Geschichten einer flächendeckenden Ablehnung
Der Historiker Andreas Kossert hält die nach 1945 vertriebenen Deutschen für die treibende Kraft des Wirtschaftswunders, weil sie ganz von vorn anfangen mussten und dadurch ungeahnte Kräfte freisetzten. Zugleich kämpften die Vertriebenen mit Ablehnung und Hass durch die einheimischen Deutschen. Dennoch seien sie im Privaten oft Botschafter der Versöhnung gewesen, so Kossert.
Joachim Scholl: 14 Millionen Deutsche wurden nach 1945 vertrieben, kamen in die Besatzungszonen ohne Hab und Gut, traumatisiert durch Verlust und Gewalt. Ihre gelungene Integration gehört zu den Gründungsmythen, vor allem der jungen Bundesrepublik.
Dass es aber eine unter vielen Schmerzen erzwungene Assimilation war, dass die Vertriebenen kaum freudig begrüßt, sondern durchweg diskriminiert, gedemütigt, scharf abgelehnt wurden, belegt nun ein Buch des Historikers Andreas Kossert. "Kalte Heimat", die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Andreas Kossert arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er ist bereits mit mehreren Büchern zur Geschichte Masurens und Ostpreußens hervorgetreten. Heute ist er bei uns zu Gast. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Kossert!
Andreas Kossert: Hallo, guten Tag!
Scholl: "Herrgott im Himmel, sieh unsere Not, wir Bauern haben kein Fett und Brot. Flüchtlinge fressen sich dick und fett und stehlen uns unser letztes Bett. Wir verhungern und leiden große Pein, Herrgott schick das Gesindel heim". Dieses "Gebet" kursierte 1946/47 in den schwäbischen Landkreisen Waiblingen und Aalen. Schlimme Verse, die ich Ihrem Buch entnommen habe. Und es hätte noch bösere gegeben. War diese bittere Form der Ablehnung, wie sie sich gewissermaßen volksseelisch kundtut, repräsentativ für den Umgang mit den Vertriebenen?
Kossert: Leider muss man sagen Ja, und zwar von Bayern bis Schleswig-Holstein, aber auch auf die sowjetische Besatzungszone kann man diese gesamtdeutsche Erfahrung von Ausgrenzung und Nichtwillkommensein eigentlich beobachten. Und das war eigentlich das Erschreckende. Erst hatte ich gedacht, das seien vielleicht punktuelle, regionale Erscheinungen, aber letztendlich kann man das eben flächendeckend so feststellen.
Scholl: Können Sie uns vielleicht mal einen Fall, ein Beispiel erzählen? Es gibt so viele in Ihrem Buch, und man liest es mit ziemlichem Grausen.
Kossert: Unter anderem hat der Bayerische Bauernverband, das ist ein wunderbares Beispiel, gar nicht verstanden, was dort für Menschen angekommen sind, zum Beispiel die Sudetendeutschen, die nach Bayern kamen. Sie haben eigentlich gedacht, dass sie ein bloßer Austausch für die Zwangsarbeiter der nationalsozialistischen Herrschaft seien und beklagten sich, dass die Vertriebenen nicht bereit wären, eben zu Hungerlöhnen zu arbeiten, dass sie Forderungen stellten. Und das hat eben für viel Ungemach gesorgt. Das zeigt einfach, wie wenig sich eben auch die Mehrheitsgesellschaft der Einheimischen in der Situation der gemeinsamen Niederlage, des Zusammenbruchs im Grunde genommen in die Situation der Vertriebenen hineingedacht hat. Denn sie waren ja ohne Alternative. Sie hatten ja keine Möglichkeit zu einer Rückkehr.
Scholl: Sie zitieren in Ihrem Buch das Wort von der Opferkonkurrenz. Die Deutschen, die da waren, sahen sich als Opfer, und jetzt kamen noch mal Opfer dazu.
