Warum Ältere die Zeit anders wahrnehmen
Die Zeit rast dahin. Je älter man wird, desto intensiver wird die Empfindung, das Leben ziehe wie im Zeitraffer an einem vorbei. Die Psychologin Corinna Löckenhoff erklärt, warum das so ist. Fest stehe: Wer bis ins hohe Alter viel erlebe und aktiv sei, nehme das Zerrinnen der Zeit nicht so intensiv wahr.
Schon ist wieder Silvester und man fragt sich: "Was war eigentlich im letzten Jahr? Ist überhaupt etwas passiert in meinem Leben?" Und vor allem: "Wo ist die Zeit geblieben?" Die meisten Menschen teilen diese Erfahrung. Je älter sie werden, desto häufiger möchten sie - frei nach Goethes Faust - ausrufen: "Augenblick, mach mal langsamer und verweile, du bist so schön."
Die Psychologin und Alternsforscherin Corinna Löckenhoff beschäftigt sich am Weill Cornell Medical College im US-amerikanischen Ithaca mit genau diesem Phänomen:
"Irgendwann zählt man nicht mehr die Jahre, die man schon gelebt hat, sondern die Jahre, die einem noch übrig bleiben. Das ist das eine Element. Das andere, das ich auch in meinem Labor jetzt in letzter Zeit erforscht habe, ist die Tatsache, dass sich für Ältere die subjektive Gegenwart immer weiter auszudehnen scheint. Also wenn wir Jüngere fragen, wie viel sie denn mit ihrem vergangenen Selbst und ihrem zukünftigen Selbst noch gemeinsam haben, dann sagen die uns, ja, vor einem halben Jahr war ich noch jemand ganz anderes und sechs Monate in der Zukunft werde ich jemand anders sein. Ältere dagegen haben, auch wenn die ein ganzes Jahrzehnt in die Vergangenheit oder die Zukunft blicken, noch sehr viel mit sich gemeinsam."
Lohnt sich das noch?
Häufig beobachte sie, dass ältere Menschen vor einer schweren Operation mit längerer Reha zurückschreckten – weil sich die OP doch gar nicht mehr lohne. "Was soll mir das jetzt noch bringen?", bekomme sie oft von 75-Jährigen zu hören, die verkennen würden, dass sie, als US-Amerikaner oder Europäer, noch eine Lebenserwartung von mindestens zehn weiteren Jahren vor sich hätten.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wir haben ja in diesem Jahr einen wahren Jubiläumsreigen, also wir Deutschen, 25 Jahre deutsche Einheit, und nicht Wenige von uns reiben sich da die Augen beim Rückblick und Anblick der Fotografien zum Beispiel von damals: Wie, ist das schon so lange her? Eine Generation immerhin. Man hat ja schon Mühe, seinen Kindern zu erzählen, wie das war mit der Mauer, und als sie fiel, war man ja selbst gerade vielleicht mitten im Aufbruch – und schon greift man gern zu dem Spruch: "Kinder, wie die Zeit vergeht!" Tatsächlich scheint sie ja schneller zu vergehen, je älter man wird. Wie, der TÜV ist schon abgelaufen? 30 Jahre Abitur? Wann wurde noch mal der Euro eingeführt? Das war übrigens vor 13 Jahren. Natürlich rast die Zeit nicht, aber warum haben wir in jüngeren Jahren eigentlich das Gefühl, dass sie viel langsamer vergangen ist? Und was ist dran an diesem afrikanischen Spruch "Gott hat den Europäern die Uhr gegeben und uns die Zeit"? Professor Corinna Lückenhoff ist Altersforscherin, sie lehrt am Weill Cornell Medical College im Staat New York und ist Direktorin eines Labors für gesundes Altern und ist jetzt bei mir in "Studio 9". Schönen guten Morgen!
Corinna Löckenhoff: Guten Morgen!
Brink: Wie verändert sich denn wirklich unsere Zeitwahrnehmung im Laufe unseres Lebens?
Löckenhoff: Ja, da gibt es verschiedene Aspekte. Also das Wichtigste ist eigentlich, dass die Wahrnehmung der subjektiven Zeit im Gegensatz jetzt zur physikalischen Zeit alles andere als gleichförmig ist. Man kennt das von sich selber: Manchmal vergeht ein Tag wie im Flug, manchmal dauert eine Stunde ewig, insbesondere, wenn man beim Zahnarzt wartet. Und diese Verschiebung und Stauchung der Zeit, die hat der Salvador Dali eigentlich ganz gut getroffen mit seinen zerfließenden Uhren. Und die Art und Weise, wie die Zeit verschoben wird, verändert sich aber auch, wenn wir älter werden.
