"Gert Westphal liest: Die schönsten deutschen Gedichte"
Der Hörverlag
4 CDs, 20 Euro
Weniger Pathos wäre schön gewesen
04:44 Minuten
Wer Gert Westphal als grandiosen Interpreten etwa der Romane Theodor Fontanes kennt, ist von seinem Können als Gedichtrezitator etwas enttäuscht. Und dass die Auswahl das 20. Jahrhundert unterschlägt, ist ein weiterer Wermutstropfen.
Er war einer der gefragtesten Hörbuch-Sprecher und Rezitatoren: Gert Westphal. Der deutsch-schweizerische Schauspieler ist 2002 gestorben. Aber noch immer erscheinen neu zusammengestellte Hörbuch-Editionen mit seiner Stimme. Nun ist die Anthologie "Gert Westphal liest: Die schönsten deutschen Gedichte" erschienen:
Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde!
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
21 Jahre jung war Johann Wolfgang von Goethe, als er sein bekanntes Gedicht "Willkommen und Abschied" schrieb:
Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah dir nach mit nassem Blick.
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah dir nach mit nassem Blick.
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Gefühlswallungen des Sturm und Drang
Der Überschwang, mit dem Gert Westphal dieses Gedicht liest, passt zur Sturm-und-Drang-Zeit, in der junge Dichter ihren Gefühlswallungen auch sprachlich freien Lauf ließen. Manchmal aber wirken in diesem Hörbuch Westphals Interpretationen etwas theatralisch.
Besser ist der deutsch-schweizerische Schauspieler meist dann, wenn er ruhigere Töne anschlägt, wie bei Friedrich Hölderlins melancholischem Gedicht "Hälfte des Lebens":
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
"Gert Westphal liest: Die schönsten deutschen Gedichte" – verspricht der Hörverlag im Titel dieser Audioanthologie. Und tatsächlich sind viele der hier präsentierten Gedichte sprachlich und teils auch thematisch schön.
Mal gewichtig, mal leicht
Mal kommen sie gewichtig, mal, wie in Heinrich Heines "Lyrischem Intermezzo" aus seinem "Buch der Lieder", leicht daher:
Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.
Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.
Trotzdem ist der Hörbuchtitel "Die schönsten deutschen Gedichte" irreführend. Gottfried Benn, Peter Huchel, Hans Magnus Enzensberger? Moderne oder gar experimentelle deutsche Dichtung? Fehlanzeige.
Denn bis auf Rainer Maria Rilke stammen alle elf vorgestellten Autoren aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die einzige Dichterin in diesem Hörbuch ist Annette von Droste-Hülshoff. Es macht große Freude, ihr sprachmächtiges lyrisches Werk wiederzuentdecken, darunter ihre Ballade "Der Knabe im Moor":
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Angetan, aber nicht überwältigt
Nach 134 Gedichten in einer Gesamtlänge von über vier Stunden schwirren einem Verse und Motive nur so im Kopf herum. Man ist angetan, aber nicht überwältigt.
Denn wer Gert Westphal als grandiosen Interpreten etwa der Romane von Theodor Fontane und Thomas Mann kennt, ist von seinem Können als Gedicht-Rezitator etwas enttäuscht. Weniger Pathos wäre schöner gewesen. Auch wenn es sie gibt, die Stellen, die uns berühren. Wie Rilkes Gedicht "Der Panther":
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.