Germanwings-Absturz

"Für diese Tragödie fehlen die richtigen Worte"

Schüler stehen in Haltern am See (Nordrhein-Westfalen) vor dem Joseph-König-Gymnasium. Beim Absturz einer Germanwings-Maschine in Frankreich sind auch 16 Schüler und 2 Lehrer von der Schule verunglückt.
Schüler des Joseph-König-Gymnasium in Haltern trauern um die beim Germanwings-Absturz verunglückten Mitschüler. © dpa / picture alliance / Maja Hitij
Der Seelsorger und Psychiater Hartmut Jatzko im Gespräch mit Nana Brink |
Nach einem Unglück sei es für die Hinterbliebenen der Opfer wichtig, "dass man möglichst die Nähe spürt", sagt der Seelsorger Hartmut Jatzko. Genau deshalb sei ein Treffen wie heute mit Bundeskanzlerin Merkel in der Nähe des Unglücksortes gut für die Trauernden.
Wie kann man nach einem schrecklichen Unglück tröstende Worte für die Hinterbliebenen finden? Im Fall des Absturzes der Germanwings-Maschine sei das besonders schwierig, sagte der Psychiater und Seelsorger Hartmut Jatzko im Deutschlandradio Kultur:
"Wir haben ja eigentlich den Satz, mir fehlen die Worte. Man kann für dieses Ausmaß der Tragödie eigentlich nicht die richtigen Worte finden. Alles, was man sagt, stimmt eigentlich nicht ganz. Es ist ungeheuerlich, das Ausmaß, vor allen Dingen, wenn man, wie Sie auch hören, Kinder verloren hat."
Es sei trotzdem besonders wichtig, auf die betroffenen Menschen zuzugehen, ihnen dabei auch das Gefühl von Nähe zu geben, meinte Jatzko:
"Das heißt, viele Menschen sind so wie gelähmt, dass sie keine Hilfe eigentlich in Anspruch nehmen. Und deswegen ist das Zugehen, das vorsichtige Sich-Annähern und das Einladen von Menschen sehr, sehr wichtig."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Diese Bilder haben sich eingeprägt bei mir, vielleicht geht es Ihnen ja auch so, das Kerzenmeer vor der Schule in Haltern am See. Von dort kommen die 16 Schüler und zwei Lehrerinnen, die gestern ja mit der Maschine von German Wings in den südfranzösischen Alpen abgestürzt sind. Dort, aber auch am Flughafen in Düsseldorf hat man immer wieder Seelsorgerteams gesehen, die die Angehörigen von der Öffentlichkeit abschirmen. Hartmut Jatzko ist so ein Seelsorger. Er ist Arzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, sehr erfahren im Bereich der Begleitung und Therapie von Opfern und Hinterbliebenen von Katastrophen. Er hat zum Beispiel die Opfer der Rammstein-Katastrophe 1988 betreut oder auch die Angehörigen der Opfer des Amoklaufs in Erfurt. Guten Morgen, Herr Jatzko!
Hartmut Jatzko: Ja, guten Morgen, liebe Frau Brink!
Brink: Heute treffen wahrscheinlich die ersten Angehörigen mit Bundeskanzlerin Merkel zusammen in Seyne-les-Alpes, das ist dieser kleine Ort in der Nähe des Unglücksortes – wie schwierig ist es da, die richtigen Worte zu finden?
Jatzko: Wir haben ja eigentlich den Satz, mir fehlen die Worte. Man kann für dieses Ausmaß der Tragödie eigentlich nicht die richtigen Worte finden. Alles, was man sagt, stimmt eigentlich nicht ganz. Es ist ungeheuerlich, das Ausmaß, vor allen Dingen, wenn man, wie Sie auch hören, Kinder verloren hat. Oder wenn Eltern in dieser Maschine waren und zu Hause Kinder übrig bleiben. Stellen Sie sich vor, das ist ja so, das ist ja immer ein Umfeld. Das sind ja nicht nur die Menschen, die abgestürzt sind, sondern es sind ja noch mindestens mal drei, muss man rechnen, Angehörige zu Hause, die unmittelbar betroffen sind.
"Die Menschen sind wie gelähmt"
Brink: Wie gehen Sie auf die zu, was sind Ihre Erfahrungen?
