Die unheimliche Kreativität des posthistorischen Zeitalters
Historische Stoffe in der Literatur und im Film sind begehrt. Doch diese neuen Verarbeitungen von historischen Stoffen wollen nicht unbedingt die Geschichte erzählen, sondern eine Geschichte von vielleicht vielen unterschiedlichen Interpretationen.
Im August 2017 kam der Film "The Promise" in die Kinos. Einer verbreiteten Praxis folgend wurde der englische Titel im Deutschen beibehalten, allerdings mit einem Untertitel versehen: "Die Erinnerung bleibt".
Der Film spielt im Jahr 1915 in der anatolischen Provinz. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten in Anatolien etwa 1,7 Millionen Armenier. Zwischen 1915 und 1923 wurden die meisten von ihnen vertrieben oder ermordet. Um die Bundestags-Resolution, die dieses Verbrechen als das bezeichnet, was es gewesen ist, als Völkermord, gab es 2016 viel Wirbel. Denn die offizielle Türkei hat einen anderen Blick auf die Geschichte.
Einige Wochen, bevor "The Promise" in die amerikanischen Kinos kam, war dort bereits der Film "The Ottoman Lieutenant" zu sehen, dessen Handlung in derselben Zeit und in derselben Region angesiedelt ist. In diesem Film kommt der Völkermord an den Armeniern allerdings in keiner Szene vor, und er wird auch mit keinem Wort erwähnt. Da ist halt Krieg. Und im Krieg gibt es Opfer bekanntlich auf allen Seiten.
"The Ottoman Lieutenant" ist eine türkisch-amerikanische Co-Produktion mit Michael Huisman, bekannt aus Games of Thrones, und Ben Kingsley. Einem der türkischen Produzenten des Films wird Nähe zur Familie Erdogan nachgesagt.
Wie dem auch sei - in Ankara wird man "The Ottoman Lieutenant", in dem viele Armenier schießen, auf jeden Fall lieber gesehen haben als "The Promise", in dem viele Armenier sterben.
Hier wird nicht etwa dieselbe Geschichte zweimal erzählt. Hier wird derselbe historische Hintergrund für zwei fiktive Helden- und Liebesgeschichten als Folie verwendet. Und dabei wird, unter der Hand, ein jeweils ganz anderes Bild von dem gezeichnet, was wir gewohnt sind, die Geschichte zu nennen.
Die Hollywoodproduktion "The Promise" verfügte über ein Budget von 90 Millionen Dollar. Das Geld stammte von dem armenischstämmigen US-Milliardär Kirk Kerkorian, der kurz vor Beginn der Dreharbeiten verstorben war. Er unterstützte das Filmprojekt, um die Erinnerung an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wach zu halten, um einer Verfälschung der Geschichte entgegenzuwirken.
Damit hat sich Kerkorian für ein Medium entschieden, das die Geschichte als Sujet für sich entdeckt hat – und mittels der Macht von Bildern und Emotionen in der Lage ist, Geschichte zu schreiben, wenn das Publikum ihm das zugesteht – was es zu tun scheint. Das Lancieren von "The Ottoman's Lieutenant" zum Start von "The Promise" zeigt exemplarisch, wie mit dem suggestiven Medium Film um die dominierende Geschichtserzählung gekämpft wird - das Narrativ, wie die Historiker sagen.
Lange, so scheint es, hat sich das Erzählkino nur zaghaft an variierende und gegensätzliche Perspektiven auf die Geschichte gewagt. Zu mächtig war die Erzählung des Kollektivsingulars – Geschichte, für die wir Verantwortung tragen, vor der wir uns zu verantworten haben, die uns prägt. Nun aber scheint sich dieses Verständnis von Geschichte gerade aufzulösen – in einer Zeit, in der auch die Zusammenhänge öffentlicher Kommunikation und die Sphäre des Politischen zerfallen.
