"Deutschsprachige Literatur wird global wahrgenommen"
Rockstars und Jeansdesigner nutzen Rilke-Verse als Kontext. Und es gibt viele weitere Bespiele für den weltweiten Einfluss deutscher Literatur. Die Germanistin Sandra Richter hat ein Buch über deren Weltgeschichte veröffentlicht – "eine Geschichte des kulturellen Austauschs".
Lady Gaga hat sich Rilke-Verse auf den Arm tätowieren lassen. Und in den 70er Jahren war Hermann Hesse in den USA – zumindest bei den Hippies - ganz hoch im Kurs. Siehe die Band "Steppenwolf". Ist deutsche Literatur also fester Bestandteil der Weltliteratur und hat, angefangen mit Goethes "Werther", lange schon weltgeschichtliche Dimension angenommen?
Die Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter, designierte Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat ein Buch über dieses Thema geschrieben: "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" und sagt:
"Man kann die Geschichte deutschsprachiger Literatur mit großem Gewinn erzählen als eine Geschichte des Austauschs zwischen den Kulturen, als eine Geschichte, die zum Teil erst an den Landesgrenzen von Deutschland, Österreich und der Schweiz beginnt, denn deutschsprachige Literatur wird in der Tat global wahrgenommen."
Das Interview im Wortlaut:
Joachim Scholl: Und wir schauen jetzt mal auf den schönen, schlanken Oberarm von Lady Gaga. Und unseren Blick darauf hat die Stuttgarter Germanistin Sandra Richter gelenkt, die nämlich eben dort, auf dem Arm des Superstars, ein hochliterarisches Tattoo erspäht und für eine voluminöse Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur fruchtbar gemacht hat. Willkommen im Deutschlandfunk Kultur, Frau Richter!
Sandra Richter: Danke, guten Tag!
Scholl: Was hat sich denn Lady Gaga da in die Haut stechen lassen?
Richter: Lady Gaga hat ein sehr berühmtes Zitat aus Rilkes nicht minder berühmten "Briefen an einen jungen Dichter" herausgepickt, und dieses Zitat aus den Briefen, die eigentlich in Prosa gehalten ist, das ist eine Art Bekenntnisschrift für Autoren, die welche werden wollen. Und da hat sie also ein Zitat genommen, das eigentlich ein ganz normaler Satz ist, und hat es in Verse formuliert. Es heißt sinngemäß: Wenn du dich berufen fühlst, dann musst du dichten. Und dieses kommt nun auf Deutsch auf ihrem Oberarm daher, hübsch verschnörkelt, ganz komplizierte Buchstaben sind das, und es soll offenbar den Sinn des Rilke-Zitats noch mal betonen und hervorheben diese besondere Berufung zum Künstler.
Scholl: Und Sie leiten in Ihrem Buch jetzt her, wie dieses Tattoo überhaupt auf diesen Arm, diesen berühmten Arm kommt. Und Sie sagen, dieses Zitat gehört zu einem weltumspannenden Rilke-Code, den man allerorten in der Welt spricht, in der Werbung, auf Designerjeans, also jenseits der Literatur. Und das ist für Sie eines von vielen Zeichen dafür, wie die deutschsprachige Literatur weltgeschichtliche Dimensionen angenommen hat. Was ist das für eine Idee, wie sind Sie drauf gekommen, Frau Richter?
Die Geschichte mit großem Gewinn erzählen
Richter: Die Idee zu dem Buch ist eigentlich uralt. Ich hab mich viel mit französischer Literatur beschäftigt, als ich noch in die Schule ging, und mich immer gefragt, was Voltaire in Sanssoucis treibt und ob die Hugenotten tatsächlich nur Handwerker waren. Und siehe da, das war eigentlich ganz anders. Und man kann die Geschichte deutschsprachiger Literatur mit großem Gewinn erzählen als eine Geschichte des Austauschs zwischen den Kulturen, als eine Geschichte, die zum Teil erst an den Landesgrenzen von Deutschland, Österreich und der Schweiz beginnt, denn deutschsprachige Literatur wird in der Tat global wahrgenommen.
Scholl: Sie vermeiden aber mit Absicht den Begriff Weltliteratur. Den Begriff hat ja Goethe geprägt. Was würden Sie denn sagen, ab wann ließe sich denn von so einer Literatur, von so einer weltumspannenden Literatur sprechen?
