Das Rennen gegen die Stasi
Trotz der Vergünstigungen als DDR-Spitzensportler wollte der Radfahrer Dieter Wiedemann in die BRD - auch der Liebe wegen. Er flüchtet und lebt in Westdeutschland mit der Angst, von der Stasi gekidnappt zu werden.
Der 4. Juli 1964. Einen Tag vor dem Ausscheidungsrennen in Gießen, um die letzte gesamtdeutsche Rennrad-Olympiamannschaft für die Spiele in Tokio zu bilden. Dieter Wiedemann will eine Zukunft im Westen, endlich wieder an Rad-Weltmeisterschaften teilnehmen, von denen DDR Radsportler durch einen Nato-Beschluss nach dem Mauerbau 1961 ausgeschlossen sind.
"Ich selbst hatte ja auch ein Leben. Und das Leben war eben für mich trotz der Vergünstigungen als Spitzensportler in der DDR nicht lebenswert."
Die DDR-Radsportler stehen unter Dauerbeobachtung. Im Bus aus dem Osten sitzen neben 17 Athleten, Mechanikern und Trainern 30 Stasileute. Dieter Wiedemann gelingt es dennoch, ein Telegramm an seine spätere Frau Silvia zu schicken. Die lebt noch bei ihren Eltern in Mitterteich in der Oberpfalz.
"Nachdem wir in unserem Hotel gegessen hatten, bin ich rüber zum Bahnhof und hab ein Telegramm geschickt. Hab da nur drauf geschrieben: Samstag, 14 Uhr, Bahnhof Gießen."
Vier Jahre vorher hatten sich die beiden in Chemnitz kennen gelernt. Sie schreiben sich viele Briefe. Nur ein einziges Mal sehen sie sich. Aus der Brieffreundschaft wird Liebe. Anfang Juli 1964. Die Tage in Gießen sind straff durchorganisiert. Nur zwei Stunden, zwischen 14 und 16 Uhr vor dem Renntag haben die Athleten, für sich. Die Funktionäre aus Ost und West sitzen wegen der Rennregularien beieinander
"Ich hatte gesehen: Unser Hotel war unweit des Bahnhofes in Gießen. Da bin ich zu Fuß, schlendernd, immer so vor ein Geschäft, ein paar Meter gegangen, wieder stehengeblieben, als würde ich mir die Geschäfte anschau, bin ich da bis zum Bahnhof gegangen. Und da waren dann meine späteren Schwiegereltern, und Silvia war da. Und dann haben wir uns kurz besprochen. Ich hab gesagt: O.K: Ich nochmal kurz zurück und hole meinen Pass und meine persönlichen Utensilien und mein Fahrrad und sag dem Mechaniker, ich will noch eine kurze Trainingsausfahrt machen. Und das hab ich auch getan. Das war der Abschied von der Mannschaft."
Erster Job in Schweinfurth
Alles klappt, genau so, wie es sich Dieter Wiedemann ausgemalt hat.
"Da war der Puls schon ziemlich hoch. Sachen zusammengepackt, runter in die Tiefgarage, zum Mechaniker, zum Winkler Erich, und ich sag: Gib mir mal mein Rad, ne Stunde fahr ich noch."
Kurz darauf kommt Dieter Wiedemann zum vereinbarten Treffpunkt. Hier stehen schon seine spätere Frau Silvia und seine Schwiegereltern. Er montiert in Windeseile sein Rennrad auseinander, packt es in den Kofferraum und die vier verlassen Gießen.
Die Medien erfahren von der Flucht nichts. Im Gegenteil. Silvia versteckt den DDR Elitefahrer über Wochen in ihrem Elternhaus in Mitterteich. Der Grund: Das Paar vermutet, dass die Stasi verdeckt im Bundesgebiet nach dem Republikflüchtling sucht. Die beiden haben Angst, dass Dieter von Stasi-Agenten entführt und zurück in die DDR gebracht werden könnte
Der wollte mich am Abend immer am Geschäft abholen. Ich hab ihm dann verboten zu kommen. Hab gesagt: Du bleibst zu Hause bei meinen Eltern, da bist Du in Sicherheit. Ich hab da keine Lust, dass die ganze Arbeit umsonst war und dass Du da wieder abgefangen wirst. Die Angst war schon am Anfang da.
Ein Jahr später startet Dieter Wiedemann für die Bundesrepublik Deutschland bei der Rad-WM in Spanien. 1967 fährt er die Tour de France.
In Schweinfurt bekommt der Radsportler dann seinen ersten Job. Zum Training fährt er am Wochenende die rund 200 Kilometer zu seiner späteren Frau nach Mitterteich. Dann heiraten die beiden und ziehen nach Euerbach bei Schweinfurt. Jahre noch versucht die Stasi Dieter Wiedemann zurückzuholen.
"Bis 1974 haben die daran gearbeitet, dass ich in die DDR zurückkehre. Dass ich Agent werde, abgeworben werde oder Kidnapping, ich weiß nicht, was in deren Köpfen alles vorgefallen ist."
Trainingsfahrten in die Rhön, ins Grabfeld oder in die Haßberge meidet Dieter Wiedemann. Die hügeligen und für Trainingsfahrten an sich ideale Landschaften liegen nach dem Geschmack von Dieter Wiedemann zu nah an der Zonengrenze. Und gefühlt zu nah an möglichen Stasiagenten.
"Die Grenze habe ich am Anfang gemieden wie die Pest. Dass die Staatssicherheit zu allem fähig war, darüber war ich mir sicher, als ich noch im Osten war."