Der sogenannte Kollektivsingular Historie oder eben Geschichte setzte sich erst Ende des 18. Jahrhunderts gegen den meist im Plural gebrauchten Begriff Geschichten durch, mit dem unterschiedliche Erzählungen unterschiedlicher Berichterstatter bezeichnet wurden. Die Geschichtswissenschaft entstand, mit ihr eine Trennung zwischen einer Vielzahl von Geschichten auf der einen Seite, die fortan eher in der Literatur zu finden waren (und später im Kino) - und der Historie auf der anderen Seite.
Faszination des Phänomens Gorbatschow
Anfang der 1990er -Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs, verkündete der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zusammen mit dem vermeintlichen Triumph der Demokratie auch das "Ende der Geschichte".
Francis Fukuyama: "1987/88 war ich wie alle anderen absolut fasziniert von dem Phänomen Gorbatschow. Ich studierte zu dieser Zeit sehr intensiv Material aus der Sowjetunion und fand dabei Aussagen von Sowjets, die plötzlich Privateigentum für legitim und Wettbewerb für unerlässlich hielten. Und dann hab ich mir ab einem bestimmten Punkt gesagt: Das ist das Ende der Geschichte, wenn die Sowjets so etwas selbst sagen und zu Erkenntnissen kommen, die die Chinesen schon früher, in den Achtzigerjahren, gewonnen hatten."
Dass das Ende der einen nur der Anfang einer anderen Geschichte war, dass Geschichte uns immer wieder überrascht und dass der Blick in die Vergangenheit nur bedingt dazu taugt, einen Zustand für die Zukunft vorherzusagen, belegt der gegenwärtige Zustand der Welt aufs Anschaulichste. Aber vielleicht hat Fukuyama auf einer anderen Ebene doch Recht gehabt mit seiner vielzitierten These. Vielleicht hat uns der Mauerfall die Möglichkeit eröffnet, den Begriff Geschichte neu zu denken, die Geschichte anders zu erleben, anders nach ihr zu fragen und entsprechend auch in anderen Formen zu reflektieren? Vielleicht hat der Zusammenbruch des politischen Blocksystems 1989-91 dazu geführt, dass neue Generationen ein anderes, ein unbefangeneres Verhältnis zu dem entwickelten, was wir die Geschichte nennen. Den Stoff dafür liefern die Filmemacher.
Kulturwissenschaftler Thomas Macho: "Ich habe heute eher das Gefühl, dass dieser Typus des Historienfilms eher eine Geschichte erzählen will, die den Glauben an die Zwangsläufigkeit und die Schicksalhaftigkeit und auch an die Indentitätszumutung von historischen Abläufen erschüttern soll. Es hätte auch ganz anders kommen können, ist zum Beispiel die Botschaft von den Tarrentino-Versionen der großen Kapitel unserer jüngsten Geschichte."
Trailer "Inglorious Bastards": "In drei Tagen veranstaltet Joseph Goeebels eine Gala zur Premiere seines neuen Films in Paris. Das gesamte deutsche Oberkommando wird anwesend sein. Damit haben wir also alle faulen Eier in einem Korb. Die Mission?" "Den Korb in die Luft jagen." Hitler: "Neineneineinein!" - "Dochdochdochdoch!"
Macho: "Das war nicht zwangsläufig so! Und das ist, glaube ich, sehr wichtig. Wenn wir in einer Zeit, in der man ohnehin dauernd das Gefühl hat, man ist schicksalhaft Bedrohungen und Entwicklungen ausgesetzt, und eigentlich müsse man, so hat es jedenfalls Philipp Blom in seinem letzten Buch mit dem Titel, glaube ich: Alles steht auf dem Spiel festgehalten: Es gibt so eine Art des Zukunftsverlusts, der durch das Festhalten an der Gegenwart im sicheren Bewusstsein: besser als jetzt wird es nicht mehr. Deshalb müssen wir versuchen, so lange wie möglich an diesem Zustand festzuhalten. Das ist allerdings alternativlos."
Bei der Rückkehr des Historischen nach dem Ende der Geschichte handelt es sich keineswegs bloß um eine Modeerscheinung der Filmindustrie, sondern offensichtlich um einen tieferen Einschnitt. Das zeigt ein Blick auf andere Diskurse. Nehmen wird die Literatur.
