José Brunner, Doron Avraham, Marianne Zepp (Hg.): Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
256 Seiten, 34 Euro
Dimensionen der Gewalt
In dem vorliegenden Sammelband beschreiben Historiker, welche Formen der Gewalt es in der politischen Geschichte Deutschlands gab - und wie sie das Land verändert haben.
"Politische Gewalt in Deutschland" - für Herausgeber und Autoren ein Gegenstand mit zahllosen Facetten.
"Ziel dieses Bandes ist es, einen Einblick in die Vielfalt der kulturellen Figurationen der Gewalt in den letzten zweihundert Jahren deutscher Geschichte zu vermitteln."
Die Vielfalt erklärt sich auch aus der Entstehung des Buches. Es dokumentiert eine deutsch-israelische Historikerkonferenz der Universität Tel Aviv zum 80. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme. Abgedruckt sind zwölf Beiträge in deutscher und englischer Sprache, je zwei für Kaiserreich und Weimarer Republik, drei für die Periode des Dritten Reiches, die übrigen für die Nachkriegszeit.
Was macht den besonderen Gewaltcharakter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus? Für den israelischen Historiker Ishay Landa sind es nicht die Weltkriege. Es ist etwas viel Grundsätzlicheres: In den europäischen Gesellschaften, nicht zuletzt der deutschen standen damals ein Kriegslager und ein Friedenslager einander in scharfem Konflikt gegenüber.
"In dieser Periode zeigt sich ein vielleicht beispielloses Phänomen, ein umfassender Krieg gegen den Frieden. Die Angriffe richteten sich gegen den Frieden als Realität, als Konzept und als Ideal."
Der These, dies sei der entzivilisierenden Wirkung des Ersten Weltkrieges zuzuschreiben, widerspricht Landa. Er sieht die Ursachen tief im 19. Jahrhundert, in der Furcht der gesellschaftlichen Eliten vor den unteren Schichten. Keineswegs vor gewaltsamem Umsturz, ganz im Gegenteil: Bedroht fühlten sich die Eliten durch den friedlichen Prozess politischer Emanzipation und ökonomischer Teilhabe der verachteten Volksmassen.
Dieser war aus ihrer Sicht nur durch Gewalt zu stoppen. Der Enthusiasmus, mit dem namhafte Intellektuelle im Sommer 1914 den Ersten Weltkrieg begrüßten, erkläre sich aus dieser Mentalität.
"Zwei Weltkriege und der Faschismus der Zwischenkriegszeit sind nicht zuletzt als Gegenangriff zu verstehen, als verzweifelter Versuch, das Kräfteverhältnis zurechtzurücken, den Vormarsch der Massen aufzuhalten und die Entstehung der gefürchteten Massengesellschaft zu verhindern."
Gewaltszenarien in der Weimarer Republik
An einen heute kaum mehr geläufigen Aspekt der Weimarer Republik, ihre gewalttätige politische Kultur, erinnert Shulamit Volkov, langjährige Professorin für neuere Geschichte in Tel Aviv. Sie zitiert eine Statistik, die für den Zeitraum bis 1922 nicht weniger als 376 politische Morde registriert. Militärs und Freikorps verübten Massaker an aufständischen Arbeitern. Rechtsextreme versuchten, die junge Demokratie durch Attentate auf ihre politische Prominenz zu destabilisieren.
Eine Wiederkehr des Gewaltszenarios erlebte die Republik in ihren letzten Jahren ab 1929, allerdings unter veränderten Vorzeichen. Jetzt standen nicht mehr uniformierte Ordnungskräfte gegen aufständische Zivilisten. Es waren die Parteimilizen von Nazis und Kommunisten, die den Konflikt austrugen, während der Staat hilflos beiseite stand. Allein in Preußen wurden 1930 von Januar bis November 61 Tote gezählt, im Jahr darauf 99.
Das deutsche Kaiserreich, so das Fazit, sei noch ein respektabler Rechtsstaat gewesen, die Weimarer Republik hingegen weithin von Gewalt geprägt. Diese habe sich unter den Nazis freilich ausgeweitet und radikalisiert.
Dass dabei nicht nur von physischer Gewalt die Rede sein kann, betont der in den USA lehrende, deutsche Historiker Thomas Pegelow Kaplan in seinem Beitrag über die Rolle des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins im Dritten Reich. Der bildungsbürgerlich geprägte Verein, gegründet 1885, machte sich unter der Naziherrschaft für die "Entjudung" der deutschen Sprache stark und propagierte eine Terminologie der Ausgrenzung sogenannter Nichtarier. Er verübte damit – so der Autor – "sprachliche Gewalt" gegen die jüdische Bevölkerung.
"Unter sprachlicher Gewalt wird hier der diskursive Prozess der Isolierung und Herstellung von Opfergruppen verstanden. Dieser Prozess verursacht sprachliche Verletzungen, indem Individuen und Gemeinschaften die Selbstkontrolle entzogen und die Bestimmung ihres eigenen Selbstverständnisses verweigert werden."
Politische Gewalt in allen Facetten
Das Kino als Schauplatz politischer Gewalt – der Beitrag des Potsdamer Filmhistorikers Tobias Ebbrecht-Hartmann ruft halbwegs vergessene Episoden aus der frühen Bundesrepublik in Erinnerung. Zu Beginn der 50er-Jahre lösten Vorführungen von Filmen der Nazi-Regisseure Veit Harlan und Johannes Häußler massive, zum Teil von Randale und Polizeieinsätzen begleitete Proteste aus. In den 70ern legten Linksterroristen Bomben in zwei Kinos, die einen US-Film über das Geiseldrama von Entebbe zeigten.
Mit dem Umsturz in der DDR befasst sich der in Michigan lehrende Historiker Andrew Port. Er hinterfragt die gängige Kennzeichnung als "friedliche Revolution" und sieht darin eine Verharmlosung, die auch dem Mut der Beteiligten Unrecht tue. Schließlich sei die Anfangsphase bis zum 8. Oktober von massiver Gewalt der Sicherheitskräfte geprägt gewesen. Dass es nicht schlimmer kam, sei vor allem der friedfertigen Haltung der Demonstranten zu verdanken.
Zu einer "Kulturgeschichte der Gewalt in Deutschland" wollen die Herausgeber beitragen. Über manche These lässt sich streiten, über Jost Dülffers Vorschlag etwa, die Politik des Dritten Reiches in der Sudetenkrise im Licht eines Begriffes unserer Gegenwart, der "humanitären Intervention", zu beschreiben. Das indes ist die Qualität dieses Sammelbands, dass er zu Diskussionen anregt und auch ungewohnte Perspektiven auf die Vergangenheit eröffnet.