Geschlechterkampf in Israel

Von Ayala Goldmann |
In Jerusalem fordern ultraorthodoxe Juden getrennte Räume für Männer und Frauen - in Bussen, Krankenhäusern oder sogar auf Friedhöfen. Immer mehr säkulare Stadtbewohner wollen sich das nicht länger gefallen lassen.
Mea Shearim, das bekannteste ultraorthodoxe jüdische Viertel mitten in Jerusalem. Durch die enge Hauptstraße "Rechov Strauß" zwängt sich am Freitagmittag dichter Verkehr. An einer Bushaltestelle warten Dutzende von strengreligiösen Männern mit Schläfenlocken in schwarzen Kaftans und Frauen mit Perücken und in langen Röcken auf den Autobus Nummer 56. Er soll sie vor Einbruch des Schabbat nach Ramat Schlomo bringen, einer ultraorthodoxen Siedlung nördlich von Jerusalem.

Alle Fahrgäste bezahlen vorne beim Fahrer - doch dann nehmen sie ihre Plätze getrennt nach Geschlechtern ein: Frauen und Mädchen gehen in den hinteren Teil des Busses, die Männer setzen sich vorne hin.

Es ist eindeutig der unbequemere Teil des Fahrzeugs, in dem die weibliche Bevölkerung Platz nimmt. Der lange Bus schert hinten aus, der Boden schwankt, die Luft ist schlecht. Dabei dürfte eigentlich jeder Fahrgast sitzen, wo er möchte - so steht es zumindest auf einem Aufkleber, der groß und deutlich auf der Wand hinter dem Fahrersitz prangt.

Im Januar 2011 hatte das Oberste Israelische Gericht die Geschlechtertrennung in etwa 70 israelischen Buslinien für illegal erklärt. Diese Buslinien werden als "Mehadrin" - streng koscher - bezeichnet und werden vor allem von Ultraorthodoxen genutzt. Nun sind die Busfahrer angehalten, dafür zu sorgen, dass auf Freiwilligkeit bei der Platzwahl geachtet wird. Doch der israelische Reformrabbiner Uri Regev hat Zweifel an der praktischen Umsetzung:

"Sogar der Polizeipräsident hat in der Knesset, im israelischen Parlament, gesagt, dass die Gewalt gegen Frauen in den Bussen schlimmer ist, als öffentlich bekannt wird. Und der Vertreter der Busgesellschaft Egged erklärte, dass die Busfahrer mit einem ganzen Haufen von Aufklebern ausrücken müssen, weil die Sticker in den Bussen fast immer abgerissen werden."

Sie wirken ruhig, sie unterhalten sich über alltägliche Probleme. Haben sich die ultraorthodoxen Frauen in Bus Nummer 56 mit den hinteren Plätzen abgefunden? Das sehe nur so aus, sagt die Jerusalemer Stadträtin Rachel Azaria:

"Mich haben schon viele ultraorthodoxe Frauen angerufen und mir gesagt, wie sehr sie das ganze hassen. Eine von ihnen meinte: 'Das ist so schwer, mit den kleinen Kindern hinten einzusteigen, und dann extra noch mal zum Fahrer zu gehen, um zu bezahlen, und der Ehemann sitzt vorne.' Ich denke, es ist unsere Verantwortung als religiöse Juden, ein Missverständnis aufzuklären: Diese Geschlechtertrennung hat mit dem Judentum überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil. Das ist einfach eine Erfindung."

Längst nicht alle ultraorthodoxen Juden unterstützen die Geschlechtertrennung, sondern vor allem Rabbiner des Chassidismus, einer volkstümlichen jüdischen Strömung, die ihre Wurzeln in Osteuropa hat. Doch die meisten anderen Ultraorthodoxen ziehen nach, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, nicht religiös genug zu sein. Die Idee zur Trennung der Geschlechter in Bussen ging 1988 von dem kürzlich verstorbenen Admor von Vishnitz aus - einem der einflussreichsten chassidischen Führer.

Auch Shlomo Rosenstein ist ein Vishnitzer Chassid. Eine Etage über Rachel Azaria hat er sein Büro in der Jerusalemer Stadtverwaltung. Der Stadtrat Rosenstein trägt einen langen weißen Bart, ist Vater von acht Kindern und gehört der ultraorthodoxen Partei "Das Tora-Judentum" an.

