Zwei Millionen tote Frauen pro Jahr
Traditionell sei die Frau in Indien in einer vollkommen anderen Rolle, als wir das im Westen gewohnt seien, erklärt Asien-Korrespondent Christoph Hein. Es herrsche keinerlei Geschlechtergleichheit, was auch zu großem volkswirtschaftlichen Schaden führe.
Katrin Heise: "Indiens verdrängte Wahrheit" - so lautet der Titel des Buches von Christoph Hein und Georg Blume. Beide sind seit Jahren Asien-Korrespondenten verschiedenster Medien, häufig in Indien. Die beiden sprechen in ihrem Buch diese verdrängte Wahrheit aus. Zwei Millionen Menschen sterben in Indien wegen Geschlechterdiskriminierung, zwei Millionen Frauen jedes Jahr.
Wir erfahren hier ja immer wieder von schrecklichen Gewalttaten an indischen Frauen. Gerade wurden Todesurteile gegen Vergewaltiger verhängt. Aber die bekannt gewordenen Verbrechen, das ist natürlich immer nur die Spitze des Eisberges. Aber zwei Millionen getötete Frauen jedes Jahr, eine solche Zahl hätte wohl doch niemand für möglich gehalten.
Christoph Hein berichtet seit 1999 für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über die Region, lebt auch dort, und ich konnte ihn vor der Sendung sprechen und ihn fragen, wie sich diese Zahl eigentlich belegen lässt.
Christoph Hein: Wie wir auf die verdrängte Wahrheit gekommen sind, ist ganz einfach: durch Augenschein. Wir arbeiten beide seit Jahren in der Region, seit Jahren intensiv in Indien, reisen in Dörfer, sind in Slums, und es ist einfach augenfällig.
Die Öffentlichkeit hat das am Ende erst wahrgenommen, die westliche, durch diese Vergewaltigungsgeschichten, die ja jetzt auch wirklich im Mittelpunkt stehen, aber es ist natürlich eine alltägliche Gewalt. Die fängt an auf einer Ebene, wo man Embryonen, die weiblich sind, abtreibt, geht darüber, dass man Mädchen, junge Mädchen nicht ernährt, im Gegensatz zu den Jungs, weil es einfach sehr teuer ist, Mädchen zu ernähren, am Ende des Tages, wenn man kein Geld hat, und läuft dann darauf hinaus, dass man Ehefrauen verbrennt, in der Hoffnung, dass man ein weiteres Mal heiraten kann, eine zweite Mitgift bekommen, oder über Drohungen eine höhere Mitgift herausschlagen kann.
Also es ist ein ganzes Spektrum, was am Ende zu diesen zwei Millionen Inderinnen pro Jahr beiträgt.
Heise: Sie stützen sich in Ihrem Buch auch auf eine Forschungsarbeit von kanadischen Wissenschaftlern, durchaus auch indischer Herkunft. Wie haben die diese Zahlen, diese zwei Millionen dann tatsächlich herausgefunden?
Todesstatistiken in Indien aufschlüsseln
Hein: Ja das ist die interessanteste Quelle, die wir im Augenblick haben, denn die beiden, Siwan Anderson und Debraj Ray, arbeiten seit Jahren an dem Thema. Das tun sonst sehr wenige. Es ist wirklich ein übersehenes Thema. Und die haben zunächst mal angefangen mit Kernerarbeit, sich die Todesstatistiken in Indien anzuschauen, sie aufzuschlüsseln.
Dazu muss man zunächst mal sagen, es gibt sehr wenig statistisches Material, was wirklich verlässlich ist. Sie haben Interviews geführt, sie haben letztendlich auch in Kliniken überprüft, einfach was dort gesagt wird. Das ist jahrelange Kleinarbeit und das Ergebnis war, dass sie angefangen haben, herauszurechnen aus diesen Todesstatistiken diejenigen Zahlen, die offensichtlich sind, sagen wir mal, Autounfälle und Ähnliches, und am Ende bliebt dann eine unerklärliche Summe übrig und da kam man zum Beispiel beim Thema Brautverbrennung darauf, dass rund 100.000 Frauen, die verheiratet sind, jährlich angezündet werden.
Heise: 100.000?
Hein: 100.000, ja.
Heise: Das mit der Unterernährung hat dann ja auch noch weitere Folgen. Wenn diese Mädchen das Mädchenalter überleben, dann häufig als noch Kinder verheiratet werden und schwanger werden, sind die viel zu schwach, um beispielsweise die Geburt zu überleben. Auch da kommt es häufig dann zu Todesfällen.
