Jahrhunderte des Menschenhandels
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Die Geschichte der Sklaverei beginnt lange vor der Kolonialzeit. Auch islamische Herrscher haben Menschen versklavt. Ihre Geschichte ist noch aufzuarbeiten, doch sie entlässt Europa nicht aus der Verantwortung.
Seit dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd im Mai 2020 und den Black-Lives-Matter-Protesten in den USA wird auch in Deutschland verstärkt über die bis heute anhaltenden Folgen von Kolonialismus und Sklaverei diskutiert. Erst im August wurde in Berlin nach jahrelangen Protesten beschlossen, die "Mohrenstraße" in "Anton-Wilhelm-Amo-Straße" umzubenennen: nach dem ersten bekannten schwarzen Philosophen Deutschlands, einem ehemaligen Sklaven.
Debatten über Sklaverei vor der Kolonialzeit
Nicht alle sind begeistert von diesen Entwicklungen. Auf Twitter finden sich als Reaktion auf solche Nachrichten auch Aussagen, die geltend machen, dass es Sklaverei schon gegeben habe, als "von westlichen Zivilisationen noch keine Rede" gewesen sei - und dass Muslime dabei eine wesentliche Rolle gespielt hätten. "In Afrika haben Muslime (...) den Sklavenhandel aufrechterhalten", lautet ein Kommentar. Ein anderer: "Die größten Sklavenhändler waren die Araber!"
Historiker über "muslimischen Sklavenhandel"
Andererseits: Die Forderung, nicht-europäische Formen des Sklavenhandels ebenfalls in den Blick zu nehmen, kommt nicht nur von rechten Relativierern, sondern zum Beispiel auch von schwarzen Wissenschaftlern und teilweise sogar von Muslimen selbst.
So argumentierte etwa der französisch-senegalesische Anthropologe Tidiane N'Diaye schon 2014 im ZDF: "Der muslimische Sklavenhandel war der längste in der Geschichte der Menschheit. Er währte 13 Jahrhunderte und hatte viel mehr Opfer als der Sklavenhandel nach Amerika, der 400 Jahre dauerte."
Hat N’Diaye recht? War der "verschleierte Völkermord", wie er es in seinem Buch nennt, die eigentliche Katastrophe für den afrikanischen Kontinent? Der Göttinger Ethnologe Roman Loimeier, der zu muslimischen Gesellschaften in Nordafrika forscht, widerspricht: "Ich würde die These vollkommen ablehnen, und ich würde zunächst mal sagen, dass es nicht legitim ist, von einem christlichen oder europäischen oder von einem muslimischen Sklavenhandel zu sprechen, sondern dass man immer sehr genau differenzieren muss, wer Sklaven gehandelt hat."
Handelsrouten quer durch die Sahara
Denn genauso wie nicht alle Europäer Sklaven gehandelt hätten, seien auch frühere Formen des Sklavenhandels nicht genuin "muslimisch" gewesen, so Loimeier. Schon die alten Ägypter hielten Sklaven, auch im Römischen Reich und im antiken Griechenland gehörten sie zum Alltag.
Die Muslime, die ab dem 7. Jahrhundert den Norden Afrikas eroberten, übernahmen diese Praxis. Bedeutende Handelsrouten führten über die Jahrhunderte quer durch die Sahara. Von der ostafrikanischen Küste wurden Sklaven über das Rote Meer oder den indischen Ozean verschleppt und auf der arabischen Halbinsel verkauft – oder sogar bis nach Indien gebracht, erklärt Loimeier: "Und zwar historisch auch so viele, dass sich im 14./15. Jahrhundert in Indien sogar afrikanische Sklavenstaaten gebildet haben, die im historischen Bewusstsein eben bei uns auch nicht präsent sind."
Ebenfalls oft vergessen wird, dass es auch einen innerafrikanischen Sklavenhandel gab. Auch Menschen aus dem subsaharischen Afrika, ob muslimisch oder nicht, nahmen Sklaven gefangen und verkauften diese weiter – an andere Afrikaner, an Araber und später auch an die Europäer.
Welche dieser Formen des Sklavenhandels für Afrika am schlimmsten gewesen sei, lasse sich heute wohl gar nicht mehr beurteilen, so Loimeier: "Der transatlantische Sklavenhandel ist relativ gut untersucht. Hier geht man davon aus, dass etwa zehn bis zwölf Millionen Sklaven zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert in den Amerikas angekommen sind. Aber vergleichbare Zahlen weiß man über die anderen Handelsrouten eben nicht. Deswegen ist alles, was diese anderen Handelsströme angeht, reine Spekulation."
Koran mahnt, Sklaven gut zu behandeln
Vergleiche ziehen jedoch nicht nur die, die den transatlantischen Sklavenhandel relativieren wollen. Auch viele Muslime argumentieren: Der Islam habe den Status von Sklaven im Vergleich zur vorislamischen Zeit entscheidend verbessert – und ziele eigentlich darauf ab, Sklaven zu befreien.