Kossert: Genau. Und das nahm dann eben absurde Züge an. Letztendlich merkte man, die Vertriebenen waren nicht willkommen und anders als zum Beispiel in Finnland, wo es ein herrliches Beispiel gibt, dass die finnischen Karelier, die auch 1945 vertrieben wurden, von ihren finnischen Landsleuten sehr herzlich aufgenommen wurden, auch solidarisch, und 1951 ist eine Bundestagsdelegation nach Finnland gefahren, um sich anzuschauen, wie man dort die Integration der Karelier vorgenommen hat. Und da hat man im finnischen Reichstag in Helsinki gesagt, 1945 waren alle Finnen Karelier. Und das kann man in Deutschland auf keinen Fall behaupten.
Scholl: Man liest Ihr Buch mit konstanter Beklemmung, würde ich sagen. So viele furchtbare Geschichten, Geschichten einer solch flächendeckenden Ablehnung, muss man wohl schon sagen, solche Ressentiments bis hin zum blanken Hass, auch rassistische Diskriminierung, unter die Vertriebenen zu leiden hatten. Wie hat sich eigentlich die Politik, zunächst die Besatzungsmacht und dann die Regierung, zu dem Problem gestellt? Das war ja offenkundig, dass hier fast so etwas, Sie schreiben sogar von einer Art Bürgerkrieg, tobte.
Kossert: Ja, letztendlich waren natürlich auch die Besatzungsmächte entscheidend mitverantwortlich für die Situation, denn sie hatten ja die Potsdamer Beschlüsse mitzuverantworten. Aber sie haben gemerkt, dass diese Situation letztendlich tatsächlich bürgerkriegsähnliche Zustände annahm und dass man zum Beispiel mithilfe der Besatzungssoldaten überhaupt eine Zwangseinquartierung durchführen konnte, das heißt mit der Hilfe von Maschinengewehren. Und deshalb hat sie häufiger Einfluss nehmen können, dass die Vertreibungen, zum Beispiel aus Ungarn oder aus der Tschechoslowakei, wenigstens temporär gestoppt wurden, um erst mal etwas Ruhe in den Aufnahmegebieten zu gewähren. Aber letztendlich war das natürlich eine doppelzüngige Funktion auch der Besatzungsmächte.
Scholl: Zehn Millionen Flüchtlinge kamen in den Westen, vier Millionen in die sowjetisch besetzte Zone. Wie ging man in der DDR mit den Vertriebenen um?
Kossert: Die Erfahrung der Ausgrenzung war zunächst erst mal eigentlich eine gesamtdeutsche Erfahrung. Dann jedoch, im Gegensatz zur dann sich konstituierenden Bundesrepublik, hat die DDR in ihrer sozialistischen Ideologie das Problem propagandistisch für erledigt erklärt. Das heißt, ab 1949 waren sie nur noch Umsiedler und schließlich nur noch Neubürger. Das heißt, die DDR hat in der neuen, sich formierenden sozialistischen Gesellschaft eigentlich keine Unterschiede mehr gesehen und hat das Problem ideologisch 40 Jahre in das Private verdrängt.
Scholl: "Kalte Heimat", das Buch über die Geschichte der deutschen Vertriebenen von Andreas Kossert. Der Historiker ist bei uns im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Ein entscheidender politischer Schritt im Westen war das Lastenausgleichsgesetz von 1952, das eine Entschädigung für die Flüchtlinge vorsah, ein Bruchteil natürlich nur der realen Verluste, aber zumindest so etwas wie ein Startkapital, das viele Vertriebene wirklich nützten. Sie schreiben in Ihrem Buch, Andreas Kossert, dass das berühmte Wirtschaftswunder kaum möglich gewesen wäre ohne Flüchtlinge.
Kossert: Ich denke, wir haben immer noch viel zu wenig die Rolle der Vertriebenen als Agenten der Modernisierung gesehen, dass sie ja aufgrund ihres materiellen Totalverlustes und auch aufgrund des Verlustes jeglicher sozialer Bindungen und Hierarchien wirklich in jeder Hinsicht von vorne anfangen mussten. Und das hat bei ihnen ungeahnte Kräfte freigesetzt, zum Beispiel in Richtung Bildungschancen, eine soziale Dynamik, die alle Bereiche der Gesellschaft letztendlich erfasst hat. Und sie haben entscheidend aufgrund ihrer Situation zu diesem Wirtschaftswunder beigetragen, wenn nicht sogar als treibende Kraft.