Jatzko: Wichtig ist, wie Sie sagen, zugehen. Das heißt, viele Menschen sind so wie gelähmt, dass sie keine Hilfe eigentlich in Anspruch nehmen. Und deswegen ist das Zugehen, das vorsichtige Sich-Annähern und das Einladen von Menschen ist sehr, sehr wichtig. Aber auch direkt jetzt für die Hinterbliebenen an der Unglücksstelle, auf den Flughäfen, in der Schule, dass auch für das Leibliche gesorgt wird. Das heißt, Getränke, also irgend etwas zu Essen auch, und auch, wenn irgendjemand seine Tabletten nehmen muss, Insulin zum Beispiel, Diabetiker. Dass man aufpasst, auch so im medizinischen Hintergrund, dass hier nicht noch Weiteres in diesem Umfeld jetzt passiert.
Brink: Nun haben wir erfahren, dass die ersten Angehörigen wahrscheinlich an den Unglücksort reisen werden. Wie wichtig ist das?
Jatzko: Es ist immer wichtig, dass man möglichst die Nähe spürt. Das sind auch unsere Erfahrungen, die wir jetzt auch besonders nach dem Absturz der Birgenair-Maschine 1996 haben, dass die Menschen so nahe wir möglich sein müssen. Ich erinnere mich daran, als wir den Gedenkstein in Puerto Plata aufgestellt haben, dass am Abend zuvor der Stein da lag. Da kamen die Angehörigen und haben ganz zärtlich mit den Fingern über den Namen ihrer getöteten Angehörigen gestrichen. Und das ist jedes Jahr so.
Wir haben jetzt den 18. Jahrestag gehabt, und jedes Jahr treffen wir uns in Frankfurt auch an dem Gedenkstein, von drei Gedenksteinen, die identisch sind, in Puerto Plata, in Frankfurt und in Berlin, und überall das gleiche Ritual. Man berührt etwas symbolisch und hat damit die größte Nähe. Natürlich eben auch, an den Unglücksort zu fliegen. Da sind wir auch nach Puerto Plata damals geflogen, und das war ganz wichtig. Vor allem immer, in der gleichen Minute muss es sein, wo das Unglück passiert ist.
Brink: Das heißt, man fliegt dort hin, um nahe zu sein den Menschen, die man verloren hat. Ist es dann auch wichtig, eine Erklärung zu bekommen. Also, wir rätseln ja immer noch, wie das passiert ist.
Jatzko: Es ist ganz, ganz wichtig. Und zwar vollkommene Aufklärung, und natürlich auch unter Abstrich, dass man viele Dinge nicht ganz klären kann. Aber das ist wichtig, dass man sich ein Bild machen kann, dass man also im Hintergrund von den meist gruseligen Bildern, die man hat, die sie haben leiden müssen bei diesen acht Minuten jetzt, wo der Sinkflug war – was ist da geschehen? Aber wir können annehmen, wenn jetzt vielleicht die Piloten auch nicht mehr bei vollem Bewusstsein waren, dass möglicherweise bei diesem Sinkflug etwas in der Maschine passiert ist, dass die Menschen vielleicht das Bewusstsein verloren haben. Und solche Erklärungen, die man dann findet, die können ein bisschen tröstlich sein.
Anteilnahme von Politikern
Brink: Hilft es den Angehörigen Ihrer Erfahrung nach auch, wenn sie also nicht nur die Anteilnahme der Seelsorger, also der Menschen wie Sie vor Ort erfahren, sondern auch von Politikern?
Jatzko: Ja, das ist wichtig. Dass praktisch eine höchste Anerkennung da ist. Also, wir haben immer wieder gehört, dass sie gesagt haben, na ja, nach einem Jahr wird man uns vergessen haben, da passiert das Nächste wieder. Aber genau diese Würdigung ist ganz, ganz wichtig. Dass man hier gemeinsam trauert. Und heute haben wir den Eindruck, nach diesem Schrecklichen trauert ganz Deutschland. Aber nicht nur Deutschland, sondern das ist ja weltweit. So was geht ja innerhalb von Minuten um die Welt herum. Und man nimmt Anteil und vergleicht auch vielleicht mit ähnlichen Ereignissen, die man im eigenen Land eventuell hatte.
Brink: Das heißt also, es ist dieser Schulterschluss, den wir brauchen oder den die Angehörigen brauchen?
