Die Kunst des Erinnerns
Erinnerungskultur oder Gedächtnisorte - diese Begriffe sind zu einem gängigen Label verkommen, sagen Historiker. Schuld daran sind auch die Verlage, die den Buchmarkt mit entsprechenden Titeln überschwemmt haben.
Ein Schattentheater von Christian Boltanski ist in der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin zu sehen, eine Inszenierung in zwei Ebenen: hier die objekthaften Scherenschnittfiguren, dort ihre metaphysischen Silhouetten. Der französische Künstler reiht gerne auch Flohmarktfotos in großen Tableaus oder häuft gebrauchte Kleidungsstücke zu Riesenbündeln - er sieht darin Spuren ganz gewöhnlicher, banaler Lebensläufe. Aber bei der Finissage seiner Ausstellung, in einer Podiumsdiskussion über "Den Umgang mit der Vergangenheit" rückte Boltanski wieder einmal auf zum "Klassiker der Erinnerungskunst". Doch dann stellte der Historiker Martin Sabrow die positiven Konnotationen des Begriffs Erinnerung infrage: Er hatte selbst ein Buch beisteuern sollen zur ausufernden Serie von Titeln, die "Erinnerungsorten" in Frankreich, Deutschland, einzelnen Regionen oder eben bei Sabrow der DDR gewidmet sind:
"Dann habe ich mich natürlich geweigert, den Begriff 'Erinnerungsorte' zu nehmen und habe von "Gedächtnisorten" geredet, weil der Begriff 'Erinnerung' so parteinehmend ist. Als sei Erinnerung etwas wirklich Schönes. Und alles dann fertig war, im Kasten, sagte dann der Cheflektor: Und wenn das Ding nicht 'Erinnerungsorte' heißt, dann kommt das Buch nicht raus."
Für den Geschichtsprofessor Bernhard Jussen steckt nicht nur verlegerisches Kalkül hinter dem inflationären Gebrauch eines zur Spielmarke, zum gängigen Label verkommenen Begriffs:
"Also der Hype der Erinnerungskultur oder der Gedächtnisorte, der ist eine ganze Generation alt. Das ist das Stichwort der letzten Generation gewesen. Und ich habe genau wie sie an der Vercoffeetablung dieses Themas teilgenommen. Der Beck Verlag weiß, dass er das Thema ruiniert hat, das sagen die heute auch."
Jussen, der am Göttinger Max-Planck-Institut die Reihe "Von der künstlerischen Produktion der Geschichte" initiierte, hat selbst den Dialog mit den Künstlern dieser Generation geführt: Mit Jochen Gerz oder Patrick Poirier, die in Installationen noch auf die eigenen Erfahrungen der Bunkernächte im brennenden Berlin oder den Anblick der amerikanischen Befreier in der zerstörten Heimatstadt Nantes zurückgreifen konnten. Oder mit Hanne Darboven, die sich mit endlosen Schreibexerzitien die durch den Nationalsozialismus stigmatisierten kulturellen Traditionen wieder aneignete. Aber diese Strategien der Archäologie, des Archivierens scheinen nicht mehr en vogue. Und das beginnt - so hat der ehemalige Geschichtslehrer Martin Sabrow beobachtet - bereits in der Schule, wo der einheitliche Kanon verbindlicher Historie längst passé ist:
"Wie haben sie gesagt? Alle lernen aus denselben Büchern. Nein, das stimmt nicht mehr. Heute kommen Schüler in die Schule, die haben noch nie ein Buch zusammenhängend gelesen, aber sie haben sich auf Youtube ein Bild zusammengefälscht. Jeder kann sich seine Geschichte selbst zusammenstellen. Und man kann natürlich mit einer Erweiterungsapp auch die Battle of Britain gewonnen haben, da muss man eben mal drei Euro mehr zahlen."
Bruch in den Erinnerungskulturen
Der Mediävist, also der Mittelalter-Experte Jussen sieht das Problem von Digitalisierung und medialer Vermarktung der Geschichte distanzierter, geht es grundlegender, mit ganz praktischen Folgerungen aus der Wissenschaftstheorie an - und empfiehlt:
"Wie beobachte ich mich als Akteur und Zeitgenosse selbst. Die in meinen Augen fruchtbarste Weise das zu tun ist: Ich schaue in Paralleldiskurse. Ich schaue mir an, was in der Zeit, wo ich mit meinen Fachkollegen streite, eigentlich im Theater und im Museum passiert. Mir ist Musik zu kompliziert, aber da geht es natürlich auch."
Auch die bildende Kunst, die Arbeiten von Christian Boltanski, wären Anstoß zu solch einem Paralleldiskurs. Andererseits analysiert Martin Sabrow auf europäischer Ebene eine strikte Unterscheidung, fast schon einen Bruch in den Erinnerungskulturen. Nicht überall ist Geschichtspolitik gleichbedeutend mit Anerkennung von Brüchen und Irrtümern, mit Lehren aus der Geschichte:
"Andere Kulturen sind nicht kathartisch, sondern mimetisch verfasst. Sie setzen darauf, dass wir die Schlacht am Amselfeld nie, aber nie vergessen. Und nicht die dritte polnische Teilung und nicht die vierte polnische Teilung. Und dass sie deswegen den Ukraine-Konflikt anders anschauen, als man es aus Westeuropa sieht. Und diese Unterscheidung von Stolz- und Schamkultur führt dazu, dass wir heute Geschichte anders verstehen, dass wir andere Denkmäler bauen und auch Denkmäler anders ansehen."
Da allerdings hätte der Moderator Christian Demand einhaken sollen. Hat er doch als Herausgeber des "Merkur" jüngst darauf hingewiesen, welche eklatanten Brüche in der Betrachtung einer ganz speziellen Erinnerungskunst zwischen Berlin und München sich auftun: Die in privater Initiative vom Künstler Günter Demnig zur Erinnerung an jüdische Opfer des Nationalsozialismus verlegten "Stolpersteine" prägen in Berlin das Straßenbild. In München dagegen sind sie aufgrund eines Stadtratsbeschlusses untersagt, weil man über diese Gedenksteine nach kurzer Zeit "achtlos hinweggeht" - und weil es exponiertere Orte gibt. Womöglich Museen?