"Was zur Geschlechtertrennung geführt hat, ist die zunehmende Verkommenheit der westlichen Kultur, aber auch Entwicklungen innerhalb des Chassidismus von Vishnitz. Das war ursprünglich eine ganz kleine Gruppe. Nach der Shoa sind sie mit nur vier Anhängern nach Israel eingewandert, aber heute haben sie 20.000 Schüler. Früher lebten die Vishnitzer Chassidim nur im orthodoxen Bnei Brak, aber heute in neun verschiedenen Städten, sie fahren mit Bussen von Ort zu Ort, und offenbar hat sich der Admor von Vishnitz deshalb für die Geschlechtertrennung interessiert."

Stadtrat Rosenstein ist voll und ganz auf Linie seines verstorbenen religiösen Führers:

"In den Bussen ist es sehr eng - und das ist nicht angenehm. Wir verteidigen unsere Frauen, wir verteidigen ihre Ehre. Deshalb ermöglichen wir ihnen, alleine zu sitzen, und es geht nicht um hinten oder vorne, man könnte die Seiten auch vertauschen. Für die Frauen ist es so einfach angenehmer - es gibt keine Anzüglichkeiten, keine Blicke, keine Belästigung. Und diese Geschlechtertrennung existiert doch nur in den Buslinien der Ultraorthodoxen."

Aber die Strenggläubigen besitzen keine eigenen Busse - die sogenannten Mehadrin-Linien werden von der staatlichen israelischen Busgesellschaft Egged betrieben. Nur etwa neun bis zwölf Prozent der israelischen Bevölkerung zählen zur Ultraorthodoxie; die getrennten Busse galten lange Zeit als Nischenproblem. Säkulare und gemäßigt religiöse Israelis schüttelten den Kopf über die merkwürdigen neuen Bräuche ihrer ultraorthodoxen Landsleute - und schwiegen. Bis die Jerusalemer Stadtverordnete Rachel Azaria Schlagzeilen machte.

Die 34 Jahre alte Mutter von drei Töchtern, die sich selbst als modern-orthodox bezeichnet, ist zur Gallionsfigur gegen die Diskriminierung von Frauen geworden. Ihr Aha-Erlebnis hatte Rachel Azaria im November 2008, als sie mit einer eigenen Liste für das Stadtparlament kandidierte. In Jerusalem stellen ultraorthodoxe Juden immerhin ein Drittel der Bevölkerung, seit Jahren regieren ihre Parteien die Stadt in wechselnden Koalitionen mit. Rachel Azaria plante, wie in Jerusalem üblich, Wahlplakate auf innerstädtische Busse der Gesellschaft "Egged" kleben zu lassen. Sie hatte ihre Kampagne bereits mit dem zuständigen Mitarbeiter der Egged-Kooperative abgesprochen:

"Aber einen Moment, bevor er den Hörer auflegte, sagte er: 'Sie wissen doch, dass in Jerusalem keine Bilder von Frauen auf Autobusse geklebt werden. Wer führt eure Wahlliste an?' Ich sagte: 'Ich - eine religiöse Frau, verheiratet, Mutter mehrerer Kinder. Auf meinem Foto ist nur mein Gesicht zu erkennen, das ist ein anständiges Bild, ich trete nicht im Badeanzug an.' Aber er sagte mir: 'Das spielt keine Rolle. Es gibt keine Bilder von Frauen auf Autobussen in Jerusalem.'"

In diesem Moment, sagte Rachel Azaria, begannen bei ihr die Alarmglocken zu läuten:

"Ich war ziemlich schockiert, habe den Hörer aufgelegt und mir die Busse angeschaut, die vorbeifuhren. Auf den ersten Bussen waren Bilder von Kandidaten für den Stadtrat - alles Männer. Dann kam ein Bus mit einem Werbeplakat für die Allgemeine Krankenkasse: 'Das Beste für die Familie' - mit einem Foto von Vätern und Söhnen. Das nächste Bild: Ein Bus mit Werbung für einen Hochzeitssaal. Ein gedeckter Tisch, ein Blumenstrauß, der Traubaldachin und der Bräutigam."

Die Braut war auf dem Hochzeitsfoto nicht zu sehen.

"Und ich erinnere mich, dass ich total verblüfft war, denn es war mir noch nie aufgefallen, dass die Frauen verschwunden sind. Und dann dachte ich mir, wenn wir dieses Phänomen nicht bekämpfen, dann wird es dazu führen, dass wir alle Errungenschaften des Feminismus in den vergangenen beiden Generationen verlieren. Das lassen wir uns nicht bieten, sagte ich mir. Man kann uns Frauen nicht einfach aus dem öffentlichen Raum verbannen."

