Rolf Schneider, geboren 1932 in Chemnitz, war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller und Essayist. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.
Die Verschiebung des DDR-Narrativs
03:45 Minuten
Gestern, zum Tag der Deutschen Einheit, wurden sicherlich Geschichten erzählt – darüber, wie es war, damals. Wie wird über Geschichte gesprochen? Das verändert sich – auch in Bezug auf die DDR, wie der Schriftsteller Rolf Schneider feststellt.
Immer mal wieder gibt es Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Verhältnisse und das unterschiedliche Verhalten in Deutschland-Ost und Deutschland-West. Die Anlässe können Wahlergebnisse zwischen Elbe und Oder sein, etwelche politische Manifestationen oder terroristische Handlungen.
Dann wird festgestellt, die Angleichung der östlichen Bundesländer an die westlichen sei immer noch nicht gelungen, und es werden Gründe benannt. Bis sich wieder andere Ereignisse in den Vordergrund schieben und das deutschdeutsche Thema verdrängen.
Wahrnehmung der DDR hellt sich auf
Was bei alledem nicht gesehen wird, ist der Umstand, dass im Verlauf der letzten Jahrzehnte jenes Gebilde, auf dem alles fußt, nämlich die DDR, im allgemeinen Bewusstsein eine beträchtliche Veränderung erfahren hat. 2021 wird dieser Staat sehr viel anders gesehen als etwa 1990. Er ist längst nicht mehr so erheblich, und er erscheint auch weniger finster.
Nehmen wir ein zufälliges Beispiel: In den 90er-Jahren war die Entdeckung, jemand sei Angehöriger oder Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen, ein Urteil zum sozialen Tod. Wenn heute eine solche Mitteilung erfolgt, etwa beim Verleger einer Berliner Tageszeitung oder einem hochrangigen Industriemanager, erregt dies kaum mehr als ein Achselzucken.
Die einst für dergleichen Dinge zuständige Stasiunterlagenbehörde mit zuletzt über 1300 Beschäftigten wurde aufgelöst, ihre Bestände wanderten ins Bundesarchiv.
Nach Wiedervereinigung Verworfenes wiederentdeckt
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung wurde fast alles verworfen, was die DDR je geprägt und hervorgebracht hatte, ausgenommen waren lediglich ein paar Künstler und der grüne Abbiegepfeil im Straßenverkehr.
Inzwischen hat nicht bloß die einst von der westdeutschen Gesundheitspolitik verworfene DDR-Poliklinik ihr gesamtdeutsches Revival erlebt, unter dem Namen Ärztehaus, man entdeckt und würdigt auch das DDR-Design und etliche DDR-Lebensmittel. Für die gibt es Verkaufsmessen. Überhaupt gibt es einschlägige Ausstellungen aller Art, es gibt einschlägige Museen, die immer mehr Umfang und immer mehr Beachtung erfahren.
Nicht zu reden über die nostalgischen Erinnerungen von Leuten, die – nach oft bitteren Erfahrungen während des politischen Umbruchs – gerne wissen lassen, die DDR-Zustände seien nicht durchweg übel gewesen und manches sogar besser als Entsprechendes in der Gegenwart.
Früher war, dergleichen zu behaupten, das Privileg der PDS, der späteren Linkspartei. Die hat inzwischen andere Sorgen, schon da ihr im Osten Deutschlands die Anhänger abhandenkommen.
Vom Nachwirken einer Diktatur
Wie aber ist dies alles zu bewerten?
Die DDR ging vor 32 Jahren zugrunde. Für einen zunehmenden Anteil der deutschen Bevölkerung ist sie ein Stück nicht mehr erlebte Geschichte. Dass sie eine Diktatur war, bleibt unbestritten, dass sie weniger rigoros verfuhr als Adolf Hitlers Drittes Reich, lässt sich kaum bestreiten.
Der Schriftsteller Günter Grass nannte sie einst eine "kommode Diktatur", welches Urteil ihm alsbald um die Ohren flog, doch so ganz falsch lag er damit vielleicht nicht.
Ob und wie diese Diktatur im sozialen und politischen Verhalten der ostdeutschen Bevölkerung nachwirkt, wird irgendwann wieder heftig beredet werden. Den Anlass dazu gibt es bestimmt.