Geschichte als Wunscherfüllung
Das Mittelalter ist heutzutage zum Erlebnisthemenpark geworden: Ritterfeste überall und auch in Videospielen dient es als Matrize. Der Mediävist Valentin Groebner zeigt die eher wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Zeit auf und macht dabei deutlich, dass sie oft nur Projektionsfläche für heutige Wünsche ist.
In den siebziger und achtziger Jahren waren Barbara Tuchmans "Der ferne Spiegel" oder Arno Borsts "Lebensformen im Mittelalter" Bestseller. Ausstellungen zur Geschichte der Salier, Ottonen oder Staufer zogen Hunderttausende an.
Mittlerweile ist das Mittelalter ein Teil der populären Kultur geworden: In Büchern und Computerspielen dient es als rauer, aber herzlicher, vor allem aber exotischer Handlungshintergrund. Ritterklausen laden zum Mahl ohne Gabel und Messer, jedoch mit Lätzchen. Feste präsentieren mittelalterliche Gaudi mit Kettenhemd und Burgfräulein. Das Mittelalter ist zum Themenpark geworden. Und es kommt ohne Mittelalterhistoriker aus.
Valentin Groebner, 1962 geborener Mediävist an der Universität Luzern, ließ das nicht ruhen. Er zeigt in seinem Essay "Das Mittelalter hört nicht auf", wie sich das Bild von der Zeit zwischen dem Zerfall des Römischen Reichs und der Entdeckung Amerikas veränderte: Anfangs wurden die Jahre zwischen 500 und 1500 nach Christi von Petrarca als "finstere mittlere Zeit" verworfen, nach 1800 erlebten sie eine steile Karriere.
Das Buch ist zudem eine knappe Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik und steht womöglich am Beginn einer kulturwissenschaftlichen Öffnung des Fachs. Groebner begreift nämlich seine Erlebnisse bei den Demonstrationen gegen die Frankfurter Startbahn West als Re-Inszenierung damals populärer Mittelalter-Topoi, er liest Tolkien und Michal Crichton mit Novalis und kennt sich auch mit Videogames aus.
Für Valentin Groebner ist Geschichte immer "Wunscherfüllung". Die Gegenwart erweckt die Quellen nach ihren Bedürfnissen zum Leben, die Bilder vom Mittelalter sind gesellschaftliche Projektionen. Das Mittelalter verspreche reduzierte Komplexität, es erlaube "eine imaginäre Rückkehr in ein mythisches, eigentliches Selbst", sei ein "Authentizitätsspeicher" für eine sich entfremdet fühlende Gegenwart (was zu dem schönen Satz führt: "Das Volk ist immer Vollkorn"), ein Legitimitätsspeicher insbesondere für Nationen im 19. Jahrhundert, und es verspreche Alterität.
Groebner unterscheidet drei Modi der Vergegenwärtigung von Vergangenheit: Erstens den genealogischen Modus des 19. Jahrhunderts, der nach Vorfahren und Abstammungen suche zur Konstruktion einer früheren nationalen Einheit, einer katholisch-ständischen Harmonie oder einer bürgerlich-egalitären Gemeinschaft. Zweitens den identifikatorischen Modus, mit dem sich Autoren die Vergangenheit anverwandelten. Drittens den fragmentierenden Modus, der das so exotisch gewordene Material dann wie derzeit üblich rekombiniere.
Wer sich an die poststrukturalistische Kritik historischen Erzählens erinnert, dürfte von dieser Aufzählung des rhetorischen Repertoires nicht überrascht sein (wohl aber davon, wie leichthändig sie bei Groebner daherkommt). Ihre Schlagkraft erhält sie durch die Verbindung mit der harschen Kritik am eigenen Fach. Die Mittelalterhistoriker vergrüben sich in monumentalen Editionen, Quellen gälten ihnen als "Feuchtgebiete der wahren Empfindung." Neue Fragestellungen würden marginalisiert, und das Beharren auf einem christlichen Mittelalter blende die vielfältigen Verflechtungen mit der arabischen und der byzantinischen Welt aus.
Mit diesen Passagen steuert der leicht lesbare und für größere Leserkreise interessante Essay in die Gegenwart. So wie Francis Bacon einst das Mittelalter in den Wilden Amerikas und Afrikas erblickt hat, liegt es heute für viele in den islamischen Staaten. Indem Groebner die Öffnung der Mediävistik über die Grenzen Europas hinaus, ihre Auseinandersetzung mit dem Islam und mit der orthodoxen Welt des Mittelalters anmahnt, formuliert er aktuelle Wünsche.