Rachel Azaria klagte - und sie bekam Recht. Am Tag der Wahl klebte das Plakat mit ihrem Gesicht auf den Jerusalemer Bussen .Sie wurde in den Stadtrat gewählt und saß mit in der neuen Regierungskoalition, zuständig für kommunale Verwaltung und Kindertagesstätten. Doch ihr Kampf für Frauenrechte ging den Strenggläubigen sehr bald zu weit. Die nächste Kraftprobe kostete sie ihr Amt.

Zum Laubhüttenfest Sukkot im Herbst 2011 hatten Ultraorthodoxe in ihrem Viertel Mea Shearim eine 1,80 Meter hohe Trennwand mitten auf der Straße aufgestellt und separate Bürgersteige für Männer und Frauen abgesteckt. Wieder klagte Rachel Azaria, das Oberste Gericht gab ihrer Klage statt - doch sofort darauf enthob der Jerusalemer Bürgermeister Nir Barkat die Stadträtin ihres Amtes. Diskret und ohne Konsequenzen, wie er dachte. Aber der Vorfall machte Schlagzeilen und Rachel Azaria wurde zum Vorbild für viele:

"Auf einmal hat der Staat Israel verstanden, was mir drei Jahre vorher klar geworden war: Und heute ist allen klar, dass es verboten ist, Männer und Frauen zu trennen, dass es verboten ist, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Also würde ich im Nachhinein sagen, dass mein Opfer es wert war."

Im Dezember 2011 kochte das Thema in den israelischen und auch internationalen Medien erneut hoch. Der liberale Rabbiner Uri Regev, der in Jerusalem das Zentrum "Chiddusch" für Religionsfreiheit und Gleichheit leitet, erinnert sich daran, wie ein achtjähriges Mädchen aus der Stadt Beit Schemesch auf dem Schulweg angespuckt wurde, weil sie angeblich nicht anständig gekleidet war:

"Was mich erschüttert hat und viele andere in Israel, das war die Geschichte von Naama Margolis. Ein ultraorthodoxer Extremist warf ihr vor, unzüchtige Kleidung zu tragen und ihn damit sexuell zu reizen. Das Ironische daran ist natürlich, dass die Familie Margolis selbst eine orthodoxe Familie ist."

Seitdem hat der Kampf um die Rechte der Frauen an Fahrt gewonnen. Das Israeli Religious Action Center (IRAC), das der Reformbewegung nahesteht, hat schon vor einiger Zeit eine Hotline für Frauen eingerichtet, die unter Geschlechtertrennung leiden. Rechtsanwältin Orly Erez-Likhovski kümmert sich um die Fälle:

"Wir haben Freiwillige auf bestimmten Buslinien, die schauen, was passiert, wenn Frauen sich vorne hinsetzen. Ich glaube, das gibt auch den orthodoxen Frauen mehr Kraft, wenn sie sehen, dass Frauen vorne sitzen. Wir versuchen, so viele Buslinien wie möglich zu beobachten, und wenn es Probleme gibt, dann reichen wir Beschwerden ein oder stellen Entschädigungsforderungen. Wir überlassen die Sache nicht dem Obersten Gericht, sondern versuchen, im Alltagsleben Änderungen zu erreichen."

Doch der Kampf ist lang und mühselig. Geschlechtertrennung ist längst nicht mehr nur eine Frage, die in Bussen eine Rolle spielt.

An der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt gibt es bereits seit Jahrzehnten getrennte Bereiche. Während für die Männer die linke Seite der Mauer reserviert ist, werden die Frauen zum Beten in den wesentlich kleineren rechten Bereich abgedrängt. Kritiker sagen, die Klagemauer sei in eine riesige orthodoxe Synagoge verwandelt worden.

Selbst in Krankenhäusern und einigen Supermärkten ultraorthodoxer Juden werden Frauen und Männer mittlerweile separiert. Und sogar vor Friedhofstoren macht die Geschlechtertrennung nicht Halt. Frauen wird untersagt, Grabreden zu halten, oder sie dürfen nicht am Trauerzug teilnehmen. Die Anwältin Orly Erez-Likhovski, selbst eine religiöse Jüdin, musste dies im Freundeskreis miterleben:

"Ich war einmal bei einer Beerdigung der Mutter einer engen Freundin, der nicht erlaubt wurde, am Grab ihrer Mutter zu stehen während der Beerdigung. Einfach, weil sie eine Frau ist. Das ist illegal, aber es passiert trotzdem."

