Die Vergessenen ins Leben zurückrufen
In Paris entdeckte die polnische Theaterregisseurin Justyna Wojtyniak ihre jüdischen Wurzeln. Auf der Bühne widmet sie sich Polens jüdischer Vergangenheit. Denn in ihrer polnischen Heimat würden die Juden aus der Geschichte ausgeschlossen.
Glücklich werden in Paris: Justyna Wojtyniak hat dazu 15 Jahre gebraucht. Nachdem sie an der Krakauer Jagiellonen Universität Literatur- und Theaterwissenschaft studierte, kam sie 2002 nach Paris. Sie setzte hier ihr Studium der Dramaturgie fort und ist nie nach Krakau zurückgekehrt. In Paris hatte sie erstmal Gelegenheitsjobs. Zehn Jahre hat sie bei verschiedenen Kultureinrichtungen um Unterstützung gebeten.
Währenddessen hat sie an sich selbst intensiv gearbeitet und sich professionalisiert. Bis sie vor sechs Jahren einen künstlerischen Wettbewerb gewann und von verschiedenen Kulturförderern von Paris wahrgenommen wurde. Die Stadt unterstützte sie mit einem Theatersaal, wo sie mit einer Gruppe experimentelles Theater proben konnte.
Tiefe Beziehung zur polnisch-jüdischen Geschichte
"Mein Theaterforum ist nicht einfach. Ich mache kein populäres Theater. Vor allem arbeite ich an dem Körperausdruck eines Schauspielers und an allen somatischen Techniken. Das alles soll die Schauspieler für ihr Unterbewusstsein öffnen und ermöglichen, daraus zu schöpfen. Ich sage nicht ´gehe nach links oder nach rechts und mache dies oder das`. Der Schauspieler entwickelt seine Rolle eigenständig und ich wähle aus, was mir passt. Das Abenteuer und das gemeinsame Entdecken interessieren mich dabei sehr."
Paradoxerweise entdeckte Wojtyniak erst in Paris ihre tiefe Beziehung zur polnisch-jüdischen Geschichte. Daher ist der Name ihrer Theatergruppe Programm: "Retour d’Ulysse" – das bedeutet "die Rückkehr des mythologischen Odysseus", der nach einer zehnjährigen Irrfahrt endlich heimkehrt. So kehrt auch die inzwischen 40-jährige Wojtyniak zu ihren Wurzeln zurück und kritisiert die polnische Geschichtsschreibung zum Thema Juden.
"Ich nenne es eine ´Wunde nach der Stille`, ein ´grausames Unrecht`. Nur die Erinnerung kann die Vergessenen ins Leben zurückrufen, sie rehabilitieren und sich selbst von den Geistern der Vergangenheit befreien. Ich kann’s nicht verstehen, wie die polnische Nation ihre jüdischen Nachbarn so spurenlos verschwinden ließ."
Nur ein Zehntel der polnischen Juden überlebte
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten in Polen knapp dreieinhalb Millionen Juden. Sie waren die größte Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens in Europa. Nur ein Zehntel von ihnen überlebte die Schreckensherrschaft der Nazis. Die meisten davon verließen Polen in der Zeit danach, denn auch in der Kommunistischen Partei wuchs der Antisemitismus. Dariusz Stola, Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, unterstreicht:
"Die Juden gehören zur polnischen Geschichte. Wer die vergangene Völkervielfalt dieses Landes vergisst, behindert es. Auch die jüdische Geschichte ohne Polen ist unvollkommen."
Als wache Kritikerin des politischen und sozialen Lebens in Polen regt die Humanistin Maria Janion ethische Debatten an. Einmal schrieb sie: "Nach Europa, klar, aber nur mit unseren Toten". Damit meinte sie die Juden, die das über 1000-jährige kulturelle Bild Polens mitgeprägt haben. Doch Janion bleibt optimistisch:
"Unsere Toten sind nicht nur die Juden, aber vor allem die Juden. Sie wurden aus der polnischen Geschichte ausgeschlossen. Inzwischen werden sie wieder berücksichtigt."
Ausschluss der Juden aus der Geschichte
Gegen den Ausschluss der Juden aus der Geschichte tritt auch Justyna Wojtyniak ein. Dabei hilft ihr das Theaterstück von Tadeusz Słobodzianek – "Unsere Klasse. Eine Geschichte in vierzehn Lehrstunden". Es erzählt die Geschichte von Jedwabne, in dem am 10. Juli 1941 ca. 340 der jüdischen Bewohner der Stadt von ihren Nachbarn ermordet wurden. Das Stück löste eine Debatte über Antisemitismus in Polen aus und verhalf, die verdrängte und negierte Geschichte zu revidieren. Zurecht, meint Wojtyniak:
"Die Lebenden sind den Toten gegenüber verpflichtet. Davon bin ich überzeugt! Die Geister schreien nach Befreiung. So versuche ich also die Geister zu befreien, das ist meine künstlerische Berufung. Und so war auch meine Arbeit an dem Theaterstück. Es war wie eine Anamnese für mich. Wir haben uns der Vergangenheit gestellt und es hat uns alle politisch und emotionell verändert. Es half uns unsere politische Haltung in dem Europa rechtspopulistischer Töne zu finden. Im Endeffekt machte es bessere Menschen aus uns."
Eine Welt zwischen Leben und Tod
Wojtyniaks Inszenierung von "Unsere Klasse" ist ein besonderes Kaddisch, eine romantische Ahnenfeier, ein Ritual der Erinnerung. Die Schauspieler schaffen eine Welt zwischen Leben und Tod. Sie ziehen verschiedene Kleider an, wie ein Dibbuk – nach jüdischem Volksglauben ein oft böser Totengeist –, der in den Körper eines Lebenden eintritt und ihn quält. Sie werden zum Sprachrohr der Geister ihrer Protagonisten. Am Ende soll das Publikum seine private, befreiende Katharsis erleben.
Und Justyna Wojtyniak? – Sie fühlt Liebe und Glück und Freiheit. Und Erfolg. In Paris.