Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks"
Schöffling, Frankfurt am Main 2021
326 Seiten, 24 Euro
Der Roman als hochkomplexes Kunststück
05:58 Minuten
Gert Loschütz wird für seinen Roman "Besichtigung eines Unglücks" mit dem Wilhelm-Raabe-Preis 2021 ausgezeichnet. Darin rekonstruiert er die Geschichte eines der schwersten Zugunglücke Deutschlands und kommt dabei seiner eigenen Lebensgeschichte nah.
Der von der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandfunk gestiftete und mit 30.000 Euro dotierte Wilhelm Raabe-Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gert Loschütz für seinen Roman "Besichtigung eines Unglücks".
Die Jury erklärte zur Begründung: "Auf fast 120 Seiten rekonstruiert der Erzähler Thomas Vandersee eines der schwersten Zugunglücke, die sich je in Deutschland ereignet haben, um dann noch ganz andere Geschichten Fahrt aufnehmen zu lassen, um Schicksale zu beleuchten, die von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bestimmt wurden."
In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1939, drei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, rasten im Bahnhof der sachsen-anhaltischen Stadt Genthin zwei D-Züge ineinander. Dieses tragische Ereignis erinnere nicht nur kausal an die Umstände des beginnenden Krieges, sondern könne auch als seine Allegorie gelesen werden, so die Jury. Der Roman sei ein hochkomplexes Kunststück, das sich als empirisch getragener faktischer Bericht tarnt. Diese Begeisterung teilt auch Dorothea Westphal in ihrer
Buchkritik [AUDIO]
.
Unglück besser vorstellen
Hubert Winkels, Vorsitzender der Jury und ehemaliger Literaturredakteur des Deutschlandfunk, erzählt, er sei kürzlich nach Genthin gefahren, um sich das Unglück besser vorstellen zu können. Es gebe unterschiedliche Zahlen, aber 300 bis 400 Menschen seien dabei wohl ums Leben gekommen und über 700 verletzt worden.
Dieser tragische Unfall werde in dem Roman über 130 Seiten minutiös beschrieben. Die Jury befand, dass gerade diese sachlich konkrete aktengenaue Manier dieser Romanprosa dem Entsetzen eine angemessene Form gebe. Darin eingebettet gebe es aber eine ergreifende Liebesgeschichte, erzählt Winkels fasziniert.
Indem sein Ich-Erzähler Thomas Vandersee die Fakten dieses Unglücks recherchiert, nähert er sich immer mehr seiner Familie an. In einem der Unglückszüge saß Carla Finck, die schwer verletzt überlebte. Zwischen ihr und seiner Mutter, so ahnt Vandersee, scheint es eine Verbindung zu geben.
Und auch wenn der Ich-Erzähler nicht Loschütz heiße, könne man davon ausgehen, dass Loschütz und Vandersee ein und dieselbe Person seien, so Winkels. Insofern erzählt Loschütz in diesem Roman auch ein Stück eigene Lebensgeschichte.
Gert Loschütz: Sehnsucht nach dem Ur-Chaos?
Gert Loschütz selbst sagt: "Natürlich kann ich nur über etwas schreiben, das ich kenne." [AUDIO]
Seine Biografie und die seiner Eltern hätten bei diesem Buch genauso eine Rolle gespielt wie bei dem vorigen, "Ein schönes Paar" aus dem Jahr 2018.
An dem historischen Unglück, über das er vor rund 20 Jahren bereits ein Hörspiel verfasst hat, interessiere ihn "die Zufälligkeit, mit der so etwas geschieht, und auch die Sinnlosigkeit". Denn: "Das Ganze hätte nicht zu passieren brauchen, wenn bestimmte Bedingungen ein bisschen anders gewesen wären." Man könne sagen: "Es ist das ‚Was wäre, wenn?‘, was mich daran interessiert."
Als er während seiner Recherche Bilder des Unglücks betrachtete, habe er mit Blick auf den Fortgang des Zweiten Weltkriegs gedacht: "Was sich später im Großen ereignet hat, ereignet sich hier im Kleinen."
Beim Schreiben habe er sich auch gefragt, erzählt Gert Loschütz, was diese großen Unfälle so anziehend mache. "Ob es das Chaos ist, aus dem wir hervorgegangen sind." Unsere Existenz komme ja aus dem Chaos, wenn man sich die Entwicklungsgeschichte der Menschheit anschaue. Und es habe sich ihm die Frage gestellt, ob diese Faszination nicht eigentlich die Sehnsucht dorthin zurück sei.
"Dahinter steht auch die Tatsache, dass ein Großteil der Lokführer zum Kriegsdienst eingezogen wurde, was zur Folge hatte, dass Lokführer, die eigentlich gar nicht geeignet waren für diesen Personalbetrieb, dann auch einbezogen wurden in den D-Zugbetrieb. Normalerweise hätte der Mann, der diese Lok gefahren hat, beim Güterverkehr bleiben müssen.
Hinzu kommt dieses Verdunkelungsgebot: Die Bahnhöfe waren dunkel, die Züge waren dunkel, die Scheinwerfer an den Zügen waren abgedunkelt."
(nis/abr)