Gesa Ufer liest Musik

Rocko Schamoni nimmt Rio Reiser das nervig Lärmende

Der  Entertainer, Autor und Musiker Rocko Schamoni im Studio von Deutschlandradio Kultur
Der Entertainer, Autor und Musiker Rocko Schamoni im Studio von Deutschlandradio Kultur © DRadio / Daniel Marschke
Von Gesa Ufer |
Ein ehrenwertes – und über Crowdfunding finanziertes – Projekt: Der Musiker Rocko Schamoni erinnert mit seinem neuen Album "Die Vergessenen" an Perlen deutscher Popgeschichte. "Morgenlicht" von Ton Steine Scherben hat er darauf der Patina beraubt.
Durch über 500 rare Platten hat Rocko Schamoni sich gearbeitet, um am Ende 13 persönliche Lieblingssongs auszuwählen. Mitunter ziemlich sprödes, abseitiges Zeug, von Musikern, die sich – wie Schamoni selbst – in ihrem Leben eher widerborstig benommen haben: Die Berliner Lassie-Singers zum Beispiel, die Münchner Independent-Recken von FSK, die Band Mutter oder auch das Jeans Team, aber auch Hildegard Knef oder Manfred Krug geben die Vorlagen.
Sperrige Arrangements hat Rocko Schamoni mithilfe ausgezeichneter Musiker aufgebrezelt und mit satten Bläsersätzen, opulentem Sound und seiner eigenen Stimme veredelt.
So wie den eher unbekannten Ton Steine Scherben Song "Morgenlicht", den Rocko Schamoni neu so interpretiert:
Wir stehen im Morgenlicht.
Fiebrige Knospen im ersten Sonnenstrahl.
Der Tau klebt feucht und kalt.
Bald brechen wir auf.
Wir öffnen uns, entfaltet in Licht und Staub,
werden Farben und Duft.
Wir kreisen in der Sonne.
Die Nacht versinkt hinter uns.
Überschwang des schwulen West-Berliner Nachtlebens
Die Aufbruchsstimmung dieser ersten Zeilen erinnert an das Lied der Jugend- und Wandervogel-Bewegung "Im Frühtau zu Berge" aus den 20er-Jahren, doch schon die psychedelische Musikfarbe lässt darauf schließen, dass es diesem Sänger weder um Natur- noch um Heimatverbundenheit geht.
Das musikalische Rüstzeug für Hausbesetzer und die APO wollten Ton Steine Scherben 1981, als dieser Song entstand, allerdings auch nicht mehr liefern. Und so liegt der Schlüssel für diesen kryptisch-assoziativen Text wohl eher im Laster und Überschwang des schwulen West-Berliner Nachtlebens verborgen, das Scherben-Frontmann Rio Reiser in jener Zeit in vollen Zügen auskostete.
Die Tür ist aufgerissen.
Wir trippeln hinaus auf hohen Schuhen,
noch schwankend vom eigenen Duft,
von Puder und Schminke
und den berauschenden Farben der Stoffe.
Meine Träume werden wach.
Sie spiegeln sich in den fragenden Augen der Kinder,
in den Berührungen der fremden Männer.
Zitternd steigen wir auf zum Flug.
Hier brechen statt Wandersleuten Paradiesvögel auf. Drag-Queens, Transvestiten, Nachtwesen, die das ungläubige Staunen der Passanten auf sich ziehen und mühsam, vom Morgenlicht geblendet, die Scherben der Nacht zusammenkehren.
Songtext vom Wirt vom "Anderen Ufer"
Den Text, den Rio Reiser hier singt, hatte der befreundete Rainer von der Marwitz geschrieben. Der war damals Wirt im "Anderen Ufer", für das schwule Berlin eine Institution wie für andere das Café Kranzler oder Einstein. 1977 als erste Kneipe für ein homosexuelles Publikum eröffnet, hingen keine blickdichten Gardinen mehr vor den Fenstern. Das "emanzipierte" Lokal fand sich bald in jedem Reiseführer , und neben den vielen hübschen Jungs, die nachts die Theke belagerten, kamen regelmäßig prominente Gäste wie Nina Hagen, Michel Foucault oder auch David Bowie, der damals nur zwei Häuser weiter seine Wohnung mit Iggy Pop teilte. So wie im "Anderen Ufer" tags gequatscht und politisch agitiert wurde, so regierten hier nachts Exzess und Überschwang.
Zugegeben: Die Latte für Rocko Schamoni hängt – nicht nur bei diesem Song – hoch. Gegen den aufgewühlt-durchgefeierten Rio Reiser anzusingen, das kann stimmlich kaum gelingen. Aber Rocko Schamoni nimmt die Patina und das nervig Lärmige von dem Stück.
Ein großes Verdienst besteht außerdem darin, nicht wehmütig dem Spirit vergangener Tage nachzujammern oder bei der gerade so üblichen Musealisierung von Subkulturen mitzuhelfen. Wenn Ulrich Raulff etwa in seinem biografischen Essay "Wiedersehen mit den 70ern“ vom "geistigen Wellenschlag unserer Zeit" schwärmt, den seine Generation gespürt habe, wenn Mark Reader in seinem grandiosen "Lust and Sound in West-Berlin" den alten Spirit wieder auferstehen lässt, schält Rocko Schamoni statt dessen die Stücke aus ihrem zeitlichen Kontext heraus und überführt sie in Hymnen, die immer passen, und – wie in diesem Fall – auch fast überall. Wenigstens vor jedem Club, aus dem Menschen kommen, die sich ungläubig im Morgenlicht die Augen reiben.
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