Jörg Plath: "Dieses Jahr, auch schon im letzten Jahr, ist ganz deutlich zu beobachten, dass es eine Rückkehr von historischen Stoffen gibt, auch bei den anspruchsvollen Autoren, auch bei denen, die die sogenannte hohe Literatur schreiben. Nicht nur Schmöker entstehen heute über historische Stoffe."
Das beobachtet der Literaturkritiker Jörg Plath. Dabei war die Abgrenzung des Genres Historischer Roman von der sogenannten hohen Literatur seit jeher noch viel stärker als im Kino. Und nun?
2017 haben es gleich drei Titel mit historischen Stoffen auf die Long List des Deutschen Buchpreises geschafft: Feridun Zaimoglus, Evangelio, im Untertitel: Ein Luther-Roman ...
Feridan Zaimoglu: "Es ging mir tatsächlich nicht darum, wie ein Tourist die Orte der Andacht, die ehemaligen Andachtstätten oder Erinnerungsorte zu besuchen, es ging mir wirklich darum, auch den Glutkern des Glaubens herauszustellen. Und da stößt man natürlich auf einen gewissen Irrsinn."
"Das Floß der Medusa" des Österreichers Franzobel und Ingo Schulzes "Peter Holtz. Sein Glückliches Leben von ihm selbst erzählt", das in der Zeit von 1974 bis1998 spielt …
… also in den letzten Jahren vor Fukuyamas "Ende der Geschichte".
Ingo Schulze: "Um das Heute etwas in die Distanz zu rücken, brauche ich eine Figur, die entweder vom Mond kommt, oder so eine Art Schelm ist, so ein sehr naiver Mensch, der an Stellen fragt, wo heute eigentlich keiner fragt, weil jeder hat es verstanden, wie es läuft. Aber ich brauchte jemanden, der das nicht versteht. Und dann, dachte ich, wäre das ganz gut - der muss ja ein Herkommen haben, der muss ja irgendwo herkommen. Also dachte ich, ich lasse den aus der DDR kommen, wo ich Bescheid weiß."
Der Österreicher Franzobel erklärt die Wahl seines Sujets so:
Franzobel: "Das Floß der Medusa - Manche kenne das Bild von Théodere Géricault. Es hängt im Louvre. Ein Riesengemälde. Es ist ein politisches Bild, das damals für sehr großen Wirbel gesorgt hat, weil an der Spitze der Menschenpyramide, die auf diesem Floß sich befindet, genau in dem Moment, wo man das Schiff entdeckt, ganz klein ist das Schiff hier zu sehen, an der Spitze dieser Menschenpyramide ist ein Mestike, also ein Mischling, das hat damals in Frankreich vor 200 Jahren für ziemlichen Wirbel gesorgt, es ist auf dem Bild weiter ein Schwarzer zu sehen, der ist historisch verbürgt. Und ich habe von dieser Geschichte erfahren, mich hat sie fasziniert, mich hat sie begeistert, ich habe gewusst: darüber muss ich etwas schreiben, weil das irgendwie den Kern des Menschlichen brüht. Es ist im Prinzip die Geschichte einer Katastrophe."
Vor 200 Jahren, 1816, ist 100 Seemeilen vor dem Senegal die Fregatte Medusa auf einer Sandbank gestrandet. Man hatte zu wenige Rettungsboote, 400 Leute waren an Bord, für ungefähr 250 Leute hatte man Rettungsboote und hat für die 150 anderen Leute ein Floß konstruiert aus Teilen der Masten und hat die auf das Floß gestellt, diese Menschen, die standen sofort hüfthoch im Wasser, und hat ihnen versprochen, dass man sie mit den Rettungsbooten an Land ziehen wird.
Sehr schnell hat man gemerkt, dass das nicht funktioniert, dass das, man hat es Maschine genannt, dieses Floß, dieses Vehikel ist zu schwer, treibt alles auf das offene Meer hinaus, also hat man beschlossen, das Rettungsseil zu kappen und die Leute auf dem Floß ihrem Schicksal zu überlassen. Man hat nicht damit gerechnet, dass die überleben werden. Zufällig hat man 13 Tage später dieses Floß wiederentdeckt. Und 15 Menschen haben überlebt.
