Geschichte

Nachdenken und Nachforschen

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Das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors beruht auf Reinhard Rürup. © picture alliance / dpa
Von Klaus Pokatzky |
Einer der renommiertesten deutschen Zeithistoriker schreibt über Geschichte und Nachgeschichte des NS-Regimes. Die langjährigen Erfahrungen des Autors im Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus bilden die Grundlage dieses Bandes. Reinhard Rürup stellt die historischen Ereignisse und Prozesse, die für ein angemessenes Verständnis des NS-Regimes besonderes Gewicht haben, ebenso präzise wie anschaulich dar.
Reinhard Rürup wird 80. Reinhard Rürup? Nicht jeder weiß auf Anhieb, dass das der Historiker ist, der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass es in Berlin die Gedenkstätte "Topographie des Terrors" gibt - an dem Ort, an dem einst die Gestapo und Teile der SS ihren Sitz hatten. Reinhard Rürup war bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor an der Technischen Universität Berlin und der Ostwestfale gehört nicht zu den Vertretern seiner gelegentlich doch recht eitlen Zunft, die sich permanent (und zuweilen penetrant) öffentlichkeitswirksam in Szene setzen.
Geschichtspolitik, die Verarbeitung des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland: das war Rürups zentrales Thema, und in dem Band, der nun zu seinem 80. Geburtstag erscheint, wird noch einmal deutlich, wie lang der Weg zur offenen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen war. Einige Beiträge hat Rürup neu geschrieben, andere dokumentieren sein geschichtswissenschaftliches Engagement früherer Jahre.
Ins Stammbuch der Wissenschaft geschrieben
Im Wallstein-Verlag, in dem der Band erscheint, hatte er bereits eine 17-bändige Reihe über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (die Vorgängerin der Max-Planck-Gesellschaft) herausgegeben – über die Verstrickung der Wissenschaft in die Verbrechen der Zwangssterilisation und die Morde in den Krankenanstalten: "Eine moralische Entgrenzung der Wissenschaft, wie es sie bis dahin in Deutschland und auch in anderen Ländern noch nicht gegeben hatte" – das schilderte Reinhard Rürup 2009 auf der Jahresversammlung der Verwaltungsleiter der Max-Planck-Institute in Potsdam. Und schrieb den versammelten Wissenschaftlern ins Stammbuch, dass es auch bei ihnen "mehr als 50 Jahre" gedauert hatte, "ehe mit dem Nachdenken und Nachforschen ernsthaft begonnen worden ist".
Es sind überwiegend solche Vorträge aus den letzten zwei Jahrzehnten, die in dem Band versammelt sind: Zur Bücherverbrennung im Mai 1933 oder den Olympischen Spielen 1936, zum November-Pogrom 1938 oder dem Vernichtungskrieg ab 1941. Dokumente des zähen Ringens um öffentliche Erinnerung und Aufarbeitung, um die Überwindung der "langen Schatten des Nationalsozialismus". Jahrzehntelang kam es im Deutschen Bundestag "zu keiner einzigen Grundsatzdebatte über die nationalsozialistische Vergangenheit"; 1970 dann Brandts Kniefall vor dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand, der "weltweit zum Symbol eines veränderten Verhältnisses der deutschen Politik zum Nationalsozialismus" wurde; schließlich die Entwicklung in den achtziger Jahren, als in der Bundesrepublik eine "Erinnerungslandschaft" an Orten der NS-Geschichte entstand, vor allem dank "der Initiative von Bürgerinnen und Bürgern": als "Ausdruck eines neuen, demokratischen Umgangs mit der Geschichte".
Dezenter Pathos
Das alles in einer schnörkellos-verständlichen Sprache; gelegentlich mit dem dezenten Pathos eines Mannes, der weiß, dass auch er zu dem Grundkonsens unserer Gesellschaft und unserer Politik beigetragen hat: dass die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus "auch künftig grundlegend für die Stabilität der Demokratie in Deutschland sein" wird – als "konstitutives Element der Gemeinsamkeit aller Demokraten über die Grenzen der politischen Parteien hinweg". Die Befürchtungen, dass die Wiedervereinigung zu nationalen Irrwegen und einem Schlussstrich unter die Erinnerung führen könnte, haben sich verflüchtigt. Vielmehr gab die deutsche Einigung der Erinnerungskultur "einen neuen, kräftigen Schub": mit immer mehr Denkmalen und Gedenkstatten und immer mehr engagierten Bürgern.
Der Band ist ein lesenswertes zeitgeschichtliches Dokument über die Mühen der Vergangenheitsbewältigung. Schade nur, dass Rürups eigene Geschichte so wenig zur Sprache kommt - dass er einst als "Pimpf" zur "Hitler-Jugend" gehörte und für den Besuch einer "Napola" vorgeschlagen war. Ein spannendes persönliches Interview über die deutsche Geschichtswissenschaft in den fünfziger und sechziger Jahren, als Rürup studierte und promovierte und dort mit Historikern zu tun hatte, die ihre Lehrstühle schon in der braunen Zeit innehatten: das finden wir auf der Homepage der Berliner Humboldt-Universität im Internet – leider nicht in der Festschrift.

Reinhard Rürup: Der lange Schatten des Nationalsozialismus
Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
Wallstein, Göttingen , 2014
248 Seiten, 24,90 EUR