Taliban im Kopf
28:56 Minuten
Die Taliban bekämpfen, moderne Gesetze einführen, mehr Bildung für Frauen und Mädchen – so die Versprechen der westlichen Staaten. Sie schickten Truppen und Berater in ein Land, in dem die Scharia herrscht. Ein Einsatz ohne Ziel, meint unser Reporter.
Mazar-e-Sharif, Nordafghanistan, Haftanstalt für Frauen. Damit die Pforte zum Sicherheitstrakt sich öffnet, muss der Wärter seinem Kollegen auf der anderen Seite erst mal die Situation erklären. Der Reporter hier hat mit dem Herrn Direktor gerade Tee getrunken. Und der sagt, dass der Deutsche rein darf.
Die Eisentür geht auf. Ein Hof wird sichtbar. Etwa 60 Quadratmeter groß, zu drei Seiten von Unterkünften flankiert. Matten bedecken überall den Boden. Vielleicht zwei Dutzend Frauen liegen darauf, tragen körperlange bunte Überwürfe, die am Kopf die Haare nur teilweise bedecken. Beim Anblick des Besuchers erheben sich einige, eilen mir entgegen.
Der Staat und die afghanischen Politiker hätten sie an diesem Ort vergessen, klagen sie.
"In diesem Land haben wir keine Regierung! Hätten wir eine, dann würde sie sich für uns interessieren. Dann würde sie unsere Fälle wirklich ernsthaft untersuchen!"
Der Wärter macht keine Anstalten, den Unmut zu unterbinden. Er lässt den Dingen ihren Lauf und kauert sich abwartend neben die Pforte. Bibi Koh, die Frau, die zuerst die Hoheit über das Mikrophon errungen hat, führt den unerwarteten Gast wie eine Trophäe in ihre Hofecke, wo sie mir einen Platz auf ihrer Matte anbietet. Dass ein Mann zu ihnen kommt, dagegen hat hier offensichtlich niemand etwas einzuwenden. Während Bibi Koh spricht, umringen uns die gut zwei Dutzend anderen Insassinnen mit ihren Kindern und hören aufmerksam zu.
25 Frauen - eingepfercht auf 60 Quadratmeter
"Wie können die behaupten, dass ich einen Mord begangen habe? Als mein Ehemann umgebracht wurde, war ich im Krankenhaus. Und der Ort, an dem das passierte, liegt einen Tagesmarsch davon entfernt. Ich war an dem Tag krank. Aber die erste Instanz hat so entschieden. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich kann nur sagen, dass ich es nicht war. Wenn mein Mann umgebracht wurde, dann lag das an ganz was anderem. Das war ein Streit, ein Streit unter Brüdern."
25 Frauen. Eingepfercht auf 60 Quadratmeter Afghanistan. Und draußen pulsiert das Leben.
Mazar-e-Sharif – das ist der Bauboom, der sich schon gleich neben dem Gefängnis zeigt.
In der Metropole im Dreiländereck zwischen Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan, wird unaufhörlich gehämmert, gemauert geschraubt und geschweißt.
Mazar - das ist der Park im Stadtzentrum, auf den alle Hauptstraßen zulaufen und darin: die Blaue Moschee mit ihrer Kuppel und ihren weithin sichtbaren Minaretten, mit ihren schimmernden Fayence-Kacheln und ihren Mosaiken.
Mazar, das sind die Männerbünde der Sufi-Brüderschaft, die sich im Inneren des Kuppelbaus zu ihren Trance-Zeremonien versammeln. Das sind die unterschiedlichen Menschen auf den Straßen und Märkten: Persischsprachige Tadschiken, Usbeken mit ihren bunten Turbanen. Minderheiten wie Paschtunen, die rings um Mazar in geschlossenen Dörfern leben. Und schiitische Hazara mit ihren asiatischen, fernöstlichen Gesichtszügen.
Mazar - das sind aber auch seit beinahe 20 Jahren die wachsamen Bundeswehrsoldaten, die gepanzert an der Blauen Moschee vorbeirollen und nach Bedrohungen für den Konvoi ausspähen.
2014 schaltet die Bundeswehr von militärisch auf zivil
Rückblick: Als 2013 der militärische Auftrag endet und die Bundeswehr ihre Kampftruppen abzieht, bleiben hier trotzdem deutsche Soldaten stationiert. Als Ausbilder der afghanischen Armee. Oder als Beschützer ihres eigenen Lagers und der eigenen Leute.
