Reaktionäres Denken

Der intellektuelle Unterbau der Neuen Rechten

28:49 Minuten
Illustration: Kontrolle von Menschen. Zwei grosse übermächtige Hände greifen nach einer Menschenmasse.
Mit starker Hand: Viele reaktionäre Denker wünschen sich eine ordnende Staatsmacht zurück, die der Bevölkerung Werte und Regeln vorgibt, erklärt der Schriftsteller Karl-Heinz Ott. © Getty Images / Erhui
Karl-Heinz Ott im Gespräch mit Catherine Newmark |
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Autokraten und reaktionäre Bewegungen von heute haben eine lange ideologische Vorgeschichte. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott macht sie an Philosophen fest, die Europas Geistesgeschichte zurückdrehen wollten: am liebsten bis ins Mittelalter.
Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine führt deutlich vor Augen, dass die Zeit autokratischer Herrscher mit dem Ende des Kalten Krieges nicht vergangen ist. Entgegen der Hoffung auf einen Sieg des Erfolgsmodells Demokratie ist gerade in den letzten Jahren ein Erstarken reaktionärer politischer Bewegungen zu beobachten.
Ihre Vorkämpfer setzen auch westliche Demokratien unter Druck – ja, sie gelangen in höchste Staatsämter, wie es die Ära Donald Trump auf verstörende Weise gezeigt hat.

Erzkatholische Agenda

Hinter Führungsfiguren, die das weitgehend überwunden geglaubte Leitbild des autoritären Machthabers wiederbeleben, stehen oft Intellektuelle, die deren grobes Gebaren mit differenzierten Positionen unterfüttern, sagt der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Karl-Heinz Ott. So habe etwa Donald Trumps Justizminister William Barr den Präsidenten offenbar als nützlichen Verbündeten betrachtet, um seine "sehr rechtskatholische Agenda durchzudrücken".
Barr, der an Universitäten lehre und geistesgeschichtlich durchaus versiert sei, vertrete in großer Klarheit Kernpostionen reaktionärer Strömungen der Gegenwart: "Wenn die Welt nicht so wäre, wie sie ist, mit diesem verrotteten Individualismus, dann hätten wir nicht so viele Drogentote, dann hätten wir keine unehelichen Kinder, dann hätten wir all die Probleme nicht, die wir haben", so fasst Ott Barrs Überzeugung zusammen.
Der Schriftsteller und Philosoph Karl-Heinz Ott am Rande der Buchmesse in Frankfurt am Main 2019.
Das Ideal des Selbstdenkens kam in Europa auf mit Luther und Descartes, sagt Karl-Heinz Ott. © picture alliance / Sven Simon
Die Ursache für diesen Niedergang sehe Barr darin, "dass wir uns nicht mehr eingebettet fühlen in ein großes Einheit stiftendes Weltbild": in das Wertesystem eines "äußerst rückwärtsgewandten Katholizismus".
Die philosophischen Debatten, auf die erzkonservative Intellektuelle wie William Barr Bezug nehmen, reichen erstaunlich weit zurück, wie Ott in seinem Buch "Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens" ausführt. Das Buch hat es auch in unsere aktuelle Sachbuchbestenliste geschafft.

Alles zersetzender Zweifel

Die Kritik an einer Gegenwart, deren Sinnhorizont von Individualismus, Selbstdenken und alles zersetzendem Zweifel untergraben werde, mache sich nicht etwa an der Philosophie der Aufklärung fest, sondern verorte die Ursache allen Übels noch einige hundert Jahre früher, erklärt Ott.

Indem Luther das Gewissen zur Zentralinstanz kürt, rückt er den Einzelnen, das Individuum ins Zentrum und sagt: Das Verhältnis von Ich zu Gott ist eine persönliche Geschichte. Dazu brauche ich keine Dogmen, dazu brauche ich keine Institutionen, dazu brauche ich keine machtvolle Kirche, die mir erzählt, was die Wahrheit ist.

Karl-Heinz Ott, Schriftsteller

Neben dem Reformator Martin Luther werde auch der Philosoph René Descartes für den Angriff auf jene Institutionen verantwortlich gemacht, die noch im Mittelalter als Garanten einer von Gott gestifteten Weltordnung galten. Indem Descartes den Zweifel an jeglichem überlieferten Wissen zu eine, Grundprinzip der Erkenntnis erklärte, habe er in den Augen konservativer Denker entscheidend zum Zerfall moralischer Gewissheiten beigetragen.

Rufe nach dem starken Staat

Zu den Philosophen, die diese Grundsatzkritik am Geist der Neuzeit stark geprägt haben, gehören der als "Kronjurist des Dritten Reiches" bekannt gewordene Carl Schmitt und der besonders in den USA einflussreihe Denker Leo Strauss, erläutert Ott.

Der Denker Carl Schmitt gehört zu den umstritteneren Protagonisten der Philosophie. Er beschrieb das Betriebsgeheimnis und die Gebrauchsanleitung jeder Art von Macht - ganz gleich, ob es sich dabei um rechtsstaatliche oder autoritäre Systeme handelt. Lesen Sie dazu auch einen Essay von Michael Reitz.

Strauss sei davon ausgegangen, dass eine ideale Staatsführung – wie schon von Platon beschrieben – philosophisch orientiert sein und frei denken sollte, dass aber das Volk die Freiheit nicht ertrage und deshalb einer konsequenten, sinnstiftenden Führung bedürfe.
Auch Carl Schmitt habe den starken Staat und traditionelle Tugenden beschworen. Im Widerstreit unterschiedlicher Werte, wie er die Moderne und noch die Postmoderne kennzeichne, habe Schmitt einen heillosen "Kampf aller gegen alle" gesehen.

Scharfe Diagnosen, fatale Konsequenzen

Manche Zeitdiagnosen von Schmitt, Strauss und ähnlich gesinnten Philosophen seien durchaus stichhaltig, sagt Ott. Die Überforderung, die viele Menschen gerade in Krisensituationen bis heute nach dem Zusammenbruch allgemein verbindlicher moralischer Autoritäten empfänden, die Bodenlosigkeit, in die manche angesichts dessen zu stürzen meinen, seien durchaus nachvollziehbar.
Die Konsequenzen jedoch, die reaktionäre Denker und politische Bewegungen, die ihnen folgen, daraus zögen, seien fatal. Verschwörungsideologen und die Neue Rechte unserer Tage nähmen vielfach auf sie Bezug, sagt Ott, und stützten auf ihre Thesen den Anspruch auf rückwärtsgewandte Werte und einen autoritäten Machtapparat.
(fka)

Karl-Heinz Ott: "Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens"
Hanser, München 2022
432 Seiten, 26 Euro

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