Die Stimmen von Frauen und Männern gleichen sich an. Doch beim Gehalt gibt es noch große Unterschiede. So auch im Literaturbetrieb, wo die Coronakrise längst überkommen geglaubte Strukturen verstärkt. "Wir brauchen eine neue Schwesternschaft" fordert deswegen die Bloggerin Emilia von Senger.
Comeback der Mädchenstimme?
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Männerstimme = tief, Frauenstimme = hoch. Das war einmal. In den letzten 50 Jahren haben sich die Stimmen von Frauen und Männern angenähert. Außer in der Werbung oder bei Instagram: Dort feiern akustische Stereotype ein fröhliches Revival.
Glaubt man den Lehrbüchern, liegt eine Männerstimme ungefähr um das große A, eine Frauenstimme genau eine Oktave höher. Doch die Wirklichkeit entspricht dem nicht immer, wie der Leipziger Stimmexperte Michael Fuchs in einer Untersuchung festgestellt hat.
"Wir haben eben mit der Studie gezeigt, schon bei den älteren Frauen, aber auch bei den jüngeren Frauen beginnend immer mehr, also schon ab dem 20., 25. Lebensjahr liegt die Sprechstimmlage der Frau bei 168 Hertz", so der Leiter der Sektion für Phoniatrie und Audiologie an der Leipziger Universitätsklinik.
"Das bedeutet, dass der Abstand zwischen Frauenstimme und Männerstimme ungefähr halbiert ist, also die Frauenstimmen sprechen deutlich tiefer, als man das in Lehrbüchern findet oder als das die allgemeine Erwartungshaltung ist. Erstmal waren wir erschrocken, weil wir dachten, da ist ein Messfehler aufgetreten. Denn so ein deutliches Abweichen von einem Erwartungswert gibt es selten in der Forschung."
Mit der Gleichberechtigung verschiebt sich auch die Stimmlage
Die Frauenstimme ist in den letzten 50 Jahren tiefer geworden. Doch weder hormonelle Veränderungen, noch das Rauchen oder eine biologische Entwicklungen am Kehlkopf sind die Ursachen dafür. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Untersuchung an der University of South Australia.
"Insofern ist das tiefere Sprechen bei den Frauen nichts was pathologisch, nichts was krankhaft ist, sondern es ist eine veränderte Benutzung der Stimme, um beim Hörer oder der Hörerin einen Effekt zu erzeugen."
Und diesen Effekt setzen Frauen unbewusst ein, meint Michael Fuchs. Soziologen erklären diese Stimmverschiebung mit einer zunehmenden Gleichberechtigung der Geschlechter – ein Muster, das auch in Schweden, den USA und Kanada festgestellt wurde.
Auch scheinen Frauen bewusst ihr stimmliches Profil ihrer Rolle anzupassen. Als Politikerin und Journalistin erlernen Frauen eine tiefere Sprechstimme, weil sie Autorität, Vertrauen und Kompetenz suggeriert. So senkte die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher durch ein Stimmtraining ihre Sprechstimmlage um eine halbe Oktave.
In der Werbung zeigt sich ein anderes Bild
"... Die große Festtagssparerei. Rinderfilet, das Kilo für 25,99 .. und frische Macarons für 3,90 Euro."
"Von der Intonation sehr, sehr variantenreich. Sehr bewegt", sagt die Sprachwissenschaftlerin Helga Kotthoff über die weibliche Stimme, die die Sonderangebote präsentiert.
"Solche Stimmen klingen sehr lebendig, die klingen hüpfend. Wir nennen das dann ikonisch. Also das hat so eine Hüpf-Ikonizität. Und Hüpfen ist ja auch ein kindliches Bewegungsmuster. Und diese Lidl-Stimme, die ist emotional aufgeladen, fröhlich."
Die Sprecherin, Mayke Dähn, ist die Freundinnenstimme der Nachmittagsunterhaltung. So beschreibt sie Helga Kotthoff. Während Männer und Frauen sich in den vergangenen 50 Jahren stimmlich natürlich angeglichen haben, distanzieren sie sich hörbar in medialen Kontexten voneinander. Ja, sie polarisieren. Inhaltlich wie auch in ihren Stimmverläufen. "Doing gender" nennen Geschlechterforscher:innen dieses Phänomen.
Das ist in den meisten Synchronisationen von Fernsehserien zu hören - und in der Werbung: Dort bewerben Männer Werkzeuge und Versicherungen in viriler, sonorer Stimme und Frauen Haushaltsprodukte und Lifestyle in emotionaler, kindlicher bis zuweilen erotisch behauchter Stimme.
"Die Selbststilisierung ist weitgehend genderisiert"
Helga Kotthoff vermutet dahinter einen der wichtigsten konservativen Faktoren im Erhalt von Geschlechter-Asymmetrie:
"Auf jeden Fall gibt es in vielen Kontexten ein Interesse daran, Geschlechterrollen beizubehalten. Das zeigt sich sehr stark in der Gestaltung des Äußeren auf allen Ebenen. Und Stimme gehört ja irgendwie zu einer Selbststilisierung. Und diese Selbststilisierung ist weitgehend genderisiert. Und da gibt es historisch keine großen Brüche."
Diese Gender-Zuschreibungen zeigen sich – äußerlich wie stimmlich – auf Instagram oder Youtube, wo junge Mädchen über Beauty-Channels weibliche Schönheit als Konsumgut auf die Spitze treiben, bemerkt Kotthoff:
"Na, wenn das nicht ein extremes Over-Doing von Gender ist, dann weiß ich es nicht. Und wenn ich mir angucke, wie junge Mädchen solchen Influencerinnen nachfolgen, dann ist das wirklich die Feier der aller binärsten Gender-Modelle."
Die Stimme ist in der Genderdebatte selten Thema
Worin sich Männer und Frauenstimmen aber unterscheiden, ist die Aufmerksamkeit und Kritik, die ihnen zuteil wird. Ob es die schrille Stimme von Hillary Clinton im TV Duell 2016 war oder die knarrenden und flatternden Stimmbänder – das so genannte Vocal frying – bei Reality-Star Kim Kardashian: Unsere Wahrnehmung von Stimmen ist in der Diskussion um Gleichstellung und Emanzipation von Frauen selten Thema. Dabei liegt auch hier der Schlüssel im Bewusstmachen der eigenen Erwartungen. Wenn eine Frau in einer Gesellschaft wirklich emanzipiert ist, dann braucht sie auch keine tiefe Stimme.