Der Fokus des deutschen Afghanistan-Engagements liegt seit dem Ende des Kampfauftrags nicht länger auf dem Militärischen, sondern auf einer nachhaltigen Entwicklungspolitik.
"Es ist wichtig festzuhalten, dass das deutsche Engagement in Afghanistan nicht endet."
So hat es mir im Frühjahr vor fünf Jahren, kurz nach dem Ende des Kampfauftrags, Martin Schuldes bekräftigt. 2014 - ein Schlüsseljahr, in dem umgeschaltet wird: von militärisch auf zivil. Und Schuldes ist damals derjenige, der den Schalter umzulegen hat: Als Verbindungsmann des Bundesministeriums für Entwicklung. Der Mittfünfziger trägt einen graumelierten Dreitagebart, blaues Jackett und die klassische beigefarbene deutsche Diplomatenhose. Er steht hinter hohen Betonmauern, im Garten des deutschen Generalkonsulats. Der Komplex ist soeben mit viel Aufwand errichtet worden. Hinter der Umfassungsmauer sind die Dienststellen in mehreren Pavillons hintereinander gestaffelt. So sollen mögliche Angreifer ihr Ziel schwerer finden.
Der Konsulatsgarten im Innern gleicht einer Oase. Mit seinen Beeten, Bäumen und seinem gestutzten Rasen ist er so übersichtlich und so friedlich, wie ab jetzt der ganze Einsatz werden soll. Deutschland, so hat Martin Schuldes mir erklärt, ziehe zwar seine Fallschirmjäger und seine Artillerie ab. Das heiße aber nicht, dass man sich insgesamt zurückziehe.
Deutschland fordert mehr Rechte für Frauen und Mädchen
"Der zivile Aufbau für das Land, der ja schon seit vielen vielen Jahren läuft, der geht weiter. Deshalb ist es auch wichtig für die Bevölkerung in Deutschland, auch für die Bevölkerung in Afghanistan deutlich zu machen, dass Deutschland auch weiterhin ein verlässlicher Partner an der Seite der afghanischen Bevölkerung bleibt."
Die Bundesrepublik, so Martin Schuldes, würde sich mit beträchtlichen Geldmitteln auch weiterhin darauf konzentrieren, Afghanistan beim Aufbau seines Verwaltungs- und Rechtssystems zu helfen.
"Allerdings ist dieses hohe Leistungsniveau auch geknüpft an bestimmte Erwartungen. Die Bundesregierung erwartet, aus meiner Sicht zu Recht, weitere Fortschritte von der afghanischen Regierung, insbesondere im Bereich Verbesserung der Menschenrechtssituation. Mehr Rechtsstaatlichkeit, wirksamere Maßnahmen gegen Korruption und die Verbesserung insbesondere auch der Rechte von Frauen und Mädchen."
An seine Worte vor fünf Jahren muss ich jetzt denken, hier im Frauengefängnis von Mazar. Je länger ich mich dort aufhalte, desto weniger kommt es mir vor wie eine klassische Haftanstalt. Es gibt hier keine geschlossenen Zellen mit Gängen, Speise- oder Besuchsraum. Bei näherer Betrachtung fühle ich mich eher versetzt in eins dieser kleinen Bauerngehöfte auf dem Land. Über den hermetisch abgeschlossenen Innenhof spannt sich eine Leine, an der Wäsche hängt.
An drei der Mauern sind Wohngebäude angebaut, an einer finden sich Toiletten und Waschgelegenheiten. Und überall laufen Kinder herum oder sitzen in einer der Ecken.
Auf einer Matte im Schatten fallen zwei sehr junge Frauen auf. Sie sind nicht zusammen mit den anderen aufgestanden, um gegen ihre Lage zu protestieren oder zu sehen, was es Neues geben könnte.
"Ikhwarimaz."
Die eine von beiden deutet auf ihr Gegenüber.
Ledige Frauen dürfen sich nicht mit fremden Männern treffen
"Das ist meine Schwester. Sie ist von zu Hause, von unserer Familie weg gelaufen. Ich bin ihr hinterher, um sie zurückzuholen. Ich weiß nicht, was mir vorgeworfen wird und weshalb sie mich in diesem Gefängnis festhalten."