Jatzko: Ja. Dass Menschen nicht allein sind. Denn in der Trauer ist man erst mal völlig allein und isoliert. Und hier ist es wichtig, dass hier ein Beistand geschieht. Also das Wort "beistehen", "daneben stehen" – keine großen Worte machen, nicht jetzt irgendwie eindringen in den Menschen, schon gar nicht irgendwie vergleichen, na ja, also ihr habt ja noch ein Kind zu Hause oder so. Verstehen Sie? Solche Worte sind nach unserer Erfahrung immer sehr, sehr eigentlich verletzend. Und man merkt, dass die Menschen, die da beistehen wollen, sicherlich in guter Absicht, aber mit Sicherheit dann bei den Hinterbliebenen nicht ankommen.
Brink: Sie betreuen die Hinterbliebenen, aber auch viele Retter, Polizisten, Feuerwehrleute. Ich stelle mir gerade vor, welche Eindrücke auch die Menschen, die Retter bringen, die sich zum ersten Mal abgeseilt haben, und wahrscheinlich auch, wenn man sie fragte, wen haben Sie dort gefunden, verstummt sind – zumindest habe ich solch eine Szene gestern gesehen im Fernsehen. Brauchen die auch Betreuung?
Jatzko: Ja, und zwar, wir werden sie ja jetzt im Einsatz nicht erreichen, aber danach. Und es ist auch mit eine Arbeit meiner Frau und mir, dass wir dann auch diesen Menschen begegnen. Aber wir laden sie auch ein in dem, was wir jetzt als sehr, sehr wichtig in den letzten 26 Jahren empfunden haben, eine Schicksalsgemeinschaft zu gründen. Und in diese Schicksalsgemeinschaft gehören alle, die davon betroffen sind, also die Hinterbliebenen, aber auch die Helfer, aber auch die Identifizierungskommission des Bundeskriminalamts, die IDKO, und andere laden wir ein, so dass diese Menschen ihre Betroffenheit, das ausdrücken können. Sie gehören also zur Schicksalsgemeinschaft. Gleichzeitig können sie aber wichtige Fragen beantworten, die dann immer bis ins Detail hinein von Angehörigen, von Hinterbliebenen gestellt werden.
Die Bedeutung der Trauerfeier
Brink: Das heißt, es ist dann auch wichtig, dass es so was wie Trauerfeiern gibt? Also ich hätte jetzt fast gesagt, auf nationaler Ebene, aber –
Jatzko: Ja. Es ist erst mal eine Trauerfeier - direkt unmittelbar nach dem Unglück - das wird nächste Woche wohl schon sein, wo dann ja Politiker anwesend sind. Und manchmal – wir nehmen ihnen ab, dass sie tief betroffen sind, vor allen Dingen, wenn sie selber Kinder haben und so weiter, das ist klar. Aber auch, man nimmt es so manchmal wahr, als wenn es so Floskeln seien, die halt immer so Parade stehen. Und dann kommt es also zu Begegnungen.
Wir werden diese Schicksalsgemeinschaft eben mit der Stiftung Notfallseelsorge im Rheinland einrichten. Und Einladungen machen wir dann, wenn wir die Liste haben der Menschen, der Hinterbliebenen. Und dann wird sich hieraus etwas ergeben, und zwar immer nach den Wünschen der Betroffenen. Wir stehen im Hintergrund und helfen bei der Organisation, dass sie zusammenkommen, eventuell zwei-, dreimal im Jahr, auf jeden Fall aber am Jahrestag. Das ist ganz wichtig, zur selben Zeit dann auch.
Und da werden einige möglicherweise dann auch zum Ort wieder hinfahren, das war in Puerto Plata genauso. Oder aber wir werden hier Begleitungen machen. Und Sie sehen auch, dass es immer gewünscht ist, dass hier die Seelsorge, also kirchliche Einrichtungen dieses gestalten. Es ist also ein sehr großer Wunsch in unserer Kultur, dass hier von den Kirchen aus diese Begleitung geschieht.
Brink: Der Psychiater Hartmut Jatzko, sehr erfahren im Umgang mit den Hinterbliebenen von Opfern, überhaupt mit der Schicksalsgemeinschaft. Danke, Herr Jatzko, für Ihre Zeit und das Gespräch!
Jatzko: Danke, Frau Brink!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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