Richter: Der Begriff ist sogar ein bisschen älter als bei Goethe, er kommt so aus den 70er-Jahren, als alle Welt von Weltbegriffen sprach, Weltmarkt, Weltliteratur – man wollte hoch hinaus. Und dieses Hoch-hinaus-Wollen haftet dem Begriff, glaube ich, durchaus negativ an. Einerseits weckt er natürlich Aufmerksamkeit: Weltliteratur, das muss was Besonderes sein. Aber andererseits, wenn man sagt "Weltliteratur", dann meint man immer, man wüsste, was zu einem großen Kanon gehört, der weltweit gelesen wird, und das ist doch ein sehr schwieriges Konstrukt. Und so eine Geschichte der deutschsprachigen Weltliteratur wollte ich nicht schreiben.
Scholl: Wie hat sich denn dieses Verständnis von Weltliteratur verwandelt? Gerade durch die Globalisierung haben sich ja doch die Parameter auch verschoben, oder?
Richter: Sehr stark. Im Grunde ist alles, was dann nach der Weimarer Zeit entstand, ein Immer-wieder-Aneignen, Umdeuten des Begriffs. Es gibt ihn unter den Nazis, es gibt ihn nach 1945 als großen Versöhnungsbegriff, und es gibt ihn in der Gegenwart als eine Hoffnung auf eine künftige Weltliteratur, in der sich die Völker vielleicht tatsächlich allesamt finden, aber die zugleich den Unterschieden und den kulturellen Eigenheiten Rechnung trägt. Das ist natürlich eine große Hoffnung, die man wissenschaftlich so kaum nachzeichnen kann, sondern wo man nur sagen kann, es wäre schön, wenn es so wäre. Aber wissenschaftlich schaut man dann eher, wie kommt denn die Literatur in die Welt.
Von Hermann Hesse zu "Easy Rider"
Scholl: Wie Literatur durch die Weltkultur diffundiert, das ist historisch wunderbar an Goethes "Werther" zu zeigen, also die weltumspannende Werther-Manie bis nach China. In neuerer Zeit lässt sich genau dasselbe Phänomen an einem Autor wie Hermann Hesse illustrieren, und das machen Sie, Frau Richter, in Ihrem Buch. Und in diesem Kapitel haben Sie anscheinend extra Spaß gehabt, die genaue Typenbezeichnung des Motorrads zu recherchieren, das Peter Fonda und Dennis Hopper im Film "Easy Rider" fahren, und im Hintergrund läuft "Born to be wild" von Steppenwolf, die Band, die sich nach Hermann Hesse benannt hat. Sind Sie selbst eine Bikerin, Frau Richter?
Richter: Nein. Aber natürlich sind solche Details unglaublich spannend, und solche Weltgeschichte deutschsprachiger Literatur ergibt erst Sinn, wenn man bis in diese Details geht und sich fragt, welches Modell von Harley Davidson kann das sein, wie ist das umgebaut und manipuliert, und wie ist daraus dieses Spezialmotorrad geworden, dieser Chopper, auf dem also Peter Fonda sitzt. Das erst macht doch den großen Reiz aus, sich zu fragen, was ist so das Spezielle an solchen Aneignungen und eigenen Bildwelten, die mit der Literatur sich verbinden.
Scholl: Der Witz ist der literarische Soundtrack dabei, für Sie natürlich auch, und dieser Hesse-Impuls, dieser mächtige in der Hippie-Zeit in den 60er-, 70er-Jahren in den USA, "Steppenwolf", "Siddharta", "Demian". Hat eigentlich dann auch noch in der ganzen Welt gezündet. Warum eigentlich?
Richter: Ja, das ist schon dubios. Da wird eine Midlife-Crisis zu einem wesentlichen Text des Jugendkultes. Offenbar war es tatsächlich diese Figur des Bürgers und Künstlers zugleich, der sich so gespalten fühlt, der Drogen nimmt, der sexuell experimentiert, der dann die Jugend der 60er-Jahre unglaublich angeregt haben muss und zunächst in den USA zur Kultfigur wird, über die USA hinausgeht nach Taiwan, in die Orte, in denen man mit den USA viel verbindet – eben jene Freiheit, von der man heute gar nicht mehr so sehr spricht und die man für fast gegeben nimmt.
Scholl: Wobei ja auch bei Hermann Hesses "Steppenwolf" interessant ist, dass der alte Harry Haller am Ende eigentlich wieder sehr konservativ wird, zu Goethe und zu Mozart überläuft, also weg vom Rausch. Das haben die amerikanischen Hippies nicht gelesen. Mit diesen Namen, mit diesen großen Namen sind wir aber bei einer neuen Wirkungsstätte, die Sie in knapp einem Jahr antreten, Frau Richter, und darüber sollten wir uns noch ein bisschen unterhalten. Ab 1. Januar 2019 werden Sie nämlich die neue erste Kraft im Literaturarchiv Marbach, lösen dann den verdienten Ulrich Raulff ab. Was reizt Sie denn an dieser Aufgabe?