Wie blicken wir in die Vergangenheit und in die Zukunft?
Brink: Wie passiert das?
Löckenhoff: Und zwar: Das Eine ist, dass wir das Gefühl haben, immer weniger Zeit übrig zu haben. Man kennt das von sich selber: Irgendwann zählt man nicht mehr die Jahre, die man schon gelebt hat, sondern die Jahre, die einem noch übrig bleiben. Das ist das eine Element. Das andere, das ich auch in meinem Labor jetzt in letzter Zeit erforscht habe, ist die Tatsache, dass sich für Ältere die subjektive Gegenwart immer weiter auszudehnen scheint. Also wenn wir Jüngere fragen, wie viel sie denn mit ihrem vergangenen Selbst und ihrem zukünftigen Selbst noch gemeinsam haben, dann sagen die uns, ja, vor einem halben Jahr war ich noch jemand ganz anderes und sechs Monate in der Zukunft werde ich jemand anders sein, während für Ältere ... Die haben auch, wenn die ein ganzes Jahrzehnt in die Vergangenheit oder die Zukunft blicken, dann haben die noch sehr viel mit sich gemeinsam.
Brink: Was passiert da genau in unserer Wahrnehmung?
Löckenhoff: Es ist wohl so, dass unsere Wahrnehmung des Selbst, also dieser Sattel der Gegenwart, von dem aus wir in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken, dass der immer weiter wird mit dem Alter. Also man scheint immer mehr derselbe zu bleiben. Wir glauben, dass es etwas damit zu tun hat, dass man sich im jüngeren Alter rasch im Hinblick auf verschiedene Rollen verändert. Also jüngere Menschen nehmen ja ständig neue Rollen an, die in der Ausbildung, in der Schule, in der Partnerschaft, als Eltern. Und diese Rollen, die verändern sich eben im zunehmenden Alter nicht mehr so sehr, und dadurch entsteht dann auch das Gefühl, dass man sich selber nicht mehr so sehr verändert, dass man eher der Gleiche bleibt. Und dann ist es halt so, dann ist schon wieder Silvester, und dann guckt man auf das Jahr zurück, ...
Brink: Schon wieder der TÜV abgelaufen, ja.
Löckenhoff: ... und es hat sich eigentlich nichts verändert. Es hat auch was damit zu tun, dass für andere Menschen die Zeit schneller zu vergehen scheint. Das heißt, der kleine Enkel, der eben noch im Sandkasten gebuddelt hat, der macht jetzt Abitur, aber man selbst hat sich eigentlich nicht verändert, hat in dieser Zeit keine neuen Rollen angenommen.
Es gibt eine gefühlte Zeit
Brink: Das heißt, es gibt also wirklich etwas, wir kennen ja so diesen Spruch von der gefühlten Temperatur, also es ist eigentlich nur minus 5 Grad, aber uns kommt es vor wie minus 30, gibt es dann auch so was wie eine gefühlte Zeit?
Löckenhoff: Absolut. Alle Zeit, die wir wahrnehmen, ist gefühlte Zeit. Man sagt zwar Zeitwahrnehmung, aber wir haben kein Wahrnehmungsorgan wie jetzt die Nase zum Riechen oder oder die Ohren zum Hören für die Zeit. Stattdessen ist unsere Zeitwahrnehmung in vielen verschiedenen Teilen des Gehirns verteilt. Und zum Beispiel ein Mechanismus, der uns hilft, festzustellen, wie lange es dauert, bis fünf Minuten vergangen sind, das ist was ganz anderes als der Mechanismus, der uns hilft, uns vorzustellen, wie unser Leben wohl in fünf Jahren sein wird oder auch der Mechanismus, der uns hilft, zu planen, wie viel Zeit habe ich denn noch übrig und wie will ich mir die Zeit einteilen.
Brink: Nun arbeiten wir hier gerade im Rundfunk ja ganz exakt mit Zeit, und mir ist immer dieser Spruch irgendwie, dieser afrikanische Spruch so im Kopf geblieben: "Gott hat den Europäern die Uhr gegeben und uns die Zeit." Gibt es da also auch kulturell große Unterschiede zwischen den Menschen?
