Auf verlorenem Posten für den Endsieg
Im Herbst 1944 war das Dritte Reich am Ende, die Alliierten standen bereits an den deutschen Grenzen. Halbwüchsige, ältere Männer und Invaliden sollten nun für die Nazis noch den Endsieg erkämpfen. Heute vor 70 Jahren war der sogenannte Führererlass zur Bildung des Volkssturms unterschriftsreif.
"Es ist in den Gauen des Großdeutschen Reiches aus allen waffenfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren der Deutsche Volkssturm zu bilden. Er wird den Heimatboden mit allen Waffen und Mitteln verteidigen, soweit sie dafür geeignet erscheinen."
So lautete der Kernsatz eines sogenannten Führererlasses vom 25. September 1944. Das NS-Regime mobilisierte sein letztes Aufgebot in dem Krieg, mit dem es Europa überzogen hatte, und der nun auf Deutschland zurückschlug. Die Rote Armee stand kurz vor Ostpreußen. Im Westen hatten Amerikaner und Briten in wenigen Wochen fast ganz Frankreich und Belgien befreit und bei Aachen die deutsche Grenze erreicht. Am 26. September unterzeichnete Adolf Hitler den Erlass. Am selben Tag notierte im fernen Rheinland die Lehrerin Irmgard Besouw:
"Seit heute liegt Wevelinghoven voll Militär. In Grevenbroich ist Hauptverbandsplatz. Ohne Alarm beschossen Tiefflieger gestern das Erftwerk, warfen auch Bomben. In der letzten Nacht flog man vor Schreck aus dem Bett, als die Bomben fielen. Man muss sich daran gewöhnen, dass man an der Front lebt."
Die NS-Propaganda beschwor in dieser Lage die Erinnerung an den Befreiungskrieg gegen Napoleon im Jahr 1813. Schon damals hätten sich bewaffnete Bauern und Bürger im preußischen Landsturm am Kampf gegen die französischen Besatzer beteiligt. Mit entsprechend fanatischer Entschlossenheit sei auch jetzt der Sieg zu erringen. Nicht von ungefähr am 18. Oktober, dem Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, wurde der Volkssturm in Ostpreußen erstmals öffentlich vereidigt. SS-Chef Heinrich Himmler gab die Durchhalteparolen aus.
"Unsere Gegner müssen begreifen lernen: Jeder Kilometer, den sie in unser Land vordringen wollen, wird Ströme ihres Blutes kosten. Jeder Häuserblock einer Stadt, jedes Dorf, jedes Gehöft, jeder Graben, jeder Busch, jeder Wald wird von Männern, Knaben und Greisen und, wenn es sein muss, von Frauen und Mädchen verteidigt."
In den Volkssturm aus Angst vor der Roten Armee
Das waren keine leeren Worte. Halbwüchsige von 15 bis 16 Jahren, Kriegsinvaliden, Herzkranke, für die Wehrmacht Untaugliche, alle sollten zur Waffe greifen. Sechs Millionen Mann, auf dem Papier eine beeindruckende Streitmacht. Doch 70 Prozent zählten zum Zweiten Aufgebot, dessen Angehörige kriegswichtige Berufe ausübten und deshalb nur beschränkt einsatzfähig waren. Um Uniformteile für den Volkssturm zu beschaffen, rief die Partei zu Altkleiderspenden auf. Die Ausrüstung bestand vielfach aus Beutewaffen ohne passende Munition. In einem Fall sollten 80 Volkssturmmänner mit acht Gewehren ins Gefecht. Der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann bilanziert:
"Der Kampfwert dieser Verbände war sehr gering. Das sieht man auch in den internen Analysen. Also, die haben sich da nicht in die Tasche gelogen, also vor allem die Wehrmachtsstäbe: Kampfwert vier oder noch weniger. Selbst die jungen Rekruten, die 17-, 18-Jährigen, die man hier eingezogen hat, auch der Kampfwert dieser jungen Leute in der Sprache der Militärs war sehr gering, und die Überlebenschance dieser Rekruten lag in der Zeit bei sechs oder sieben Wochen."
Im Osten trieb die Sorge, die Angehörigen könnten der Roten Armee in die Hände fallen, viele in den Kampf. Im Westen fehlte dieses Motiv, blieben oft zwei Drittel der Rekrutierten dem Dienst fern. Ob er sich freiwillig zum Volkssturm gemeldet habe, wurde ein 59-Jähriger aus Saarbrücken nach seiner Gefangennahme gefragt.
"Nein, nein nix. Gar nix freiwillig. Ich bin gar nix. In keiner Partei und nix. Ich arbeite als Schlosser."
Immerhin für die NSDAP hatte der Volkssturm einen Sinn. Nicht die Wehrmacht, die Partei hatte das Sagen. Ihre Gau- und Kreisleiter hatten jetzt eine Truppe zum Drillen und Paradieren. In den letzten Kriegsmonaten geboten sie zudem über anderthalb Millionen Zivilisten, die im Grenzgebiet "Schanzen", also Gräben ausheben mussten. Je weniger Zeit dem Regime blieb, umso fester hatte es die Menschen im Griff. Die Rheinländerin Irmgard Besouw notierte Anfang November 1944:
"Man hetzt uns von einem Einsatz zum anderen. Täglich schmiere ich noch Butterbrote für die Schanzer. Nachmittags musste ich auf dem Rathaus die Volkssturmkartei aufstellen. Morgen müssen alle Lehrpersonen von 9 Uhr bis 20 Uhr die Meldungen für den Volkssturm entgegen nehmen. Im Übrigen rennen wir in den Keller oder bleiben auch oben. Es gibt Augenblicke, wo ich mich nach der erlösenden Bombe sehne."