"Das Erstaunliche ist, dass diese Bücher oft Roman genannt werden"
Die Vergangenheit mit ihrem Geschichtenreservoir als Spiegel der Gegenwart – die gleichzeitig Themen bietet, die, wie Franzobel es nennt, "den Kern des Menschen berühren". Wie kommt es, dass es diesen Rückgriff auf historische Stoffe nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis jetzt in der sogenannten Hochliteratur so wenig gegeben hat? Ja, dass er nicht gewollt und weitgehend auch nicht geduldet war?
Thomas Macho: "Das ist eine sehr gute Frage, aber die lässt sich vermutlich recht einfach beantworten. Die historischen Romane und die historischen Stoffe waren natürlich in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, auch schon davor, ein bisschen kontaminiert. Da gab es alle möglichen Themenstellungen und alle möglichen ideologischen Positionen, die mit diesen Themen verknüpft wurden, und jede Menge von quasi historischen – sei es nun Bauernkriegs-Sujets oder Dreißigjähriger-Kriegs-Erzählungen oder eben auch Kampf um Rom oder was auch immer. Und ich denke, dass das nach dem Krieg in dieser langen Zeit der Ernüchterung auch in der Literatur schwierig war, an Historisches wieder anzuknüpfen, und dass eigentlich erst jetzt eine Chance besteht für die Literatur, sich dieser Themen wieder anzunehmen."
"Und dabei kommt dann noch etwas anderes dazu, was, glaube ich, sehr interessant ist, nämlich, dass die literarischen Techniken sich erweitert haben. Zu den literarischen Techniken heute gehört sozusagen das dokumentarische Arbeiten dazu. Das heißt in einem guten Sinn das sozusagen beste journalistische Arbeiten. Als Enzensberger in der Anderen Bibliothek seinen Band über Europa in Trümmern 45 herausgegeben hat – das ist ja nur montiert aus Originalquellen von Reportagen. Und da gibt es ein Hohes Lied auf den echten Journalismus, der eben nicht nur für den Tag, sondern für die Ewigkeit schreibt, diesen Reportagen-Journalismus, der sich in diesem Band abbildet sozusagen als Geleitwort und Vorwort. "
Jörg Plath: "Das Erstaunliche ist ja, dass all diese Bücher oft Roman genannt werden. Sie werden ja nicht 'Das Leben von …' genannt. Es sind Romane, es sind ausgesprochen fiktionale Entwürfe, der Romanautor ist nicht verpflichtet, die historische Wahrheit darzubieten, es sind also ganz erkennbar Sinnentwürfe von heute aus. Sie sind frei von dem Wahrheitsanspruch der Geschichte. Wenn Romanautoren davon sprechen, dass sie jetzt einen historischen Roman vorlegen, aber es weiterhin Roman nennen, nehmen sie sich alle Freiheiten zu schreiben, was sie wollen, und nehmen dann die Vorlage der Geschichte nur als Vorlage."
"Warum machen sie das? Sie könnten ja auch, so wie sie sich meistens hineinvertiefen müssen in ein fremdes Leben oder mehrere fremde Leben, auch eine historische Abhandlung schreiben oder einen biographischen Essay oder ein Sachbuch oder eine Biographie über diese Menschen, warum schreiben sie trotzdem einen Roman? Das wird, je nach Medium, wahrscheinlich verschiedene Gründe haben. Beim Film würde ich eher denken, dass da auch der Unterhaltungsanspruch und der Anspruch, Bilder dafür finden zu können, eine Rolle spielt, bei der Literatur fehlt ein solcher Zwang."