Ihre jüngere Schwester kauert mit abgewandtem Gesicht auf ihrer Matte. Sie möchte sich nicht äußern. So erzählt die Erste von den beiden weiter:
"Unser Bruder hat uns zusammen aufgegriffen. Dann wurden wir hier her gebracht. Der Mann, der mit meiner Schwester zusammen ausgerissen ist, ist inzwischen wieder frei gelassen worden. Aber wir beide sind noch immer hier, seit zwei Tagen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier noch bleiben müssen."
Sich als Frau von zu Hause zu entfernen, unverheiratet und noch dazu mit einem fremden Mann, ist in Afghanistan verboten. Anstand und gute Sitten. Bei vielen der hier Einsitzenden geht es genau darum. Genauer: um Konflikte damit. So jedenfalls hat es mir der Gefängnisdirektor erläutert, als ich ihn ein paar Tage vorher um die Besuchserlaubnis bitte. Und: Ob ich wirklich zu den Frauen da hineinwolle, fragt er mich. Ich müsse mir im Klaren sein, mit wem ich es da zu tun bekomme.
"Die meisten Frauen in diesem Gefängnis sind deshalb hier, weil sie von zu Hause ausgerissen sind. Einige haben jemanden umgebracht. Und wieder andere haben sich prostituiert."
Fünf Jahre Haft für Prostitution
Der Direktor, ein Mittvierziger mit graumeliertem Schnurr- und Stoppelbart, trägt zivil, eine traditionelle weite Hose und ein langes braunes Hemd mit Weste. Geduldig hört er sich meine Bitte an. In Afghanistan lohnt es sich, bei einem Entscheidungsträger einfach anzuklopfen. Schriftliche Anfragen werden oft gar nicht beantwortet. Auf unangekündigte Besuche scheint hingegen jeder eingerichtet. Bei Tee und Nüssen kommt man sich rasch näher. Selten, dass man einen Gast fortschickt ohne sein Ansinnen zu lösen. Der Gefängnisdirektor bemüht sich nach Kräften, mir entgegenzukommen. Und will seinerseits gern wissen, wie man in Deutschland mit ähnlichen Fällen umgehe. In Afghanistan werde Prostitution grundsätzlich mit einer Freiheitsstrafe belegt.
"Falls die betreffende Frau nicht verheiratet ist, gibt es dafür durchschnittlich fünf Jahre."
Sollten die Frauen verheiratet sein, fällt die Strafe schwerer aus, weil dann das Delikt des Ehebruchs dazukommt. Sind diese Frauen also überdies verheiratet, dann gibt es durchschnittlich zehn Jahre Freiheitsentzug."
Das führt mich automatisch zur nächsten Frage: Auf welche Basis gründen sich die Urteile? Wie sieht das afghanische Rechtssystem aus? Der Gefängnisdirektor verweist mich an das Gericht der Ersten Instanz. Es liegt in einem Verwaltungsdistrikt von Mazar, gut zehn Kilometer Luftlinie vom Gefängnis entfernt.
Das Büro, in dem auch die Akten der Frauen liegen, dominiert ein riesiger Kanonenofen für den Winter, dessen blechernes Rohr in der Wand verschwindet. Dahinter steht ein abgeschabter Schreibtisch, an dem der für Strafprozesse zuständige Richter sitzt, ein freundlicher älterer Herr. Er trägt einen langen weißen Bart, einen bunten Turban und eine dicke Brille. Zu konkreten Fällen möchte er sich nicht äußern. Sofern sein Name nicht genannt werde, sei er zu Auskünften über das Justizwesen aber gern bereit.
"Dies ist ein hundertprozentig islamisches Gericht. Für Familienangelegenheiten ist eine andere Kammer zuständig. Wir hier befassen uns mit Strafrecht."
Verfassung in Afghanistan fußt auf der Scharia
Und das fußt auf welcher Quelle, will ich von ihm wissen.
"Alle unsere Urteile gründen sich auf unsere Verfassung. Die stützt sich auf die Scharia. In unserer Verfassung heißt es dazu: Kein Gesetz widerspricht der Scharia. Das gilt für alles. Es gibt kein einziges Gesetz, das der Scharia nicht folgt. Im Islam haben wir mehrere Rechtsquellen: Die eine ist der Koran. Die zweite sind die Hadithe, die Aussprüche und Lebensbeschreibungen des Propheten. Außerdem stützen wir uns auch auf die Rechtsentscheidungen, die bestimmte Geistliche und Gelehrte getroffen haben."