Immer stärker ist auch das vermeintlich säkulare Israel betroffen: Extreme Ultraorthodoxe drohen mit einem Boykott der staatlichen Fluggesellschaft El Al, sollten sie keine getrennten Bereiche für Männer und Frauen anbieten. Rabbiner machen Druck, damit bei Feierlichkeiten der Armee keine singenden Frauen zu hören sind - ihre Stimmen klingen anstößig in den Ohren der Strenggläubigen. Unlängst wurde bei der feierlichen Vereidigung der Knesset, dem israelischen Parlament, dem gemischten Chor aus Frauen und Männern die Mitwirkung untersagt, als die Nationalhymne gespielt wurde.

Warum das alles? Die Jerusalemer Stadträtin Rachel Azaria sieht eine der Ursache in der Angst der ultraorthodoxen Gesellschaft vor Veränderung. Das Gesetz, das Studenten ultraorthodoxer Religionsschulen automatisch vom Militärdienst befreit, wurde unlängst vom Obersten Gericht für illegal erklärt. Und: Die Zahl der Ultraorthodoxen wächst stetig, und sie sind zunehmend gezwungen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Vor allem Frauen, die den Lebensunterhalt für die Familie verdienen, während ihre Männer die Tora studieren:

"Früher haben sie nur in orthodoxen Erziehungseinrichtungen gearbeitet und wenig verdient. Das hat sich geändert, die Frauen arbeiten in der Hightech-Branche und in Regierungsbüros, und sie kommen nach Hause und sind viel stärker als die Männer. Und wie kann man die Frau auf ihren Platz verweisen? Indem man darüber spricht, dass es unheilig sei, mit Frauen zusammen zu sein, und indem man die Frauen kleinmacht."

Uri Regev: "In der ganzen Welt gibt es eine religiöse Radikalisierung, im Islam und auch im Christentum. Aber das Besondere bei den Ultraorthodoxen in Israel ist ihre politische Fähigkeit, Druck auszuüben und das systematische In-die-Knie-gehen der politischen Systeme. Wenn man den Ultras Grenzen setzt, sind sie viel flexibler, als sie dich glauben machen möchten."

Davon ist der liberale Rabbiner Uri Regev fest überzeugt. Viele säkulare Israelis haben Angst davor, dass die Ultraorthodoxen mit ihrer hohen Geburtenrate eines Tages die gesamte politische Tagesordnung in Israel bestimmen könnten - Geschlechtertrennung inklusive. "Tel Aviv ist nicht Teheran" - dieser Ruf erklingt immer wieder bei Demonstrationen gegen den wachsenden Einfluss der Ultraorthodoxie.

Doch Rabbiner Uri Regev ist optimistisch: Durch entsprechende Gesetze könne der Staat einiges bewirken, sagt er. Vor allem müsse in Israel, einem Staat ohne grundlegende Verfassung, die Trennung von Staat und Religion und die Gleichberechtigung der Geschlechter gesetzlich verankert werden. Auch Maßnahmen wie die Kindergeldkürzung aus dem Jahr 2003 könnten einiges bewirken:

"In den vergangenen zehn Jahren ist die durchschnittliche Kinderzahl einer orthodoxen Familie von 7,5 auf 6,5 gesunken. Je mehr orthodoxe Frauen arbeiten und je weniger der Staat die Orthodoxen unterstützt, desto mehr wird das den Umfang der Familien beeinflussen."

Rachel Azaria: "Die Orthodoxen werden hier niemals die Mehrheit sein. So, wie sie jetzt leben, können sie nur in einer kleinen und geschlossenen Gesellschaft existieren."

Und: Säkulare und gemäßigte religiöse Juden in Israel müssten klar und deutlich auf ihre Werte pochen - dann könnten sie sich auch durchsetzen, meint die Jerusalemer Stadträtin Rachel Azaria:

"Das religiöse Multikulti hat dazu geführt, dass wir den Mund gehalten haben, und die Ultraorthodoxen haben gemacht, was sie wollten, weil es ja angeblich unsere Aufgabe ist, einer kleinen Gruppe ihren Lebensstil zu ermöglichen. Aber je mehr unser Selbstbewusstsein wächst, desto mehr Erfolg werden wir haben."


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