Ihre Erfüllung durch Mittelalterhistoriker wird noch ein wenig dauern, aber Groebner hat sich schon auf den Weg gemacht. Er lernt, verrät er am Ende seines Buches, jetzt Türkisch.
Rezensiert von Jörg Plath
Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen
Verlag C. H. Beck, München 2008
176 Seiten, EUR 19,90
Mittlerweile ist das Mittelalter ein Teil der populären Kultur geworden: In Büchern und Computerspielen dient es als rauer, aber herzlicher, vor allem aber exotischer Handlungshintergrund. Ritterklausen laden zum Mahl ohne Gabel und Messer, jedoch mit Lätzchen. Feste präsentieren mittelalterliche Gaudi mit Kettenhemd und Burgfräulein. Das Mittelalter ist zum Themenpark geworden. Und es kommt ohne Mittelalterhistoriker aus.
Valentin Groebner, 1962 geborener Mediävist an der Universität Luzern, ließ das nicht ruhen. Er zeigt in seinem Essay "Das Mittelalter hört nicht auf", wie sich das Bild von der Zeit zwischen dem Zerfall des Römischen Reichs und der Entdeckung Amerikas veränderte: Anfangs wurden die Jahre zwischen 500 und 1500 nach Christi von Petrarca als "finstere mittlere Zeit" verworfen, nach 1800 erlebten sie eine steile Karriere.
Das Buch ist zudem eine knappe Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik und steht womöglich am Beginn einer kulturwissenschaftlichen Öffnung des Fachs. Groebner begreift nämlich seine Erlebnisse bei den Demonstrationen gegen die Frankfurter Startbahn West als Re-Inszenierung damals populärer Mittelalter-Topoi, er liest Tolkien und Michal Crichton mit Novalis und kennt sich auch mit Videogames aus.
Für Valentin Groebner ist Geschichte immer "Wunscherfüllung". Die Gegenwart erweckt die Quellen nach ihren Bedürfnissen zum Leben, die Bilder vom Mittelalter sind gesellschaftliche Projektionen. Das Mittelalter verspreche reduzierte Komplexität, es erlaube "eine imaginäre Rückkehr in ein mythisches, eigentliches Selbst", sei ein "Authentizitätsspeicher" für eine sich entfremdet fühlende Gegenwart (was zu dem schönen Satz führt: "Das Volk ist immer Vollkorn"), ein Legitimitätsspeicher insbesondere für Nationen im 19. Jahrhundert, und es verspreche Alterität.
Groebner unterscheidet drei Modi der Vergegenwärtigung von Vergangenheit: Erstens den genealogischen Modus des 19. Jahrhunderts, der nach Vorfahren und Abstammungen suche zur Konstruktion einer früheren nationalen Einheit, einer katholisch-ständischen Harmonie oder einer bürgerlich-egalitären Gemeinschaft. Zweitens den identifikatorischen Modus, mit dem sich Autoren die Vergangenheit anverwandelten. Drittens den fragmentierenden Modus, der das so exotisch gewordene Material dann wie derzeit üblich rekombiniere.
Wer sich an die poststrukturalistische Kritik historischen Erzählens erinnert, dürfte von dieser Aufzählung des rhetorischen Repertoires nicht überrascht sein (wohl aber davon, wie leichthändig sie bei Groebner daherkommt). Ihre Schlagkraft erhält sie durch die Verbindung mit der harschen Kritik am eigenen Fach. Die Mittelalterhistoriker vergrüben sich in monumentalen Editionen, Quellen gälten ihnen als "Feuchtgebiete der wahren Empfindung." Neue Fragestellungen würden marginalisiert, und das Beharren auf einem christlichen Mittelalter blende die vielfältigen Verflechtungen mit der arabischen und der byzantinischen Welt aus.
Mit diesen Passagen steuert der leicht lesbare und für größere Leserkreise interessante Essay in die Gegenwart. So wie Francis Bacon einst das Mittelalter in den Wilden Amerikas und Afrikas erblickt hat, liegt es heute für viele in den islamischen Staaten. Indem Groebner die Öffnung der Mediävistik über die Grenzen Europas hinaus, ihre Auseinandersetzung mit dem Islam und mit der orthodoxen Welt des Mittelalters anmahnt, formuliert er aktuelle Wünsche.
Ihre Erfüllung durch Mittelalterhistoriker wird noch ein wenig dauern, aber Groebner hat sich schon auf den Weg gemacht. Er lernt, verrät er am Ende seines Buches, jetzt Türkisch.
Rezensiert von Jörg Plath
Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen
Verlag C. H. Beck, München 2008
176 Seiten, EUR 19,90