In der Tat gibt es im Koran viele Stellen, die die Gläubigen anweisen, Sklaven gut zu behandeln. Anders als etwa im römischen Recht sind Sklaven im muslimischen Recht nicht nur "res", also Dinge, sondern auch Menschen. Zudem wird das Freilassen von Sklaven als eine der besten Taten angesehen. Viele Muslime führen auch die Praxis des Propheten Muhammad als beispielhaft an. Dieser habe zwar auch selbst Sklaven besessen, soll aber unter anderem gesagt haben:
"Eure Sklaven sind eure Brüder! Allah hat euch die Oberhand über sie gegeben. Wer dann die Oberhand über seinen Bruder hat, der soll ihm etwas zu essen geben, von dem er selbst isst, und ihm als Kleidung geben, von der er sich selbst kleidet. Traget ihnen nicht das auf, was über ihre Kraft hinaus geht, und wenn ihr ihnen etwas auftraget, das über ihre Kraft hinaus geht, so helft ihnen dabei!"
Ali Ghandour, islamischer Theologe, warnt dennoch davor, die muslimische Praxis zu romantisieren. "Theoretisch betrachtet haben Sklaven im klassischen muslimischen Recht mehr Rechte als die Sklaven jetzt in Südamerika oder Nordamerika. Die Sklaverei war unter Muslimen nicht mit biologistischen Rassentheorien begründet", sagt Ghandour. "Aber man darf auch nicht die muslimische Praxis als etwas Besseres darstellen. Denn ansonsten finden wir fast die gleichen Phänomene, also Massendeportation von Menschen, sehr harte Arbeiten, die sie verrichtet haben. Die Rechte, die man in der Theorie findet, wurden nicht immer umgesetzt."
Rassismus des kolonialen Sklavenhandels wirkt bis heute nach
Für Tahir Della gibt es dennoch einen wichtigen Unterschied. Der transatlantische Sklavenhandel gründete auf einem rassistischen System, das bis heute nachwirkt: "Schwarze Menschen, Menschen afrikanischer Herkunft wurden sozusagen degradiert auf eine tierähnliche Ebene, also komplett entmenschlicht. Ihnen wurde jede Kulturfähigkeit abgesprochen, jede Möglichkeit zivilisiertes Leben zu organisieren, Gesellschaften zu organisieren und darauf basierend wurden eben Menschen versklavt."
Unter muslimischer Herrschaft konnte das Los der Sklaverei hingegen fast jeden treffen, unabhängig von der Hautfarbe. Die Araber und später die Osmanen versklavten auch weiße Zentral- und Osteuropäer, setzten sie als Diener, Konkubinen oder Soldaten ein.
Doch auch wenn das rassistische System als Grundlage fehlt und die Formen der Sklaverei vielfältiger waren: Für viele Betroffene war die Versklavung sicher nicht allein deshalb weniger schlimm, weil ihre Besitzer Muslime waren. Tahir Della ist selbst als junger Mann zum Islam konvertiert. Würde er sich von Muslimen einen kritischeren Umgang mit der eigenen Geschichte wünschen? "Ich als Moslem würde sagen: Ja, unbedingt. Was in den Schriften steht, das geht in die richtige Richtung. Ich würde aber auch sagen, dass die Realitäten natürlich auch anders aussahen."
Anspruch und Wirklichkeit
Dass Anspruch und Wirklichkeit nicht immer zusammenpassten - das traf allerdings nicht nur auf die Muslime zu. Auch bei den Europäern klafften Theorie und Praxis oft weit auseinander. Seit dem 18. Jahrhundert wurden auch in Europa allmählich Stimmen laut, die eine Abschaffung der Sklaverei forderten. 1807 verbot etwa England zunächst den Handel mit Sklaven, knapp 30 Jahre später dann auch die Sklavenhaltung selbst. 1848 folgte – nach einigem Hin und Her – Frankreich.
Die Europäer hatten die Sklaverei selbst kaum hinter sich gelassen, da begannen sie, mit dieser Tatsache neue koloniale Projekte zu rechtfertigen. "In der Tat wurden koloniale Unternehmungen in Nordafrika, in Westafrika und im Nahen Osten damit begründet, dass man hier damit gegen den Sklavenhandel kämpft", sagt Roman Loimeier.
Kolonialismus im Namen der Abschaffung von Sklaverei
Der Berliner Historiker und Afrikawissenschaftler Andreas Eckert hält abolitionistische Rhetorik sogar für eine "zentrale Rechtfertigungsstrategie" des Kolonialismus. In einem Essay für die Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" schreibt er: "Der politische Kampf gegen Sklavenhandel und Sklaverei, der in den 1780er Jahren begann, führte gleichsam in die Kolonisierung Afrikas ein Jahrhundert darauf."
Wer heute in Debatten um das koloniale Erbe Deutschlands mit dem Finger auf die arabisch-islamische Geschichte zeigt, sollte sich dieser imperialen Tradition bewusst sein – und vielleicht erst mal vor der eigenen Türe kehren, rät Tahir Della: "Die europäischen Gesellschaften sind gut beraten, sich endlich mal verantwortlich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen anstatt immer wieder Ablenkungsmanöver zu versuchen, indem man sagt: 'Ja, das haben ja andere auch gemacht', oder: 'Andere waren viel schlimmer', sondern sich selbst mal in den Blick zu nehmen, anstatt eben auf andere zu deuten."