Scholl: Ihr Buch wirft nun auch ein neues Licht auf die Geschichte der Vertriebenenverbände. Bis in die 80er Jahre hinein hat man sie in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Verbissene, ewig Gestrige, als Horte revanchistischer Heimattümelei wahrgenommen. Sie, Andreas Kossert, beschreiben diese entsprechende Radikalisierung der Verbände, die ja durchaus stattgefunden hat, auch als einen Reflex auf diese gesellschaftliche Ächtung.
Kossert: Ja, man muss sich vergegenwärtigen, dass die Vertriebenen generell bis zur neuen Ostpolitik von allen Parteien umhätschelt wurden. Man hat letztendlich auch mit ihrem Heimweh gespielt, man hat sie instrumentalisiert. Und das ging durch alle Parteien, von rechts nach links. Und man hat sich in nationalistischen Forderungen überboten und letztendlich an diese Revisionsforderung selbst nicht mehr geglaubt. Und das mussten natürlich die Vertriebenen dann auch erst mal verkraften.
Aber letztendlich muss man dann ganz deutlich sagen, haben die Vertriebenenverbände sich dann wirklich den Realitäten verweigert und haben sich dann in so eine schmollende Ecke der Selbstisolation begeben. Und das ist natürlich gerade das falsche Signal gewesen in der Zeit der neuen Ostpolitik. Man hätte gemeinsam in die Zukunft aufbrechen können. Aber da sieht man natürlich auch viele Verletzungen, die da zum Tragen kommen.
Scholl: Nun haben wir in den letzten Jahren eine intensive, zum Teil auch wieder verbitterte Diskussion über Vertreibung, ein Stichwort wäre das geplante Zentrum gegen Vertreibung. Sie arbeiten am Deutschen Historischen Institut in Warschau. In Polen könnte man Ihr Buch nun aber, wenn man böse will, auch als ein Affront auffassen. Vertriebene jetzt noch mal als Opfer, erst durch die Vertreibung, dann durch die Ausgrenzung.
Kossert: Das würde ich überhaupt nicht so sehen, denn mein Buch ist eine Ankunftsgeschichte. Und es ist eine Geschichte des zweiten Schocks, nach der Vertreibung von der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert zu sein. Und ich denke, auch dieses Zentrum gegen Vertreibung oder das von der Bundesregierung gerade beschlossene sichtbare Zeichen ist eben auch nicht gegen Polen oder Tschechien gerichtet, sondern es ist eigentlich ein Zeichen zur innerdeutschen Versöhnung und auch an die Mehrheitsgesellschaft, wie sie mit den Vertriebenen, die eine besondere Last tragen mussten, für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, wie wenig solidarisch sie mit ihnen umgegangen sind.
Scholl: Sie schreiben in Ihrem Buch auch von dem Kontakt, den gerade die Vertriebenen ja auch zum Beispiel mit Bürgern in Polen halten, die jetzt eigentlich auch schon wieder in zweiter, dritter Generation Motor einer Annäherung sind. Wird es Interesse an Ihrem Buch in Polen geben? Wird es eine Übersetzung geben?
Kossert: Ich hoffe es sehr. Das ist auch insgesamt mein Eindruck in Polen, dass eigentlich die Vertriebenen auf der individuellen Ebene der Familien immer Brückenbauer waren, dass sie zu Hunderttausenden bis heute in diese Gebiete fahren, während andere eben sich letztendlich eher nach Süden oder Westen orientieren, in die Toskana fahren oder die Provence, die zugegebenermaßen schöne Regionen sind. Aber die Vertriebenen haben einfach ein biografisches Interesse an diesen Regionen, und das ist eigentlich auch gut für die deutsch-polnischen Beziehungen.
Scholl: Und wenn man am kommenden Sonntag Miroslav Klose und Lukas Podolski im Spiel gegen Polen vom deutschen Publikum bejubelt werden, dann könnte man auch einen geglückten Akt von später Integration feiern. Die beiden entstammen Familien von Spätaussiedlern. Auch die werden in Ihrem Buch gewürdigt.
Kossert: Da wird eben verkannt, dass viele dieser Vertriebenen auch aus Regionen kommen, die jahrhundertelang multiethnisch bestimmt waren und wo eindeutige ethnische Zuordnungen eben nicht möglich sind. Und ihre Biografien, die aus Oberschlesien stammen, sind einfach symptomatisch, dass Vertriebene historisch und auch in der Gegenwart Brückenbauer sein können.