Das Scharia-Strafrecht - im Westen macht es vor allem mit seinen mittelalterlichen Körperstrafen von sich reden, Vorschriften, die aus der islamischen Frühzeit stammen, etwa der Amputation der rechten Hand bei Diebstahl. Fällt er solche Urteile auch in Afghanistan, möchte ich von dem Richter wissen?
"Wenn wir einer Person den Diebstahl nachweisen können, wenn uns das hundertprozentig gelingt, dann können wir dem Betreffenden die Hand abschlagen lassen. Aber es ist sehr schwierig, so etwas lückenlos zu beweisen."
Deshalb, erklärt mir der Richter zum Abschluss, sei dieses Urteil auch seines Wissens von staatlichen Gerichten in Afghanistan bisher nie vollstreckt worden.
"Talibanismus" in den Köpfen der Menschen bekämpfen
In Afghanistan, so konstatiere ich nach dem Gespräch, herrscht Scharia-Recht. Das ist bei einem Land, das sich islamische Republik nennt, nicht überraschend. Doch bisher habe ich mir das nie richtig klar gemacht. Schließlich engagiert sich die internationale Gemeinschaft hier seit bald 20 Jahren, seit der Vertreibung der Taliban und hilft, einen modernen Staat aufzubauen. Seit vielen Jahren gibt es internationale und auch deutsch finanzierte Programme. Deutschland schult Richter, Anwälte, veranstaltet Streitschlichterseminare. Doch die Juristen, die Deutschland berät, sind Scharia-Juristen.
Und weshalb tun die Deutschen das? Das fragt mich Abdullah, ein junger Journalist, mit dem ich mich nach dem Besuch beim Richter verabredet habe. Weshalb helfen die Ausländer diesem System?
"Ich meine: Wenn sie wirklich gegen die Taliban vorgehen wollen, dann müssten sie doch deren Ideen bekämpfen. Die ausländischen Militärs kämpfen physisch gegen die Taliban. Aber die Ideen der Taliban, der Talibanismus sozusagen, sind mitten unter uns. Der Talibanismus herrscht überall heute in unseren Gerichten, in unseren Regierungsbüros."
Abdullah ist schlank, glattrasiert, ein Mann Mitte Dreißig. Er trägt Jackett zu seiner afghanischen Pluderhose und sitzt mit seinem Laptop in einer der vielen Tee- und Kebabstuben. Er ist Lokalreporter und betont in unserem Gespräch: Zwischen den zwei großen Konfliktparteien Regierung und Taliban gebe es auch noch eine Zivilgesellschaft. Und die, so meint er, werde vor lauter Sicherheitsdebatten immer mehr vergessen. Und zwar auch von den Helfern im Westen. Interessiere sich von denen überhaupt noch jemand dafür, dass Afghanistan ein moderner weltlich orientierter Staat wird? Abdullah wirkt fast zornig, als er mich das fragt. Und zugleich irgendwie resigniert.
"Wenn die Militärs wirklich in Afghanistan erfolgreich sein wollen, sollten sie gegen die Ideen der Taliban kämpfen, eben das, was ich Talibanismus nenne. Sie sollten gegen alle Druck machen, die den Talibanismus unterstützen. Dann werden sie aus Afghanistan abhauen. Sie bloß militärisch zu bekriegen, ist keine gute Idee."
Vergewaltige Frauen gelten oft als Prostituierte
Zu den Ideen, die sowohl die Taliban, als auch die staatlichen Gerichte vertreten, gehört auch, dass misshandelte oder vergewaltigte Frauen als Prostituierte gelten, wenn sie den Gewaltakt nicht durch ein ärztliches Attest belegen können.
Wieder im Gefängnis: Farsana, eine Frau, die etwa Mitte Zwanzig ist, sitzt mir im Innenhof auf einer Matte gegenüber und erklärt, was ihr passiert ist. Anders, als die beiden Schwestern, die von ihrem Bruder wegen "Ausreißens" belastet wurden, schämt sie sich nicht. Sie spricht ruhig und eindringlich und scheint vor allem bemüht, die Fakten klar zu schildern.