Thomas Macho: //"Und heute ist es so, dass es natürlich diese großartigen Journalisten und Reporter nach wie vor gibt - ein bisschen weniger bemerkt vielleicht als früher, weil sie durch viele andere Medien konkurriert werden, aber dass eben auch Literaten das aufnehmen und versuchen und damit experimentieren. Denken wir vielleicht an den Roman 'Macht und Widerstand' von Ilja Trojanow, in den sind original Stasi-Dokumente eingearbeitet. Alle 30 Seiten kommt, in anderer Type gesetzt, kommen seitenwiese mit geschwärzten Stellen Dokumente, und die sind eins zu eins echte Stasi-Dokumente, die eben eingebaut sind in diese Geschichte von Anpassung und eben verzweifeltem und hohes Risiko kostenden Widerstand auf der anderen Seite.
Oder man denkt an einen Komödianten wie Laurent Pinet, der einen Roman schreibt mit einer klassischen Kriminalgeschichte als Grundlagenfolie, und dann treten sämtliche Heroen der französischen Geistes- und Ideengeschichte der letzten 50 Jahre auf – von Roland Barthes über Michel Foucault, und natürlich in den komischsten Szenerien.
Das ist sozusagen auf eine andere Weise dokumentarisch; das ist jetzt nicht dokumentarisch im Sinne von: Ich erzähle eine Geschichte, die noch zu selten erzählt worden ist, wie der Lanigan, oder ich erzähle Euch etwas über das Leben hinter dem Eisernen Vorhang anhand von originalen Dokumenten, die ich neu montiere wie bei Trojanow, oder eben bei Laurent Pinet: Ich mache jetzt eine grandiose Persiflage auf französische Theoriegeschichte, indem ich die alle in den absurdesten Situationen auftreten lasse – Kristeva, Philippe Solaire, alle spielen da ihre Rollen, die wenigsten davon haben sozusagen eine strahlende, eine Heldenrolle, sondern sie werden alle sozusagen als Travestie ihrer selbst vorgeführt."//
Reagiert da die Literatur auf den Film? Oder der Film auf die Literatur?
Das ist offenbar ein entscheidender Unterschied der heutigen zu früherer historischer Literatur: Sie haben Hauptfiguren, keine Helden.
Thomas Macho: "Heute sind es keine Helden mehr in diesen historischen Geschichten, sondern sie sind entweder Opfer, oder es sind sozusagen Mitläufer der jeweiligen Macht, die natürlich auch der Kritik anheimfallen, oder es sind auch sozusagen eben komische Helden, aber ganz selten eben Helden, die noch heroisiert und idealisiert werden können."
Oder sie sind Stellvertreter für die Autorinnen und Autoren – und damit auch für die Leserinnen und Leser.
Jörg Plath: "Der zweite Grund könnte sein, der Einfluss vom Film auf jeden Fall. Das ist bei den Stoffen, die mit Personen verbunden sind, noch deutlicher, also den sogenannten Biopics, wie es im Film heißt, also den Filmen über historische Figuren. Das gibt es jetzt auch verstärkt im Roman, im anspruchsvollen Roman, und auch da glaube ich, man spiegelt sich, man sucht einen Widerpart."
Reagiert da die Literatur auf den Film? Oder der Film auf die Literatur? Oder reagieren nicht doch beide Genres auf dieselbe historische Entwicklung?
Dieter Kosslick: //"Es gibt ja eine große Debatte über den Verlust der Identität durch diese ganze Globalisierung und auch durch die Zuwanderung, wie man so schön sagt, also durch die Flüchtlingsbewegung, die wir haben, durch diese Migration, da versucht man jetzt, irgendwie etwas zu klären. Also es gibt ja auch eine Debatte – die gibt es ja auch schon länger und die braust immer wieder hoch, ob es überhaupt noch eine deutsche Identität gibt durch diese ganzen Phänomene, und da besteht dann doch eine Sehnsucht, sich noch einmal zu versichern, wie das eigentlich alles war und wo das eigentlich alles herkommt.
