Non-binäre sexuelle Identität
Sind selbst körperliche Geschlechtsmerkmale eine gesellschaftliche Konstruktion? © Getty Images / iStockphoto
Wenn weder die Kategorie "Frau" noch "Mann" passt
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Immer mehr Menschen können oder wollen sich keinem biologischen Geschlecht zuordnen. Für sie ist die Einteilung in Mann oder Frau eine soziale Konstruktion, die ihnen aufgezwungen wird. Kann von Non-Binären eine zweite sexuelle Revolution ausgehen?
"Ich wurde ganz oft für einen Jungen gehalten, so bis ich fünf war. Ich fand das dann einerseits cool, und andererseits so: Nein, ich bin ein Mädchen!", erinnert sich Kris Strobel, 34, Umweltwissenschaftler*in.
"Ich fand es aber auch irgendwie falsch, zu sagen, ich bin ein Mädchen. Ich habe mich irgendwie nie irgendwo zugehörig gefühlt, weder zu den Jungs noch zu den Mädchen."
Auch Schauspieler*in Nic* Reitzenstein, 42, hatte in der Kindheit Schwierigkeiten, sich klar einem Geschlecht zuzuordnen, obwohl Nic* sich anfangs eher mit Jungs identifziert hat:
"Aber das hat sich dann irgendwann ausgewachsen, weil ich wollte ja kein Junge sein. Das war bloß mein erster Zugriff auf mein inneres Gefühl, sozusagen."
Wir performen ein soziales Geschlecht
Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir prägte bereits 1949 den berühmten Satz: „Man wird nicht als Frau geboren – man wird es.“ Und das durch gesellschaftlichen Druck. Frauen performen sozusagen unaufhörlich ihr soziales Geschlecht.
1990 ging die Theoretiker*in Judith Butler in ihrem Werk "Das Unbehagen der Geschlechter" sogar noch weiter: Von biologischen Geschlechtsmerkmalen – weiblichen oder männlichen – könne erstens nicht per se auf das soziale Geschlecht geschlossen werden. Und zweitens seien selbst die körperlichen Unterscheidungsmerkmale, also z.B. "Penis gleich männlich" oder "Uterus gleich weiblich", sozial konstruiert.
Jede Form der Binarität, egal ob biologisch oder sozial, sei letztlich menschengemacht und verstetige sich durch permanentes Wiederholen im Diskurs. An ihr müsse man rütteln, sie dekonstruieren, denn sie stützte die patriarchalen Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft.
Das Recht, sich selbst immer wieder neu zu konstruieren
"Es gibt Dinge, die weiß nur ich über mich, aber die stehen nicht von Anfang an fest und für immer", sagt Sasha Marianna Salzmann, 36, Dramaturg*in und Schriftsteller*in.
"Eigentlich muss es allen Menschen möglich gemacht werden, permanent zu erkunden, was gerade stimmt und was nicht und die Möglichkeiten müssten daran angepasst werden, solange das niemandem anderen schadet."
Intergeschlechtlichkeit gab es schon in der Antike
Die moderne Gesellschaft hat sich offenbar darauf geeinigt, dass es nur Männer und Frauen gibt, das erscheint "natürlich". Dabei gab es andere Formen der Geschlechtlichkeit schon immer. Ob in der Bibel, bei Ovid oder Shakespeare, ob bei den Hijras in Südasien, den Two Spirits in den indigenen Gemeinschaften Nordamerikas oder im Preußischen Allgemeinen Landrecht aus dem Jahr 1794, das die Existenz intergeschlechtlicher Menschen sogar juristisch anerkannte. Neu erscheinen höchstes die Begriffe: "das dritte Geschlecht", "divers" und seit einiger Zeit eben "nonbinär".
"Ich glaube, dass Sprache das Denken wie einen Muskel trainiert", sagt Sasha Marianna Salzmann. "Sobald du ein neues Wort hast, eine neue Herausforderung, weitet sich etwas im Kopf. Und dann kann man immer noch nein sagen, aber man sieht es, man hat eigene Konturen dazu."
Eine zweite sexuelle Revolution?
Frau- oder Mannsein impliziert bis heute Wertungen, Rollenerwartungen, Zuschreibungen und Privilegien. Sich aus diesen Diskursen über geschlechtsspezifische Vorurteile zurückzuziehen, wird nonbinären Menschen von einigen Feministinnen vorgeworfen.
Nonbinäre könnten darauf antworten, sie seien dieser Debatte einen Schritt voraus. Sie stießen eine zweite sexuelle Revolution an, die die Ungleichbehandlung der Geschlechter endgültig beilegen könne, indem sie die Geschlechtsidentität vom Körper loslöse, ganz im Sinne Judith Butlers.
Mehr als eine Modererscheinung
Nonbinäre Menschen sind noch in der Minderheit, aber sie werden zunehmend selbstverständlich. Für sie ist das keine Mode, sondern schlicht und ergreifend ihre Identität, die endlich einen Namen hat.
"Was ich nämlich am Anfang auch mit mir diskutiert habe vor ein paar Jahren, war, ob ich vielleicht trans bin? Und dann war aber ganz schnell klar, nein, ich bin auf keinen Fall transmännlich", sagt Kris Strobel .
"Und dann war wieder diese Verwirrung: Irgendwie fühle ich mich nicht als Frau, ich möchte auch kein Mann sein, was bin ich? Bis dieser Begriff auf mich zukam und ich gedacht habe, wow, okay, der ist voll gut. Der passt richtig richtig gut. Und ich glaube, das bin ich."