Tanja Maljartschuk: Von Hasen und anderen Europäern. Geschichten aus Kiew
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
edition fotoTAPETA, Berlin 2014
192 Seiten, 19,80 Euro
Lost in Kiew
Angst, Verlorenheit, Zynismus: In ihrem Band "Von Hasen und anderen Europäern" erzählt Tanja Maljartschuk neun Geschichten aus dem Leben ukrainischer Frauen - und gibt dabei einen Einblick in die Welt des Homo sovieticus.
Tanja Maljartschuk – 1983 in Ivano-Frankiwsk in der Westukraine geboren – lebt seit 2011 in Wien. Ihre Texte kehren jedoch immer wieder zurück in die Ukraine. Sie kreisen um Befindlichkeiten des Einzelnen in der ukrainischen Gesellschaft. Tanja Maljartschuk schöpft dabei aus persönlichen Erfahrungen. In ihrem Beitrag "Mehr als einer" zu dem Band "Euromaidan" (Suhrkamp, Mai 2014) mit Texten ukrainischer Schriftsteller erzählt die ehemalige investigative Fernsehjournalistin von "Persönlichkeitsstörungen" vieler Menschen durch das System Janukowitsch, von der Scham und den Komplexen ihrer Landsleute angesichts der Verhältnisse in ihrer Heimat und nicht zuletzt von persönlichen Ängsten, wie etwa der "lebenslangen Angst, die Tür des Büros eines Beamten zu öffnen."
Angst ist auch ein zentrales Motiv in Maljartschuks Buch "Von Hasen und anderen Europäern" (im ukrainischen Original bereits 2009 erschienen). Für die neun "Geschichten aus Kiew" werden ausschließlich Tiernamen als Titel benutzt, die für die Eigenschaften der jeweiligen Spezies stehen. Neben Angsthasen und Ratten, die auf Kosten anderer schmarotzen und schwer auszurotten sind, umfasst das Bestiarium unter anderem auch den Haushund. Dessen charakteristische Ergebenheit bis zur Selbstaufgabe gegenüber Herrchen bzw. Frauchen entwickelt Tanja Maljartschuk zugespitzt am Beispiel einer namenlosen (prototypischen) Figur:
"Du bist ein selbstbewusster Bürger der Ukraine. Du warst schon zweimal im Ausland. Du kannst Dich fließend auf Englisch verständigen. Du weißt, dass es Beamte gibt, denn Du warst dafür. Du zahlst ihr Gehalt. Du ernährst sie. Also stürmst Du zu Elvira Wolodymyriwna ins Büro als stolzer Bürger eines Landes, das in zwanzig Jahren vielleicht mal in die EU aufgenommen wird."
In dieser Erzählung "Canis Lupus Familiaris (Der Haushund)" beschreibt Tanja eine Alltagserfahrung mit Hierarchien in der ukrainischen Gesellschaft. Die immer wieder vorgebrachte Beschwerde über einen unreparierten Aufzug in einem Kiewer Hochhaus prallt ab an der Erbarmungslosigkeit einer machtbewussten Beamtin, die "derartige Belästigungen" aussitzt bzw. umkehrt in den Vorwurf, der Bürger sei ja selbst untätig. Der Fahrstuhl bleibt kaputt.
Ein abenteuerlicher Plot – mit viel Empathie erzählt
Nach wochenlanger Bittstellerei ("Montag ist ihr einziger Sprechtag") sind Selbstbewusstsein und Bürgerstolz der Resignation gewichen. Zahm wie ein Hündchen dankt der Bürger seiner Beamtin beim letzten Besuch für die Fitness, die er durch das tägliche Training des Treppensteigens in den 8. Stock erreicht hat. "Und lässt Dich hinterm Ohr kraulen" lautet der letzte Satz der Erzählung, gerichtet direkt an jeden Einzelnen, der sich hierin wiedererkennen mag.
In grotesker Zuspitzung beschreibt Tanja Maljartschuk unterschiedliche Formen des Homo sovieticus. Fast ausschließlich kommt er weiblich daher. Im Fokus der Geschichten stehen oft einfache, manchmal auch einfältige Frauen, die Piroggen am Bahnhof verkaufen oder in der Zoohandlung arbeiten und von einem besseren Leben träumen. Wenn sich ihnen dann endlich eine kleine Chance bietet, überwiegt die Angst vor der Veränderung oder die Macht der Gewohnheit – und alles bleibt beim Alten.
Die Handlung der Geschichten entsteht immer wieder aus der Begegnung der Protagonisten mit einer unbekannten Person, die der eigenen Situation einen Spiegel vorhält. Besonders gelungen ist das in der Eingangserzählung "Aurelia Aurita (Die Qualle)", in der eine desillusionierte Ärztin auf eine geistig verwirrte Frau trifft, die genau wie sie unter dem Druck zur Anpassung, vor allem aber unter der Verlorenheit in einem zynischen Kollektiv leidet. Die Träume beider Frauen bringen eine zweite, fantastische Ebene in die Geschichte, die schließlich in ein überraschendes Finale der Selbstermächtigung mündet.
Mehr als der stellenweise abenteuerliche Plot einiger Geschichten überzeugt deren Ausgestaltung. In schlichter, dialogreicher Sprache hält Maljartschuk exemplarisch und mit viel Empathie genau beobachtete Szenen aus dem Alltag von Frauen in der Ukraine fest. Deren Situation lässt verstehen, warum sie so dringlich politische Veränderungen ersehnen.