Streit um Zweigeschlechtlichkeit

Aufräumen mit einem Missverständnis

Ein Hand im blauen Handschuh legt Y uznd X zurecht - in Anspielung auf die beiden Chromosomen (Symbolbild)
Einfache klare Kategorien haben eine große Erklärungskraft, das gilt nicht nur beim Geschlecht. (Symbolbild) © Getty Images/Science Photo Libra
Ein Kommentar von Jörg Phil Friedrich |
Die Lehre von X- und Y-Chromosomen, die Benachteiligung von Frauen: Zweigeschlechtlichkeit macht vieles plausibel. Doch die Binaritätsfrage spaltet. Der Philosoph Jörg Phil Friedrich meint jedoch, beide Perspektiven müssten nicht im Widerspruch stehen.
Wie viele Geschlechter gibt es bei den Menschen? Darüber herrscht ein erbitterter Streit in der Gesellschaft. Für die einen ist es augenscheinlich, dass genau zwei Geschlechter existieren, das männliche und das weibliche. Andere sehen es als erwiesen an, dass es viele Geschlechter gibt, oder vielleicht auch gar keins. Beide Seiten werfen einander vor, wahlweise reaktionär oder „woke“ zu sein, die Gegensätze scheinen unüberbrückbar. Der Streit scheint zu den Rissen beizutragen, die unsere Gesellschaft immer stärker in feindlich gegenüberstehende Lager spalten.
Aber vielleicht reden die Streitenden auch aneinander vorbei, womöglich reden sie über ganz Verschiedenes.

Zwei Sorten von Alltagserfahrungen

Schauen wir genauer hin, bemerken wir schnell, dass es zwei Sorten von Alltagserfahrungen gibt: Die eine betrifft die vielen fremden Menschen, denen wir täglich begegnen, persönlich, in den Medien, in Geschichten. Die andere betrifft Personen, mit denen wir näher in Kontakt kommen, die wir genauer kennenlernen als Familienmitglieder, im Büro oder in der Freizeit.
Bei Fremden auf der Straße, bei Figuren im Roman oder im Film, bei denen, die Fernsehsendungen moderieren oder interviewt werden, sind wir spontan sicher: Das ist eine Frau oder das ist ein Mann. Wenn Sie mir gerade zuhören, werden Sie auch spontan darüber sicher sein, schon, als Sie vorhin meinen Namen gehört haben – und das ist ganz unabhängig davon, ob Sie im Streit die Meinung vertreten, dass es genau zwei Geschlechter gibt, oder sagen, dass da derer viele sind.
Wenn wir uns genauer kennenlernen würden, dann würden Sie vielleicht unsicher werden. Womöglich wären Sie von irgendetwas irritiert, was Ihr ursprüngliches Urteil infrage stellte. Bei einer einzelnen Person kann es immer sein, dass sich herausstellt, dass die gängigen Kategorien nicht passen.

Erklärungskraft einfacher Kategorien

Man kann das akzeptieren und dennoch weiter der Ansicht sein, dass es zwei Geschlechter gibt. Die meisten von uns haben in der Schule etwas vom X- und vom Y-Chromosom gelernt, und das hat plausibel gemacht, dass es nur zwei Geschlechter geben kann. Wir wissen zudem, dass es für die Zeugung von Kindern einen weiblichen und einen männlichen Elternteil geben muss. Es gibt politische Diskussionen um die Benachteiligung von Frauen, es gibt statistische Untersuchungen über die Häufigkeit von Krankheiten, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen. Vieles wird plausibel, wenn wir von der Zweigeschlechtlichkeit ausgehen.
Einfache klare Kategorien haben eine große Erklärungskraft, das gilt nicht nur beim Geschlecht. Wir reden oft in einfachen Begriffen von der vielfältigen Welt, als ob es ganz klar wäre, welche Dinge mit diesen Begriffen zu bezeichnen sind, aber wenn wir uns die konkreten Dinge in der Welt ansehen, haben wir auch kein Problem damit, dass es schwer ist, sie in die richtigen Schubladen einzusortieren.

Mann-Frau-Kategorien in der Praxis nützlich

Männer und Frauen gibt es auf jeden Fall in unserem Denken, weil wir damit in der Welt gut zurechtkommen, vor allem, wenn wir es mit den vielen fremden Menschen zu tun haben, die uns umgeben. Dabei ist es zunächst unwichtig, ob diese Kategorien im Laufe der Geschichte konstruiert wurden oder ob sie biologisch eindeutig bestimmt sind – sie sind in der Praxis nützlich. Diese Praxis kann sich ändern, und dagegen ist gar nichts zu sagen, aber im Moment ist sie so, und davon muss man ausgehen, wenn man etwas ändern will.
Genauso selbstverständlich ist aber die Erfahrung, dass im Einzelfall viele Menschen nicht in die einfachen Kategorien passen, da die Vielfalt der Möglichkeiten, die es real gibt, riesig ist. Beides muss nicht im Widerspruch stehen. Die Person, die eindeutig in eine Kategorie passt, ist genau so einmalig und ungewöhnlich wie die, für die diese simplen Kategorien nicht ausreichen. Wenn wir das anerkennen, gibt es keinen Grund zum Streiten mehr.

Jörg Phil Friedrich (geb. 1965) ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster und lebt bis heute von der Softwareentwicklung und vom Schreiben philosophischer Texte. Zuletzt erschien sein Buch „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“ (Alber 2019).

Porträtaufnahme von Jörg Phil Friedrich.
© Heike Rost
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