich, denn diese Sagas entstanden im Hochmittelalter nach dem Jahr 1000 in Island. Schon damals blickten die christlichen Schreiber zurück auf eine für sie ferne Vergangenheit und malten sich die von Göttern regierte Welt ihrer Vorfahren aus. Das hat bis heute wenig von seiner Anziehungskraft verloren.
Eine Fantasie aus der jüngeren Vergangenheit
"Es ist erstaunlich, einerseits, wie lebendig diese populären Vorstellungen von einem Heidentum sind, keltisches oder germanisches auch, Odin, Thor, Freya, Julfest, Sonnenwenden, alles Mögliche, was es gegeben haben soll, und wie schnell sich das bei näherem Hinsehen tatsächlich in Luft auflöst", sagt auch Stefanie von Schnurbein, Skandinavistin an der Berliner Humboldt-Universität.
"Zu denken, dass es da irgendetwas Altgermanisches gibt, was dann zu Weihnachten geworden ist, das ist 19. Jahrhundert."
Zu Beginn ihres Studiums in den 1980er-Jahren geriet von Schnurbein eher zufällig in eine Gruppe, die germanische Riten praktizierte – und diese auf rassistische Weise deutete. Kein Zufall, stellte sie fest, als sie näher hinschaute: Denn die verstreuten und wenigen Spuren, die es aus dem vorchristlichen Nordeuropa gibt – und speziell aus dem, was später der deutsche Sprachraum wurde –, sie wurden gezielt ab dem 19. Jahrhundert gesammelt. Am Anfang stand die Rückbesinnung auf Märchen, Mythen und Sagen, nicht nur bei den Gebrüdern Grimm.
"Christentum wird als weltumspannende Religion gesehen, und durchaus nicht im positiven Sinne", erklärt von Schnurbein. "Das sind die frühen Nationalbewegungen, die auf der Suche nach einer eigenen nationalen Mythologie sind, Religion ist das im 19. Jahrhundert eigentlich noch nicht, aber nach einer Mythologie und einem Erzählungsschatz, der das Eigene abbildet."
Eine Fiktion der Nationalsozialisten
Die völkische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und später bestimmte Strömungen des Nationalsozialismus zementieren eine unheilvolle Verbindung: einerseits die Abkehr vom Christlichen als nicht ursprünglich deutsch, andererseits die Fiktion einer Religion der germanischen Ahnen, die bei näherem Hinsehen aus Überlieferungsfetzen aus ganz Nordeuropa und aus ganz unterschiedlichen Jahrhunderten zusammengebaut ist.
Das Julfest soll einer der Hebel werden, mit denen die Nationalsozialisten diese Ideologie aus Spezialistenkreisen herausbringen wollen. Weihnachtslieder wie "Es ist für uns eine Zeit angekommen" bekommen neue Texte, die eine kalte, klare Natur preisen. Dazu kommen Feuerrituale und neu entwickeltes Brauchtum rund um die Wintersonnenwende.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht auch diese Tradition unter. Einzelne neuheidnische Gruppen aber bleiben bestehen, und viele von ihnen verknüpfen weiterhin Germanentum und Bezug aufs Eigene, aufs Heimatliche mit rechtem Gedankengut. Seit den 1990er-Jahren entstehen aber auch in Deutschland neuheidnische Gruppen, die ganz bewusst ihre Religion von Rassismus und Antisemitismus trennen wollen. Der Eldaring ist eine davon.
Neuheide ja, germanisch nein
"Es gab diverse Personen, die gesagt haben: Wir wollen nicht völkisch sein, wir wollen nicht diesen Bezug auf Blut und Boden oder auf Rasse oder sowas haben, wir sehen das eigentlich als eine Religion, die allen offen sein sollte und frei sein sollte, die sich dafür interessieren als solches", sagt Uwe Ehrenhöfer vom Verein Eldaring.
Für diesen Neuansatz hat sich der aus dem Isländischen stammende Oberbegriff Asatru etabliert, er bezeichnet die enge Verbindung von Gläubigen mit dem Göttergeschlecht der Asen. Ehrenhöfer nennt sich lieber Neuheide, nicht so gerne dagegen germanisch. Der Begriff ist belastet, sagt er. An den Traditionen aber möchte er festhalten – auch wenn er natürlich wisse, wie dünn die Quellenlage sei:
"Es sind Mythen, es sind Sagen unserer Vorfahren, es sind Mythen und Sagen unserer Vorväter, man ist doch immer ein bisschen Kind dessen, wo man aufwächst, das hat meines Erachtens aber eher etwas mit einer räumlichen Prägung zu tun."
"Ich versuche es mir immer so zu erklären", sagt Stefanie von Schnurbein: "Es ist einerseits eine Sehnsucht nach etwas Anderem, etwas Exotischem, was aber gleichzeitig gebunden bleiben soll ans Eigene."
Und natürlich auch: die Suche nach neuen Traditionen, die plausibler sind, als es das Christliche vielen Menschen noch ist. Deswegen auch der anhaltende Boom der Fantasy – auch J.R.R. Tolkien griff im "Herrn der Ringe" ja auf nordische Mythologie zurück – nicht nur zur Weihnachtszeit.