Löckenhoff: Ja, und zwar gibt es da ganz interessante Forschungen. Da gibt es diesen Ansatz, mal festzustellen, wie schnell die Leute laufen – und in unterschiedlichen Städten laufen die Leute schneller oder langsamer. Zum Beispiel komme ich jetzt aus Ithaca in New York, das ist ein, da wohne ich normalerweise, das ist eine kleine Universitätsstadt, und da laufen die Leute langsamer als hier in Berlin, wo ich momentan für ein Sabbatjahr bin, und da musste ich mich schon umgewöhnen, dass man da schneller läuft. Und auf der ganzen Welt gibt es diese Vergleiche.
Brink: Interessant ist ja: Wenn wir dann die Verknüpfung zum Alter wieder herstellen – kann man denn sagen, wann sozusagen das anfängt, dass man die Zeit als langsamer empfindet? Gibt es da so einen Stichtag, das ist ja dann oft so ein Stichtag, wann man älter wird?
Löckenhoff: Nein gar nicht. Also natürlich, das Rentenalter – es gibt schon so Zeitgeber. Aber auf die sollte man sich eigentlich, wenn man älter wird, nicht verlassen, weil es ist so, dass, je älter man wird ... Als Alternsforscher weisen wir immer wieder darauf hin, dass das chronologische Alter gar nicht mehr so wichtig wird. Wir kennen das, in der Bekanntschaft, da kennt man zwei 65-Jährige, und die eine Person sieht viel älter aus als die andere. Und es ist so, dass wir als Alternsforscher zwischen dem dritten Lebensalter unterscheiden, das ist also das gesunde Altern, wo Ältere aktiv noch im Leben stehen, und dann das vierte Lebensalter, und das beginnt nicht an einem bestimmten chronologischen Alter, sondern so vier bis fünf Jahre vor dem Tod. Und da, in diesem vierten Lebensalter, da verliert man erst verschiedene Fähigkeiten, physisch und gefühlsmäßig, da beginnen dann negative Entwicklungen.
Viele denken: Ich habe nicht mehr viel Zeit
Brink: Das heißt, wir haben eigentlich viel Zeit, wenn wir uns gut fühlen, also theoretisch.
Löckenhoff: Ja. Und in meiner Forschung merke ich immer wieder, dass ältere Menschen dadurch, dass sie das Gefühl haben, sie haben nicht mehr viel Zeit, in gewisser Weise auch unterschätzen, wie viel Zeit ihnen noch bleibt.
Brink: Ganz interessant, Sie haben mir erzählt, dass Ihre Studenten herausgefunden haben, eben am Weill Cornell Medical College in New York, dort lehren Sie ja, dass Menschen, die das Gefühl haben, die Zeit vergeht zu schnell, sich seltener als andere zum Beispiel einer Operation für ein neues Gelenk unterziehen – weil sie denken, das raubt mir zu viel Zeit?
Löckenhoff: Wir vermuten, dass das der Grund ist.
Brink: Ist interessant.
Löckenhoff: Es ist ja so: Bei vielen medizinischen Eingriffen muss man zunächst mal einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, und erst dann hat man praktisch die Vorteile im Sinn von verbesserter Lebensqualität. Und bei so einer Gelenkoperation, wenn man das Knie oder die Hüfte austauscht – das kann schon ein halbes Jahr bis ein ganzes Jahr Rehabilitation bedeuten. Aber wenn jetzt Ältere sagen, das bringt mir nichts mehr, ich bin ja schon 75, dann nehmen sie nicht wahr, dass zum Beispiel ... In Deutschland der durchschnittliche 75-Jährige, der hat noch ein ganzes Jahrzehnt vor sich, und da würde es durchaus Sinn machen, jetzt mal ein halbes Jahr oder ein Jahr Reha in Kauf zu nehmen und dann später die erhöhte Lebensqualität zu haben.
Brink: Also was geben Sie uns jetzt mit hier auf den Weg, ohne Zeitdruck?
Löckenhoff: Ich würde den Leuten raten, zum Teil sich von diesen vagen Vorstellungen "Ich habe nicht mehr viel Zeit" loszumachen und sich ganz konkret zu fragen, was ... Zum Beispiel beim medizinischen Eingriff: Wie viel Jahre Lebenszeit gibt mir das statistisch gesehen?
Brink: Herzlichen Dank, die Altersforscherin Corinna Löckenhoff hat uns besucht hier in "Studio 9", schönen Dank für das Gespräch und den Besuch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.