"Ein paar Männer haben mich in ein Auto gezogen und dann missbraucht. Aber als ich dann im Krankenhaus war, haben die Ärzte dort gesagt, dass sie keine Spuren von Gewalt an mir feststellen können. Ihre Gutachten fielen für mich negativ aus. Dann wurde ich hier her gebracht. Ich habe keine Ahnung warum. Von den Männern kamen fünf ins Gefängnis. Drei wurden frei gelassen, weil sie minderjährig sind. Aber zwei von ihnen sitzen noch ein."
Mir wird langsam klar: Die Frauen, die ich nach dem Zufallsprinzip hier spreche, sitzen hier aufgrund von Problemen ein, die man als Probleme zwischen den Geschlechtern beschreiben kann. Es geht um sexuelle Belästigungen. Oder um den Vorwurf, Belästigungen nur vorzutäuschen, um das eigene unmoralische Verhalten zu kaschieren. Und immer wieder: um Probleme in Beziehungen. Wie auch im Falle von Shakila, die ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen an der Hand hält.
"Ich bin wegen Mordes hier. Weil ich meinen Ehemann umgebracht habe. Ich habe insgesamt vier Kinder und eins von ihnen ist mit mir hier im Gefängnis."
Viele Inhaftierte stammen aus ärmlichen Verhältnissen
Anders als die meisten anderen Frauen, scheint Shakila sich mit ihrer Lage abgefunden zu haben. Sie wirkt ruhig und konzentriert, schaut zu ihrer kleinen Tochter.
"Es war sehr schwer, mit ihm zurechtzukommen. Er hat mich ständig geschlagen. Am Ende hatte ich keine andere Wahl mehr. Ich habe ihn getötet. Ich bin zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ich habe das Urteil angenommen. Seit drei Jahren bin ich jetzt hier."
Noch etwas fällt mir auf: Die Frauen, die in dem geschlossenen Innenhof in Mazar-e-Sharif einsitzen, sind ausschließlich Frauen aus ärmeren Verhältnissen. So auch eine ältere Frau, die, so sagt sie, gar nicht verstanden habe, was eine wohlhabende Dame sie unterschreiben ließ.
"Sie hat in meinem Namen Geld von der Bank geliehen und ausgegeben. Weil sie meinen Namen angab, hatte am Ende ich die Schulden und musste alles verkaufen, sogar meinen Sohn musste ich weggeben. Sie, diese Aziza, hat das alles mit mir gemacht, weil ich Analphabetin bin und keine Papiere lesen kann. Sie hat in meinem Namen alles Geld ausgegeben und dann hat sie die Behörden bestochen. Deshalb bin ich jetzt im Gefängnis und sie ist frei."
Justiz ist in hohem Ausmaß korrupt
Nachprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Dennoch ist es kein Geheimnis, internationale Gremien bescheinigen der afghanischen Justiz ein hohes Ausmaß an Bestechlichkeit. Der Lokaljournalist Abdullah, der über Korruption berichtet, vermittelt mir nach dem Besuch im Frauengefängnis den Kontakt zu einem seiner Informanten. Ich treffe ihn in meinem Hotel, wo wir sprechen können, ohne beobachtet zu werden. Er ist ein junger, westlich gekleideter Angestellter mit Schlips und Anzug. Er erzählt mir, er kenne den Richter gut. Denselben, der die Fälle der gefangenen Frauen bearbeite. Es handele sich um den, mit dem ich gesprochen hätte. Ich frage wiederholt, checke mit ihm den Namen. Ja, bestätigt der. Es gehe konkret um diesen Richter.
"6000 Dollars."
Sein Bruder habe ihm vor einem halben Jahr 6000 Dollar in die Hand drücken müssen, um eine fingierte Anklage wegen Körperverletzung abzuwenden. Auch er selbst habe mit ihm einschlägige Erfahrungen.
Auch er habe ihm mal viel Geld bezahlt. Das sei schon einige Jahre her. Damals habe er noch keinen Führerschein gehabt, sei aber trotzdem Auto gefahren. Die Verkehrspolizei habe ihn festgenommen und daraufhin sei er vor diesem Richter gekommen. Der habe ihm zunächst eröffnet, er werde ihn zu sechs Monaten Gefängnis verurteilen. Sechs Monate wegen eines Bagatelldelikts wie Fahren ohne Führerschein. Dann habe der Richter aber durchblicken lassen, dass er den Fall auch schließen könne. Sofern er umgerechnet 200 Dollar auf die Hand bekäme. Und so sei es dann auch gelaufen.
