Geschichten mit Seele

Neues von der Altmeisterin

Besprochen von Manuela Reichart |
Lange stand sie auf der Liste der möglichen Kandidaten. Nun bekommt Alice Munro endlich den Literaturnobelpreis. In ihren jüngsten Erzählungen erweist sich die kanadische Autorin einmal mehr als Meisterin ihrer Kunst und als glänzende Psychologin.
Lange stand sie auf der Liste der möglichen Kandidaten. Nun bekommt Alice Munro endlich den Literaturnobelpreis. In ihren jüngsten Erzählungen erweist sich die kanadische Autorin einmal mehr als Meisterin ihrer Kunst.
Ein junges Paar auf dem Bahnhof, sie fährt mit dem Kind weg, er bleibt zurück, man wird eine Weile getrennt sein, macht nicht viele Worte, genauer gesagt: Er macht nicht viele Worte.
Auf wenigen Seiten entwirft Alice Munro zwei Biografien: Er, das Kind eines tschechischen Flüchtlings, einer Frau, die ohne ihren Mann das Leben meistern musste, ist Ingenieur, baut Brücken; ein rationaler Mensch, der nicht gerne spekuliert, nicht gerne über Kunst und Gefühle spricht. Sie schreibt Gedichte. Das kann nicht gutgehen. Im Zug wird die junge Frau einen Mann treffen, mit dem sie kurzen und heftigen Sex haben, über den sie beinahe ihr Kind vergessen wird.
Die Autorin erzählt auf verschiedenen Ebenen, sie springt in den Zeiten. Erst geht es um den Abschied auf dem Bahnhof, die Flucht der Schwiegermutter, die Angst der jungen Frau, als sie ihr Kind nicht im Abteil findet. Dann gibt es eine weitere Rückblende, im Zentrum steht eine Verlagseinladung, auf der die viel zu fein angezogene Frau eine Außenseiterin ist. Sie trinkt zu viel und lernt einen freundlichen Mann kennen, der sie nach Hause fährt, beinahe küsst und von dem sie fortan träumt. Am Ende der 30-seitigen Geschichte „Japan erreichen“ wird es dieser Mann sein, der sie am Ende der Bahnfahrt erwarten, mit dem sie ein neues Leben beginnen wird.
Es geht um Familie, Kinder, Liebe und Ehe, ums Alter und um Sex
Die Kunst der 1931 geborenen Alice Munro wird in dieser Erzählung deutlich: ihre genaue Menschenbeschreibung und ihre Fähigkeit, Geschichten nicht zuletzt durch Auslassungen zu erzählen. Biografien gewinnen nicht in erster Linie durch Handlung an Bedeutung, vielmehr durch Stimmungen, aufflammende Gefühle, mühsame Erkenntnisse und überraschende Wendungen. Fasziniert gerät man in den Sog dieser lakonisch betrachteten Liebes- und Lebensgeschichten, die vom Leiden und Genießen handeln, von der Stunde der ersten und der letzten Empfindung, von den Ritualen zwischen den Geschlechtern und vor allem davon, dass jede Generation „Dinge als endgültig bewertet hatte, die nur zufällig und vorläufig waren“.
Die Themen der Alice Munro sind die, die unser Leben bestimmen: Familie, Kinder, Liebe und Ehe, das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern und Freundinnen, es geht ums Alter und um Sex, um die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, um das, was in Erinnerung bleibt, und das, was aus ihr verschwindet.
In den letzten vier Erzählungen dieses schönen Bandes spürt die Nobelpreisträgerin der eigenen Erinnerung nach: den Eltern, dem Ort der Kindheit, dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, einer Nachbarin, vor der sich die Mutter fürchtete. Sie endet mit dem Gedanken an die Beerdigung ihrer Mutter, zu der sie nicht fuhr, weil sie weit weg wohnte, zwei kleine Kinder und kein Geld hatte. Sie suche beim Schreiben, hat Alice Munro einmal gesagt, stets nach der Seele einer Geschichte. Der Schluss dieser Erzählung bleibt lange im Gedächtnis. „Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind, oder dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.“

Alice Munro: Liebes Leben
14 Erzählungen
Aus dem Englischen von Heidi Zerning
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
368 Seiten, 21,99 Euro