Scholl: Andreas Kossert, ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier im "Radiofeuilleton". Das Buch "Kalte Heimat - Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" von Andreas Kossert ist im Siedler Verlag erschienen, 430 Seiten zum Preis von 24,95 Euro.
Dass es aber eine unter vielen Schmerzen erzwungene Assimilation war, dass die Vertriebenen kaum freudig begrüßt, sondern durchweg diskriminiert, gedemütigt, scharf abgelehnt wurden, belegt nun ein Buch des Historikers Andreas Kossert. "Kalte Heimat", die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Andreas Kossert arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er ist bereits mit mehreren Büchern zur Geschichte Masurens und Ostpreußens hervorgetreten. Heute ist er bei uns zu Gast. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Kossert!
Andreas Kossert: Hallo, guten Tag!
Scholl: "Herrgott im Himmel, sieh unsere Not, wir Bauern haben kein Fett und Brot. Flüchtlinge fressen sich dick und fett und stehlen uns unser letztes Bett. Wir verhungern und leiden große Pein, Herrgott schick das Gesindel heim". Dieses "Gebet" kursierte 1946/47 in den schwäbischen Landkreisen Waiblingen und Aalen. Schlimme Verse, die ich Ihrem Buch entnommen habe. Und es hätte noch bösere gegeben. War diese bittere Form der Ablehnung, wie sie sich gewissermaßen volksseelisch kundtut, repräsentativ für den Umgang mit den Vertriebenen?
Kossert: Leider muss man sagen Ja, und zwar von Bayern bis Schleswig-Holstein, aber auch auf die sowjetische Besatzungszone kann man diese gesamtdeutsche Erfahrung von Ausgrenzung und Nichtwillkommensein eigentlich beobachten. Und das war eigentlich das Erschreckende. Erst hatte ich gedacht, das seien vielleicht punktuelle, regionale Erscheinungen, aber letztendlich kann man das eben flächendeckend so feststellen.
Scholl: Können Sie uns vielleicht mal einen Fall, ein Beispiel erzählen? Es gibt so viele in Ihrem Buch, und man liest es mit ziemlichem Grausen.
Kossert: Unter anderem hat der Bayerische Bauernverband, das ist ein wunderbares Beispiel, gar nicht verstanden, was dort für Menschen angekommen sind, zum Beispiel die Sudetendeutschen, die nach Bayern kamen. Sie haben eigentlich gedacht, dass sie ein bloßer Austausch für die Zwangsarbeiter der nationalsozialistischen Herrschaft seien und beklagten sich, dass die Vertriebenen nicht bereit wären, eben zu Hungerlöhnen zu arbeiten, dass sie Forderungen stellten. Und das hat eben für viel Ungemach gesorgt. Das zeigt einfach, wie wenig sich eben auch die Mehrheitsgesellschaft der Einheimischen in der Situation der gemeinsamen Niederlage, des Zusammenbruchs im Grunde genommen in die Situation der Vertriebenen hineingedacht hat. Denn sie waren ja ohne Alternative. Sie hatten ja keine Möglichkeit zu einer Rückkehr.
Scholl: Sie zitieren in Ihrem Buch das Wort von der Opferkonkurrenz. Die Deutschen, die da waren, sahen sich als Opfer, und jetzt kamen noch mal Opfer dazu.
Kossert: Genau. Und das nahm dann eben absurde Züge an. Letztendlich merkte man, die Vertriebenen waren nicht willkommen und anders als zum Beispiel in Finnland, wo es ein herrliches Beispiel gibt, dass die finnischen Karelier, die auch 1945 vertrieben wurden, von ihren finnischen Landsleuten sehr herzlich aufgenommen wurden, auch solidarisch, und 1951 ist eine Bundestagsdelegation nach Finnland gefahren, um sich anzuschauen, wie man dort die Integration der Karelier vorgenommen hat. Und da hat man im finnischen Reichstag in Helsinki gesagt, 1945 waren alle Finnen Karelier. Und das kann man in Deutschland auf keinen Fall behaupten.
