Geschichten aus der Familientherapie

Von Gerd Brendel |
Das Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) zeigte an der Schaubühne eineinhalb Wochen zeitgenössisches Theater aus Israel, Finnland, Frankreich und Russland. Die Stücke erzählen von zerplatzten Träumen und Vergeblichkeit.
Die großen Weltkonflikte: Wirtschaftskrise, Globalisierung, Nahost – die in den vergangenen Jahren das FIND-Festival an der Berliner Schaubühne prägten, sie kamen in diesem Jahr nur am Rande vor: Viele Stücke erinnern an Fallgeschichten aus der Familientherapeuten-Praxis, angefangen mit dem Missbrauchs-Drama "Zeit" von Wajdi Moawad bis zur aktuellen Produktion des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis. Der hatte mit dem Moskauer Theater der Nationen Kurzgeschichten des sowjetischen Starautors Wassili Schukschin für die Bühne bearbeitet: Lakonische Miniaturen aus dem sowjetischen Kolchosen-Familienalltag.

Herauskommen ist dabei eine melancholische Sitkom-Veranstaltung, so als ob Al Bundys schrecklich nette Familie Tschechow spielt. Auch wenn in mehreren Rollen der russische Schauspielerstar Jewgenij Mironow zu sehen ist – viele Landsleute sitzen mit Blumensträußen im Publikum. Vom Theatermagier Alvis Hermanis hätte man mehr Tiefgang erwartet.

Den liefert Yael Ronens Regiearbeit "Morris Schimmel": Auch hier steht ein tragikomischer Held im Mittelpunkt: Morris Schimmel, dessen Leben Vergeblichkeit überzieht wie genau – Schimmel eben.

Sein Leben kommt Morris vor wie ein verregneter Friedhofsspaziergang: Gleich am Anfang stirbt sein Vater mitten in einem Wort. Was wollte er bloß sagen? Das Wunder geschieht: Der alte Mann kehrt für Sekunden ins Leben zurück, um seinen Satz zu vollenden. Aber die letzte Botschaft an die Lebenden entpuppt sich als surreales Rätselwort: "Buchweizengrütze", brüllt der lebende Tote. "Buchweizengrütze"?

Wo noch nicht mal letzte Worte Sinn transportieren, bleibt auch für den Rest nicht viel: Von seiner Mutter, gespielt von der Grande Dame des israelischen Theaters, Lea Kenig, kann Morris außer absurdem Altersegoismus nichts erwarten, und auch die Liebe fällt als sinnstiftende Instanz aus: Die Verlobungsfeier des traurigen Helden gerät so traurig wie die Beerdigungsfeiern der Mutter und des Schwiegervaters. Auf allen drei Feiern sind Morris Freunde die einzigen Gäste, die die immer gleichen Geschichten ihrer zerplatzten Träume erzählen.

"Morris Schimmel" ist das letzte Stück des israelischen Dramatikers Hanoch Levin, einem Seelenverwandten des österreichischen Schriftstellers Werner Schwab. Dessen Dramolette spielten in einem ähnlich absurden Kosmos. Schade nur, dass bei den deutschen Übertiteln der hebräische Wortwitz des israelischen Kollegen auf der Strecke bleibt. Dafür erleben die deutschsprachigen Gäste der Premierenfeier einen bewegenden Moment, als die über 70-jährige Lea Kenig sich auf Deutsch bedankt.

Eine Stunde später ist die altersweise Melancholie Hanoch Levins Lichtjahre entfernt. Auf der kleinen Studiobühne führen Schauspielschüler aus Bordeaux Kleists "Penthesilea" auf: Elf junge Frauen und Männer in Unterwäsche laufen brüllend im Kreis und wälzen sich in Blumenerde. Hier geht es um die absolute Liebe bis zur Raserei. Und die geht alle an. Konsequent schlüpft jeder und jede einmal in die Rolle der Penthesilea und des Achill.

"Ich hatte diese eine Grundüberlegung, dass diese Figur wie ein Virus einmal so durchgeht."

Die Idee von Regisseur Johannes von Matuschka taugt auch als Motto für einen Teil des Festivals, der in diesem Jahr zum ersten Mal im Programm auftauchte: Ein workshop für Schauspiel- und Regiestudenten namens FIND-Plus. Über 60 Studierende aus Bordeaux, Reims, Straßburg und Moskau waren angereist, um sich gemeinsam mit Kommilitonen der Berliner Ernst-Busch-Schule vom Theatervirus infizieren zu lassen. Spätestens bei den Improvisationsübungen am dritten Tag hatte ihn jeder. Wie spielt man einen Albtraum, lautete die Aufgabe, Schlaflosigkeit oder "einen erotischen Traum" - oder alles zusammen?

Alle träumen den einen Traum vom Theater und egal, wo sie herkommen, ob aus der französischen Provinz oder aus dem Heimatland des großen Stanislawski oder Bertolt Brechts: Keine Theaterkultur kann sich selbst genügen, erst recht keine nationale.

Matuschka: "Was ich ganz entscheidend fand an diesem Treffen von 63 Studenten war ein Satz von Moawad, der sagte, er muss einen Punkt finden des Neuentdeckens, weil man sich nicht in so einem Theatersystem so einmummeln darf und sich so wohlfühlen darf in seinem Theaterschaffen."

Und die jugendlichen Teilnehmer? Tom Linton, einer der Achill-Darsteller in der Penthesilea, bringt die Erfahrung auf den Punkt: Am Ende zählen nicht Abschlussnoten oder Gagen, sondern etwas ganz anderes:

"Thats the real point when you are an artist to leave your own prison."

Dass man als Künstler sein selbst gebautes Gefängnis verlässt und seine Freiheit behält, dazu gehört nicht nur die Freiheit, Erfolg zu haben, auch die Freiheit, zu scheitern. Für beides gab es auf diesem F.I.N.D. Festival Beispiele.

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Poetisch, komisch und schillernd
Das Festival "F.I.N.D." an der Schaubühne (DLF)
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