Marbach - ein Ort mit großartigen Möglichkeiten
Richter: Marbach ist natürlich eine Art Pilgerort für die Literatur, eine Kultstätte, und eine solche, an der man unglaublich viel tun kann. Es gibt zum einen natürlich das Archiv, in dem die Schätze liegen, nicht nur Literatur, sondern auch so prekäre Dinge wie der Nachlass Heidegger oder der Nachlass von Carl Schmidt. Und dann gibt es den Ausstellungsort Marbach, die Bibliothek. Dieses multifunktionale Zusammen ist ein großartiger Ort, an dem man viele Ideen ausprobieren kann, an dem man versuchen kann, so etwas wie – Diskursrelevanz klingt schwierig, aber doch so etwas wie ein Gesprächszentrum zu begründen, ein intellektuelles, das Forschung zusammenbringt mit der Kultur. Und ich glaube, das reizt mich ganz besonders, die unterschiedlichen Sphären, denen ich so begegnet bin in meinem Leben, dort zusammenzudenken.
Scholl: Die "Stuttgarter Nachrichten" haben Sie schon sehr gepriesen als "die diesem Ort gebührende Lichtgestalt" und damit auch ja die erste Frau wohl gemeint, die diese alte Männerbastion geschleift hat und bis an die Spitze gestürmt ist. Wird denn die Schiller-Höhe vielleicht weiblicher? Haben Sie da was vor?
Richter: Es gibt zwischen Uli Raulff immer so ein Standardgespräch, denn ich habe zwei Kinder, und irgendwann begann in Marbach der Umstand, dass auch alle Mitarbeiter Kinder bekamen. Es hat schon, glaube ich, so etwas wie Auswirkungen, wenn die Spitze einmal weiblich ist. Und der Uli Raulff guckt mich dann immer wieder an und sagt, na, jetzt ist schon wieder eine schwanger. Ich hab mich da nicht schuldig gefühlt, sondern fand das ganz gut. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Ich glaube, alles andere hat eher auch mit einem Generationenwechsel zu tun. An den Universitäten arbeiten wir sehr teamförmig mittlerweile, kümmern uns um gemeinsame Projekte. Und dieser Teamgeist, der weht zum Teil in Marbach schon. Aber er wird sich möglicherweise noch verstärken.
Scholl: Sie haben jetzt Marbach auch schon als den Gedächtnisort der deutschen Literatur charakterisiert mit den ganzen Nachlässen, den Vorlässen einer ganzen Legion bedeutender Autoren. Alles noch auf gutem altem Papier. Aber die Zeiten solcher Archivierung, die gehen ja unwiderruflich zu Ende, auch die Literatur wird ja digital. Wie blicken Sie denn auf diese Herausforderung, Frau Richter, die alle Bibliothekare derart momentan umtreibt. Wie geht man damit um?
Richter: Wir haben an der Universität Stuttgart schon seit einigen Jahren eine gemeinsame Bastelgruppe – Informatiker, Computerlinguisten, Digital Humanists und Literaturwissenschaftler – und arbeiten in einem gewissen Schwerpunkt in diesem Bereich. Digitale Nachlässe, Arbeiten mit digitalen Texten, das gehört zu dem, was wir schon alltäglich treiben. Und was da natürlich noch mal eine ganz andere Flughöhe bekommen wird, wenn es tatsächlich darum geht, diese unglaublichen Mengen, die da kommen werden der digitalen Nachlässe, zu bearbeiten. Es wird eine großartige Herausforderung, auf die ich mich sehr freue.
Scholl: Gut. Es ist wie gesagt noch eine Zeit hin. Was haben Sie 2018 vor?
Richter: Im Jahr 2018 genieße ich die akademische Freiheit. Ich habe auch noch ein sogenanntes Freisemester, kann nachdenken, überlegen, Gespräche führen und all das vorbereiten, was ab 2019 kommt. Und ein gewisser Schwerpunkt, das kann man vielleicht schon mal ankündigen, könnte der literarische Kolonialismus sein. Das, was zwischen 1850 und 1950 passierte und was in der Tat noch sehr wenig erforscht ist. Wie deutsche Autoren nach Afrika gingen in die Kolonien und darüber schrieben. "Mehr sag ich nicht", um Goethe zu zitieren.
Scholl: Dann toi, toi, toi, alles Gute für Sie, die neue Aufgabe auch, Sandra Richter, und Danke für dieses Gespräch!
Richter: Herzlichen Dank Ihnen!
Scholl: Und "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" ist im Bertelsmann-Verlag erschienen, mit 728 Seiten zum Preis von 26 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.