Scholl: Man liest Ihr Buch mit konstanter Beklemmung, würde ich sagen. So viele furchtbare Geschichten, Geschichten einer solch flächendeckenden Ablehnung, muss man wohl schon sagen, solche Ressentiments bis hin zum blanken Hass, auch rassistische Diskriminierung, unter die Vertriebenen zu leiden hatten. Wie hat sich eigentlich die Politik, zunächst die Besatzungsmacht und dann die Regierung, zu dem Problem gestellt? Das war ja offenkundig, dass hier fast so etwas, Sie schreiben sogar von einer Art Bürgerkrieg, tobte.
Kossert: Ja, letztendlich waren natürlich auch die Besatzungsmächte entscheidend mitverantwortlich für die Situation, denn sie hatten ja die Potsdamer Beschlüsse mitzuverantworten. Aber sie haben gemerkt, dass diese Situation letztendlich tatsächlich bürgerkriegsähnliche Zustände annahm und dass man zum Beispiel mithilfe der Besatzungssoldaten überhaupt eine Zwangseinquartierung durchführen konnte, das heißt mit der Hilfe von Maschinengewehren. Und deshalb hat sie häufiger Einfluss nehmen können, dass die Vertreibungen, zum Beispiel aus Ungarn oder aus der Tschechoslowakei, wenigstens temporär gestoppt wurden, um erst mal etwas Ruhe in den Aufnahmegebieten zu gewähren. Aber letztendlich war das natürlich eine doppelzüngige Funktion auch der Besatzungsmächte.
Scholl: Zehn Millionen Flüchtlinge kamen in den Westen, vier Millionen in die sowjetisch besetzte Zone. Wie ging man in der DDR mit den Vertriebenen um?
Kossert: Die Erfahrung der Ausgrenzung war zunächst erst mal eigentlich eine gesamtdeutsche Erfahrung. Dann jedoch, im Gegensatz zur dann sich konstituierenden Bundesrepublik, hat die DDR in ihrer sozialistischen Ideologie das Problem propagandistisch für erledigt erklärt. Das heißt, ab 1949 waren sie nur noch Umsiedler und schließlich nur noch Neubürger. Das heißt, die DDR hat in der neuen, sich formierenden sozialistischen Gesellschaft eigentlich keine Unterschiede mehr gesehen und hat das Problem ideologisch 40 Jahre in das Private verdrängt.
Scholl: "Kalte Heimat", das Buch über die Geschichte der deutschen Vertriebenen von Andreas Kossert. Der Historiker ist bei uns im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Ein entscheidender politischer Schritt im Westen war das Lastenausgleichsgesetz von 1952, das eine Entschädigung für die Flüchtlinge vorsah, ein Bruchteil natürlich nur der realen Verluste, aber zumindest so etwas wie ein Startkapital, das viele Vertriebene wirklich nützten. Sie schreiben in Ihrem Buch, Andreas Kossert, dass das berühmte Wirtschaftswunder kaum möglich gewesen wäre ohne Flüchtlinge.
Kossert: Ich denke, wir haben immer noch viel zu wenig die Rolle der Vertriebenen als Agenten der Modernisierung gesehen, dass sie ja aufgrund ihres materiellen Totalverlustes und auch aufgrund des Verlustes jeglicher sozialer Bindungen und Hierarchien wirklich in jeder Hinsicht von vorne anfangen mussten. Und das hat bei ihnen ungeahnte Kräfte freigesetzt, zum Beispiel in Richtung Bildungschancen, eine soziale Dynamik, die alle Bereiche der Gesellschaft letztendlich erfasst hat. Und sie haben entscheidend aufgrund ihrer Situation zu diesem Wirtschaftswunder beigetragen, wenn nicht sogar als treibende Kraft.
Scholl: Ihr Buch wirft nun auch ein neues Licht auf die Geschichte der Vertriebenenverbände. Bis in die 80er Jahre hinein hat man sie in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Verbissene, ewig Gestrige, als Horte revanchistischer Heimattümelei wahrgenommen. Sie, Andreas Kossert, beschreiben diese entsprechende Radikalisierung der Verbände, die ja durchaus stattgefunden hat, auch als einen Reflex auf diese gesellschaftliche Ächtung.