Korruption - sie gibt es in Afghanistan schon immer. Und nicht nur hier ist sie ein Problem, dem schwer und nur mit viel Geduld und strukturellen Änderungen beizukommen ist.
Neu hingegen ist für mich eine andere Erscheinung.
Milizen statt Lokalpolizisten bewachen viele Straßen
Anstelle regulärer Sicherheitskräfte – die auszubilden ja angeblich Auftrag der hier stationierten westlichen Militärs ist – entdecke ich heute an strategisch wichtigen Kreuzungen und Zufahrtsstraßen immer mehr bewaffnete Zivilisten. Meist Tadschiken und Usbeken, also Angehörige der Ethnien, die im Norden die Mehrheit stellen. Kommandiert werden sie oft von älteren Männern, Veteranen aus dem Dschihad gegen die Sowjets. Mit den Taliban sind sie verfeindet. Aber nicht, weil sie andere Ideen haben, sondern weil sie, die Milizionäre, Usbeken und Tadschiken sind, die Taliban hingegen beinahe allesamt Paschtunen.
Kommandant Abdurrahman bewacht eine Straßenkreuzung, die zum Verwaltungsbezirk von Mazar-e-Sharif führt. Hinter ihm parkt ein Toyota-Pickup voller Männer in zusammengewürfelten Tarnfleck-Uniformen. Abdurrahman kämpft als Irregulärer auf Seiten der Regierung. Dafür darf er sich Hilfspolizist nennen und sich die Buchstaben ALP auf den Toyota kleben, das Kürzel für "Afghan Local Police". Er betont, er und seine Unausgebildeten machen den Job besser als die ausgebildeten, die regulären Kräfte.
"Bevor wir von der Lokalpolizei den Kampf aufnahmen, waren die Taliban sehr stark. Seitdem wir da sind, können wir sie erfolgreich eindämmen. Die internationalen Geber sollten lieber uns Milizen unterstützen. Das ist die Botschaft, die ich für Sie habe. Denn wenn wir von den Milizen nicht wären, hätten die Taliban schon längst Mazar-e-Sharif erobert."
Kämpfer wie Kommandant Abdurrahman fühlen sich aber nicht in erster Linie der Regierung verpflichtet. Ihre Befehle nehmen sie von bestimmten Persönlichkeiten entgegen: Politikern, Veteranen aus dem Dschihad gegen die Rote Armee.
Provinzgouverneur lehnt moderne Gesellschaft ab
Diese alten starken Männer wollen kein modernes Gesellschaftssystem. Sie möchten lieber, dass die Strukturen so bleiben, wie sie immer waren. Der mächtigste von diesen alten Kriegsherren ist in Mazar-e-Sharif Mohammed Atta Nur. Vor 15 Jahren zum Provinzgouverneur ernannt, hat er sich seitdem sein eigenes regionales Netzwerk aufgebaut: Im- und Export, Grenzhandel, Immobilien, Sicherheitskräfte. 2018 wird Atta von Präsident Ashraf Ghani abgesetzt, ignoriert das aber und bleibt einfach im Amt. Noch ist er einer der mächtigsten Führer in der Jamiat Islami, der alten Mudschaheddin-Bewegung, die sich inzwischen zur politischen Partei entwickelt hat.
Während ich an der Blauen Moschee vorbei in Richtung Gouverneurssitz gehe, frage ich mich, ob er sich immer noch dort aufhält. Und ich denke daran zurück, wie mich der Lokalherrscher hier vor ein paar Jahren noch empfangen hat. Mit einem Protokoll, das dem eines Königs- oder eines orientalischen Fürstenhofes gleicht.
An der Stirnseite eines Saales steht auf einem Ständer ein gewaltiger Globus aus Lapislazuli. Als Zentrum auf der Weltkugel sind die Provinz Balkh und darin die Stadt Mazar-e-Sharif markiert. Daneben steht ein massiver, goldgerahmter Thron. Und darauf sitzt in einem schwarzen Anzug Gouverneur Atta.
"Ich freue mich, Ihnen meinen Hintergrund schildern zu dürfen. Zuerst habe ich studiert. Dann bin ich in den heiligen Krieg, den Dschihad gezogen und habe gegen den Kommunismus gekämpft, anschließend gegen die Taliban. Jetzt ist die Welt befreit von Terrorismus und von Kommunismus. Ich bin glücklich darüber, dass die Menschen mich beim Aufbau dieser Balkh-Provinz unterstützen und darin, sie immer sicherer zu machen."
