Vereinfachen ist der falsche Weg
Wie kann man Schüler für klassische Literaturstoffe interessieren? Ein Weg könnte radikale Vereinfachung sein – wie in der Filmkomödie "Das schönste Mädchen der Welt", der aus Cyrano de Bergerac einen Rapper macht. Die Germanistin Beate Kennedy ist skeptisch.
Dieter Kassel: Heute ist Donnerstag, da kommen neue Filme ins Kino in Deutschland, und ein neuer deutscher Film, das ist eine Teenagerkomödie in dieser Woche, eine Teenagerkomödie mit dem Titel "Das schönste Mädchen der Welt". Es geht da neben diesem Mädchen vor allen Dingen um einen Jungen, der in seiner Klasse gemobbt wird, weil er eine besonders auffällige große Nase hat.
Aber er versteckt diese Nase im Internet unter einer Maske, und mit dieser Maske ist er ein erfolgreicher Rapper. Dann verliebt sich das Mädchen in den Mann mit der Maske und weiß einfach nicht, dass das eigentlich der mit der großen Nase in ihrer Klasse ist.
Und auch, wenn Sie den Film vermutlich nicht gesehen haben, könnte es ja sein, dass Ihnen diese Geschichte bekannt vorkommt, denn das ist tatsächlich schlicht und ergreifend die Geschichte des Cyrano de Bergerac, und das soll auch so sein, sagen Filmemacher bei diesem Film.
Aber ist es eigentlich ein sinnvoller Weg, einen klassischen Stoff aus einem Roman oder einem Theaterstück so stark modernisiert und vereinfacht zu präsentieren, zum Beispiel auch an Schulen, damit heutige Schülerinnen und Schüler das Ganze überhaupt noch verstehen?
Das wollen wir jetzt von Beate Kennedy wissen. Die Literaturwissenschaftlerin ist Bundesvorsitzende des Fachverbands Deutsch im Deutschen Germanistenverband, und sie unterrichtet Deutsch, Englisch und Philosophie an einem beruflichen Gymnasium in Kiel. Frau Kennedy, schönen guten Morgen!
Beate Kennedy: Guten Morgen, Herr Kassel!
Didaktische Ziele im Unterricht
Kassel: Ist denn im Unterricht heutzutage eine Modernisierung einhergehend mit einer Vereinfachung klassischer Stoffe sinnvoll und richtig? Es muss ja nicht immer so hart sein wie in diesem Film.
Kennedy: Ja, ich glaube, das sind zwei verschiedene Themen. Das eine ist die Geschichte, inwieweit springen Jugendliche auf Motive an, die eben einfach wichtig sind, die tragend sind, die das ausmachen, was wir generell "klassisch" nennen, also dieses Motiv des Außenseiters, der eben dann über andere Werte punktet wie in diesem Fall durch Esprit, Geistreichtum und so weiter.
Das ist ja etwas, da finden wir viele filmische Adaptionen oder viele Möglichkeiten, wie man solche Themen an die Menschen bringt, zum Beispiel ganz berühmt natürlich auch die Harry-Potter-Serie von Joanne K. Rowling, die für Jung und Alt wichtig ist, weil sie eben generelle Themen, allgemeinmenschliche Themen bringt. Das ist also der eine Strang.
Der andere Strang ist natürlich, ist das dann alles Unterrichtsstoff, und da müsste man natürlich kritisch hinschauen und sagen, an welcher Stelle bringe ich was den Schülern entgegen. Das hängt dann natürlich sehr stark davon ab, was jeweils meine didaktischen Ziele im Unterricht sind.
Sich den alten Wortschatz erschließen
Kassel: Aber wenn wir ein in Deutschland an Berühmtheit nicht mehr zu übertreffendes Beispiel nehmen, Goethes "Faust", dann ist es natürlich so, dieses Grundmotiv des Menschen, der seine Seele an den Teufel verkauft, dieses Grundmotiv war selbst zu Goethes Zeit schon sehr alt. Das hat er nicht erfunden, er hat nur dieses geniale Theaterstück daraus gemacht.
Wenn Sie nun sagen, ich möchte aber nicht die Grundidee des Seelenverkaufs allein thematisieren im Unterricht, sondern ich möchte diesen Text von Johann Wolfgang von Goethe vermitteln, heißt das ja, dann geht es nicht mehr um den Inhalt, sondern um die Sprache, oder?
Kennedy: Ja, ganz genau. Da geht es um die Sprache und eben um das, was wir als meisterhaft gelungene Form empfinden, wo wir eben sagen, da hat jemand ein Grundmotiv so auf den Punkt gebracht, dass es mustergültig ist und dass wir uns daran auch dann kreativ abarbeiten können.