Kossert: Ja, man muss sich vergegenwärtigen, dass die Vertriebenen generell bis zur neuen Ostpolitik von allen Parteien umhätschelt wurden. Man hat letztendlich auch mit ihrem Heimweh gespielt, man hat sie instrumentalisiert. Und das ging durch alle Parteien, von rechts nach links. Und man hat sich in nationalistischen Forderungen überboten und letztendlich an diese Revisionsforderung selbst nicht mehr geglaubt. Und das mussten natürlich die Vertriebenen dann auch erst mal verkraften.
Aber letztendlich muss man dann ganz deutlich sagen, haben die Vertriebenenverbände sich dann wirklich den Realitäten verweigert und haben sich dann in so eine schmollende Ecke der Selbstisolation begeben. Und das ist natürlich gerade das falsche Signal gewesen in der Zeit der neuen Ostpolitik. Man hätte gemeinsam in die Zukunft aufbrechen können. Aber da sieht man natürlich auch viele Verletzungen, die da zum Tragen kommen.
Scholl: Nun haben wir in den letzten Jahren eine intensive, zum Teil auch wieder verbitterte Diskussion über Vertreibung, ein Stichwort wäre das geplante Zentrum gegen Vertreibung. Sie arbeiten am Deutschen Historischen Institut in Warschau. In Polen könnte man Ihr Buch nun aber, wenn man böse will, auch als ein Affront auffassen. Vertriebene jetzt noch mal als Opfer, erst durch die Vertreibung, dann durch die Ausgrenzung.
Kossert: Das würde ich überhaupt nicht so sehen, denn mein Buch ist eine Ankunftsgeschichte. Und es ist eine Geschichte des zweiten Schocks, nach der Vertreibung von der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert zu sein. Und ich denke, auch dieses Zentrum gegen Vertreibung oder das von der Bundesregierung gerade beschlossene sichtbare Zeichen ist eben auch nicht gegen Polen oder Tschechien gerichtet, sondern es ist eigentlich ein Zeichen zur innerdeutschen Versöhnung und auch an die Mehrheitsgesellschaft, wie sie mit den Vertriebenen, die eine besondere Last tragen mussten, für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, wie wenig solidarisch sie mit ihnen umgegangen sind.
Scholl: Sie schreiben in Ihrem Buch auch von dem Kontakt, den gerade die Vertriebenen ja auch zum Beispiel mit Bürgern in Polen halten, die jetzt eigentlich auch schon wieder in zweiter, dritter Generation Motor einer Annäherung sind. Wird es Interesse an Ihrem Buch in Polen geben? Wird es eine Übersetzung geben?
Kossert: Ich hoffe es sehr. Das ist auch insgesamt mein Eindruck in Polen, dass eigentlich die Vertriebenen auf der individuellen Ebene der Familien immer Brückenbauer waren, dass sie zu Hunderttausenden bis heute in diese Gebiete fahren, während andere eben sich letztendlich eher nach Süden oder Westen orientieren, in die Toskana fahren oder die Provence, die zugegebenermaßen schöne Regionen sind. Aber die Vertriebenen haben einfach ein biografisches Interesse an diesen Regionen, und das ist eigentlich auch gut für die deutsch-polnischen Beziehungen.
Scholl: Und wenn man am kommenden Sonntag Miroslav Klose und Lukas Podolski im Spiel gegen Polen vom deutschen Publikum bejubelt werden, dann könnte man auch einen geglückten Akt von später Integration feiern. Die beiden entstammen Familien von Spätaussiedlern. Auch die werden in Ihrem Buch gewürdigt.
Kossert: Da wird eben verkannt, dass viele dieser Vertriebenen auch aus Regionen kommen, die jahrhundertelang multiethnisch bestimmt waren und wo eindeutige ethnische Zuordnungen eben nicht möglich sind. Und ihre Biografien, die aus Oberschlesien stammen, sind einfach symptomatisch, dass Vertriebene historisch und auch in der Gegenwart Brückenbauer sein können.
Scholl: Andreas Kossert, ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier im "Radiofeuilleton". Das Buch "Kalte Heimat - Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" von Andreas Kossert ist im Siedler Verlag erschienen, 430 Seiten zum Preis von 24,95 Euro.