Und was man früher mehr über Bücher gemacht hat, kommt jetzt auch in den Filmbereich, wo wir auch als Festivals tätig sind, es hat es ihn immer gegeben im normalen kommerziellen Kino, es hat immer Spartacus gegeben, es hat immer Ben Hur gegeben, es hat immer Sandalenfilme gegeben, die natürlich mit unglaublicher Verzerrung und Mythen versucht haben, Geschichte zu erklären. Aber heute ist es, glaube ich, eher so ein individuelles Gefühl: Ich möchte wissen, wo ich selbst stehe. Bin ich jetzt Deutscher? Haben wir damit etwas zu tun, was in der Welt passiert? Ich sehe es eher als ein Phänomen der Globalisierung."//
Thomas Macho: "Das halte ich für ganz entscheidend und wichtig und was die jüngsten Publikationen ja auch kennzeichnet, und auch Filme, das ist tatsächlich etwas, das aufbricht im Zuge neuerer Migrationsprozesse und des Versuchs, jetzt quasi sich in irgendwelche nostalgischen, womöglich sogar rechten, identitären Positionen hineinzuphantasieren und zu retten."
"Das Komische an diesen Geschichten ist natürlich auch, dass sie noch unrealistischer sind als die Vorstellung, man könnte die Gegenwart für immer festhalten, weil sie davon ausgehen, dass es früher irgendwie besser gewesen sein muss - in den 50er-Jahren. Man hätte dann einfach Lust, die Leute per Zeitreise für eine Woche in die Fünfzigerjahre zu versetzen und zu gucken, wie sie damit zurechtkommen – zum Beispiel schon allein, wenn sie Abendessen gehen wollen und feststellen, es gibt keine türkischen, persischen und chinesischen, italienischen und so weiter Restaurants, weil die alle erst entstanden sind im Zuge der Migration mit Gastarbeitern und so weiter."
Zentrum für politische Schönheit:
"Möchtest Du Geschichte schreiben? Nee, will ich nicht." … "Would I like to write history? Yeah, sure." … "Willst Du Geschichte schreiben? Sprichst Du deutsch? Ja. Boah, die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Nö, muss nicht sein." … "Ich hab schon Geschichte geschrieben." "Meine eigene ja" … "Das Leben ist doch eine Geschichte."
Im Vorspann von Filmen, die in der Vergangenheit spielen, wird häufig, als sei das allein schon ein Qualitätsmerkmal, die Zeile eingeblendet:
"Nach einer wahren Geschichte"
Etwas vorsichtiger haben die Produzenten von "Promise" agiert, da lesen die Zuschauer:
"Inspiriert von wahren Begebenheiten"
Entscheidend ist aber eh das, was der deutsche Untertitel von "Promise" verspricht:
"Die Erinnerung bleibt."
Nichts lagert so mächtig in den Tiefen der Erinnerung wie ein Bild, das fest mit einer Emotion verbunden ist. Und genau daran, an Bilder und von ihnen ausgelöste Gefühle sollen wir uns erinnern, wenn wir das Kino verlassen.
"Historiendrama, Romanze, moralisches Mahnmal."
Auf diesen Dreiklang hat die "Süddeutsche Zeitung" "The Promise" gebracht, und der "Spiegel" schrieb:
"Große Gefühle vor blutigem Gemetzel, Kitsch und Härte, Bombast und Wahrheit."
Was ist die historische Wahrheit in einem solchen Film? Vielleicht liegt die Wahrheit eines Films, um es mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu sagen, in der "Macht der Gefühle".
Ute Frevert ist Direktorin des Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Sie erforscht die Geschichte der Gefühle und betont immer wieder deren Historizität, also ihre Veränderlichkeit. In einem Vortrag mit dem Titel "Vergängliche Gefühle" erläuterte sie:
"Zwischen Ausdruck und Eindruck gibt es eine Verbindung. Und die Art und Weise, wie ein Gefühl ausgedrückt oder eben nicht ausgedrückt wird, durch Sprache, Gebärde, wirkt auf das Gefühl und seine Empfindung zurück. Diese Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf die sozialen Praktiken, in denen sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Teil dieser Praktiken sind die Medien, die Sprache der Gefühle, sie sie nun gesprochen, gesungen oder geschrieben, gemalt, gefilmt oder skulptiert. Diese Sprache lebt in einem bestimmten Kontext, in einem bestimmten Raum, in einer bestimmten Zeit."