Kreativ heißt, wir müssen es natürlich dann immer für uns selbst in seiner Bedeutung erschließen. Ein Beispiel jetzt aus meinem Unterricht. Wir haben hier Profiloberstufe, da wählen also die Schüler nach Neigung, und wo man Mathematiker hat, die logisch denken können, empfiehlt es sich vielleicht dann, die Annotationen von Goethe sich besonders anzuschauen oder die Entwicklung des Charakters anhand eines Zeitstrahls auch zu visualisieren, also viel mit dem Computer zu arbeiten, viel mit Listen zu arbeiten, mit logischen Verknüpfungen zu arbeiten, die es ja bei Goethe reichlich gibt. Also die Sprache systematisch, wie ein Philologe es eben auch macht, zu analysieren.
Oder in einer anderen Klasse, die vielleicht eher haptisch orientiert ist, also sich einfach an visuellen Bildern berauscht, ist es natürlich dann ganz empfehlenswert, gleich ins Theater zu gehen, wo die Theater sowieso heutzutage die sind, die die Stoffe noch mal für die heutige Jugend auch interessant und spannend präsentieren.
Schüler müssen an Goethe herangeführt werden
Kassel: Nun wissen Sie genau wie ich und, ich glaube, auch viele Leute, die uns zuhören, dass zahlreiche seriöse Studien ja immer wieder zeigen, dass, je nach Studie, Grundschulkinder, Schüler weiterführender Schulen und auch Erwachsene ein zum Teil erschreckend geringes Leseverständnis haben. Und wenn man sieht, dass viele einen Text, der ein, zwei DIN-A4-Seiten umfasst und in relativ durchschnittlichem heutigem Deutsch geschrieben ist, nicht völlig erfassen können nach dem Lesen. Ist dann so eine Klassikersprache nicht zwangsläufig eine Überforderung?
Kennedy: Ja, das kann natürlich sein. Im Zuge unserer digitalisierten Wahrnehmung haben wir natürlich auch andere Lesegewohnheiten entwickelt, schon uns fällt es ja schwer, bei der Sache zu bleiben und uns zu konzentrieren, umso mehr, wenn man diese historische Differenz überbrücken muss und dann auch noch Wortschatz verstehen sollen muss, der alt ist, den man sich erst mal erschließen muss, den es so gar nicht mehr gibt.
Das ist natürlich klar, aber da gibt es eben zwei Punkte: Das eine ist der Punkt, dass wir natürlich diese Schüler und auch erwachsene Menschen haben, für die es sehr gut ist, dass es etwas wie leichte Sprache gibt, Vereinfachung gibt. Dass man eben in einfacher Sprache Inhalte präsentiert.
Aber das ist eben nicht das Gros. Und ich wehre mich dagegen, zu sagen, jeder Schüler ist prinzipiell, weil er eben ein heutiger Schüler ist und Medien nutzt und so weiter, irgendwie defizitär und darf gar nicht mehr mit jetzt größerem Stoff konfrontiert werden.
Im Gegenteil, die Herausforderung liegt ja dann darin, dem normal begabten Schüler oder der Schülerin das möglich zu machen, diese Sprache zu verstehen. Und da arbeiten wir natürlich exemplarisch, da geht es Stück für Stück voran. Und diejenigen, die dann Freude dran finden, die kommen dann auch in einen Lesefluss hinein und haben die Möglichkeit, den Text zu verstehen.
Dafür ist ja die Schule da, das ist ja der große Vorteil, dass wir in der Schule noch so einen gewissen Hort haben, wo man in Ruhe sich an diesen Dingen abarbeiten kann.
Kassel: Wir haben eigentlich keine Zeit mehr, aber ich kann es nicht lassen: Glauben Sie, wer Goethes "Faust" versteht, versteht definitiv auch eine moderne Gebrauchsanleitung?
Kennedy: Ja, das ist möglich, wenn diejenigen, die diese Gebrauchsanleitung schreiben, daran denken, dass Menschen geführt werden wollen und eben auch das Fremde erklärt haben wollen. Und das Fremde nicht verklausulieren oder nur ansatzweise beschreiben.
Wichtig wäre mir eben, dass man da auch digital und analog immer nebenher hat. Mir geht es ja so, als promovierte Literaturwissenschaftlerin bin ich teilweise nicht in der Lage, die Gebrauchsanweisung meiner Aufnahmegeräte zu verstehen oder meines Autos - also eine Gebrauchsanweisung, wenn die eben nur digital verfügbar ist, ich aber im Auto ganz konkret, ganz analog auf der Straße stehe und gerade jetzt ein Problem habe, dann erwarte ich eigentlich, dass ich noch den gedruckten Text möglichst bebildert auch vor Augen habe.
Kassel: Das war, glaube ich jetzt ein schönes Beispiel für das Phänomen "Dumme Frage, kluge Antwort". Frau Kennedy, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Kennedy: Ja, Danke auch, Herr Kassel, auf Wiederhören!
Kassel: Wiederhören. Beate Kennedy war das, Lehrerin und Literaturwissenschaftlerin, über Sinn und Unsinn von Vereinfachung und von Klassikern an der Schule.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.