Natürlich, so unterstreicht Atta damals, stehe man fest an der Seite der westlichen Verbündeten. Für Rechtsstaat, Demokratie und Meinungsfreiheit. Aber das bedeute nicht, dass man hier von einem islamisch verankerten System abweichen werde.
"In Afghanistan setzt die Verfassung der Meinungsfreiheit gewisse Grenzen. Und das gilt insbesondere dann, wenn der Islam betroffen ist. Wenn es um den Islam geht, dann müssen wir das bestehende Recht in ganz besonderem Maß respektieren."
Milizionäre wie Mohammed Atta Nur sind seit 2001 die Verbündeten der US-Amerikaner im Kampf gegen die paschtunisch dominierten Taliban. Auf der Bonner Petersberg-Konferenz, ebenfalls 2001, werden diese Warlords hofiert wie Politiker und mit dem Aufbau des neuen Staates betraut. Einmal in Amt und Würden ging es Männern wie Atta niemals darum, den Taliban Alternativen entgegenzustellen, sondern stets nur, die ihnen unterstehenden Männer weiter zu kommandieren. Darum, soviel Reichtum wie möglich anzuhäufen – und, bei Gelegenheit, ins Ausland zu schaffen. Bevorzugt nach Dubai.
Taliban gelten zwar als grausam, nicht aber als korrupt
Die Taliban gelten vielen Afghanen zwar als grausam, brutal und rückständig. Aber als weniger bestechlich. Und im Vergleich zu den korrupt gewordenen Mudschaheddin sind sie für viele sozusagen das islamische Original. Mein Eindruck nach all meinen Besuchen in Afghanistan, genau das führt auch dazu, dass sie jetzt vor den Toren stehen. Und nicht nur vor den Toren.
Vor zweieinhalb Jahren zerstört ein Bombenanschlag das neu gebaute deutsche Generalkonsulat. Ein Kellner, der hundert Meter entfernt in einem Restaurant arbeitet, erinnert sich noch sehr genau an diesen Tag, der die Stimmung in der Stadt verändert hat. In der Stadt, die bis dahin noch als relativ sicher galt.
"Ich hätte nie gedacht, dass so etwas jemals in Mazar-e-Sharif passieren könnte. So eine Riesenexplosion! Das hätte hier niemand für möglich gehalten. Ich wurde bewusstlos und als ich wieder zu mir kam, dachte ich, ich träume. Überall Staub, Rauch, Feuer. Ich tastete mich durch und beeilte mich, zum Krankenhaus zu kommen. Ich habe Angst, dass jetzt noch mehr von diesen Anschlägen passieren. Ich hoffe, dass unsere Regierung es schafft, die Bedrohung abzuwenden."
Mit einem afghanischen Begleiter stapfe ich durch den Schutt, der noch heute, zweieinhalb Jahre später, auf der Straße liegt.
"Ich würde sagen, das deutsche Generalkonsulat ist zu 70 Prozent zerstört. Ein Riesenkomplex. Der Eingangsbereich ist völlig zusammengefallen. Glas, Fensterteile sind nach innen geschleudert worden. Ein paar Mauerteile stehen noch. Das Konsulat hat seine Arbeit völlig eingestellt, niemand darf auch nur in die Nähe. Nichts passiert hier mehr."
Wir treffen auf einen Polizisten - der heute für die Bewachung der Ruine zuständig ist, und davor für die Bewachung des Generalkonsulats.
"Gott hat den Deutschen geholfen", sagt uns der Polizist, "deshalb ist niemand von ihnen umgekommen. Aber vier von meinen Kollegen wurden bei dem Anschlag verletzt. Die Teile des zerbombten Lasters sind zwei Kilometer weit geflogen und haben immer noch Leute getötet."
Das Gebäude ist jetzt nur noch eine Ruine. Hier, im Garten des Konsulats, hat mir Martin Schuldes vom Bundesentwicklungsministerium damals die Neuausrichtung der deutschen Afghanistan-Mission erläutert. Fünf Jahre ist das her. Heute traut sich kein deutscher Funktionsträger mehr aus dem deutschen Militärcamp heraus. Sogar das Konsulat ist dorthin, an den Stadtrand umgezogen. Dort gibt es keinen Garten mehr. Dafür aber noch höhere Betonmauern.