Vielleicht haben Film und Literatur, die als Medien unsere heutige Gesellschaft nachhaltig prägen und gleichzeitig als Medien Gefühlen zum Ausdruck verhelfen, vor dem Thema Geschichte gerade deswegen lange einen besonderen Respekt verspürt, weil die Verbindung von Geschichte und Emotion selbst wiederum eine lange, über weite Strecken unrühmliche Geschichte geschrieben hat: die Geschichte des Pathos. Vielleicht musste erst das "Ende der Geschichte erklärt werden", um der Pathos-Falle bei der Kombination von Geschichte und Emotion entkommen zu können.
Thomas Macho: "Ich glaube dass auch für den Film gilt, dass das alte Pathos verbraucht ist und dass gerade wenn das alte Pathos verbraucht ist und man es nicht mehr so erzählen kann, neue Möglichkeiten des Erzählens, auch neue Möglichkeiten von der Verschränkung von Tragischem und Komischem sich auftun."
Trailer: "Ich glaube, ich habe etwas verstanden: Alle Philosophen haben bisher immer nur interpretiert, die ganze Welt interpretiert. Aber man muss sie verändern."
Zu den historischen Filmen, die auf der letzten Berlinale gezeigt wurden, gehört "Der junge Karl Marx" von Raoul Peck.
Kosslick: "Der Unterschied ist, dass der Kostümfilm bei komplexen Themen wie Karl Marx manchmal vielleicht die Rettung ist. Das wurde ja sehr unterschiedlich aufgenommen. Das wäre vor 20, 30 Jahren eine theoretische Auseinandersetzung geworden, und der Film würde anders aussehen, wenn Pasolini ihn gemacht hätte. Es ist ja nun mal ein sehr schwieriges Thema, finde ich … das deutsche Phänomen und zwei deutsche Kommunisten, ohne dass man darüber lachen muss, zu zeigen, wie sie zu Hause waren und was sie sonst noch so gemacht haben, wenn die Ehefrau weg war, in London, also vielleicht versuchte man, das verständlich zu machen: dass auch Karl Marx ein Mensch war."
Macho: //"Es gibt natürlich auch eine neue Geschichtswissenschaft. Ich glaube, dass diese neuen historischen Stoffe auch etwas damit zu tun haben, dass nach Jahrzehnten der, man müsste fast sagen: Verödung der Geschichtswissenschaft, und zwar sowohl durch einen bestimmten Typus von Sozialgeschichte, die statistikbasiert und streng funktioniert hat, als auch durch Systemtheorie und Strukturalismus verödete Geschichte, sich plötzlich wieder auf die narrativen Wurzeln besinnt.
Und wir lesen neuerdings Geschichtswerke wie Sachbücher, so gut sind die geschrieben, ich denke da an das Buch über die Geschichte des Kongo, das ein großartiges Buch ist, aber eben zum Teil auf direkten Interviews basiert, die auch referiert, und vor allem auch fantastisch erzählt ist, das ist eine großartige Erzählung."//
Thomas Macho referiert auf "Kongo. Eine Geschichte" von David Van Reybrouck aus dem Jahr 2010. Ist diese Art, Geschichte zu betrachten, aufzuschreiben und zu verbreiten, die endgültige Zurücknahme des Kollektivsingulars Geschichte, die Auflösung der Geschichte in Geschichten?
Macho: "Ein Stück weit ist das eine Zurücknahme. Ein Stück weit ist das auch das Aufnehmen jener geschichtswissenschaftlichen Forschungsmethoden, die unter dem Titel Oral History auch längst bekannt waren, aber es ist auch die Erinnerung daran, dass Geschichte vor allem erzählt werden muss und dass sie nicht einfach nur sozusagen aus der großen Distanz einer quellenkritischen Theorieüberheblichkeit heraus vermittelt werden kann, sondern dass sie sozusagen mit aller narrativen Anschaulichkeit."
Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.
Befand Ingeborg Bachmann. Ist der Kollektivsingular Geschichte erst einmal zurückgenommen, scheint es viel leichter zu fallen, mit der Geschichte zu spielen und auch, von ihr zu lernen. Nur - dass sie dann vielleicht gar nicht mehr so viel lehrt.