Hein: Ach Gott, da können Sie eine enorme Reihe von Unterschieden aufzählen. Ich gebe Ihnen in dem Fall mal ein anderes Beispiel, was ich sehr interessant finde. Da geht es um Schulbildung. Mädchen haben in Indien in der Regel in der Unterschicht nicht die gleiche Schulbildung, auch nicht die gleiche Chance wie Jungs. Woran liegt das? -
Zum großen Teil daran, dass die Mädchen, wenn sie in die Pubertät kommen, ihre Periode bekommen, aus der Schule ausscheiden, weil es keine Toiletten gibt, sie dann gehänselt werden, sich schämen etc., nicht mehr zur Schule gehen. Damit verliert Indien ein ganzes Potenzial, in dem Fall von Mädchen, später junger Frauen, die ausgebildet werden können, die aber zwangsläufig einfach vollkommen ungebildet im Haushalt enden.
Auch das so ein Beispiel, wo keinerlei Geschlechtergleichheit herrscht, die am Ende des Tages zu großen volkswirtschaftlichen Schäden führt: Krankheitskosten, Verlust von ganzen Teilen der Gesellschaft im Bereich der Bildung.
Heise: Verluste, die offenbar bisher noch keiner so errechnet hat. Der Indien-Korrespondent, Asien-Korrespondent Christoph Hein klagt das unmenschliche System in Indien an, dem jedes Jahr zwei Millionen Frauen zum Opfer fallen. - Herr Hein, das scheint, wenn Sie alles so aufzählen, immer wieder doch ein Armutsproblem zu sein?
"Dann setzt irgendwo der Darwinismus ein"
Hein: Das ist zu großen Teilen ein Armutsproblem, ganz ohne Frage. In einer Gesellschaft, wo Menschen, vielleicht 800 Millionen, 700 Millionen, wir wissen es ja gar nicht genau, am Ende des Tages in Indien wirklich tagtäglich um ihr pures Überleben kämpfen, müssen sie natürlich zunächst mal ganz wertfrei schauen, wie sie eine Familie durchbringen, und dann setzt irgendwo der Darwinismus ein, dass man sagt, das schwächste Glied fällt dann irgendwann heraus, so zynisch das ist, und das sind Mädchen, später Frauen. Warum sind sie das? -
Nun, weil es Geld kostet, sie zu verheiraten, und das Familien nicht haben. Natürlich ist ein Aspekt, dessen genauen Einfluss wir nicht kennen und auch nicht berechnen können, der aber offensichtlich ist, auch der, dass eine neue Mittelschicht in Indien innere Werte hat. Die will was erreichen im Leben, die will konsumieren, das kostet Geld, das kostet enormes Geld, wenn man wenig Einkommen hat. Prozentual geht dann dementsprechend mehr in den Konsum. Und das heißt, ich kann mir nicht das leisten, was ich mir vorher leisten konnte, und dem fallen dann manchmal Mädchen zum Opfer.
Heise: Das heißt, der wirtschaftliche Aufstieg hilft den Mädchen nicht?
Hein: Na ja. Wir müssen sowieso feststellen, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung, den Indien hatte - es ist jahrelang zweistellig gewachsen, dann ging das runter, jetzt wächst es noch mit 4,5 Prozent im Jahr -, dass dieser wirtschaftliche Aufschwung nicht zwangsläufig bedeutet, dass es den unteren Schichten in einer Gesellschaft besser geht.
Was wir stattdessen feststellen - das ist aber kein rein indisches Problem - ist, dass sich der Abstand zwischen Arm und Reich, zwischen den Habenichtsen und denen, die zumindest zur Mittelklasse zählen, zur Mittelschicht zählen, dass der sich vergrößert und nicht verkleinert. Zugleich haben sie in derselben Situation Einflüsse von Medien, sodass die Ansprüche steigen.
Plötzlich kann ich was sehen, mit dem ich vorher nie konfrontiert war auf dem Lande. Beides zusammen führt natürlich dazu, dass ich das Gefühl habe, ich brauche mehr Geld zum Konsumieren. Ich brauche es auch tatsächlich, auch in der Realität. Eine Inflationsrate von zehn Prozent trifft auch eher die Armen als die Reichen, weil einfach viel mehr Geld in Nahrung fließen muss von den Armen, und damit bleibt am Ende weniger übrig. Und damit werde ich vor eine Entscheidung gestellt, die natürlich auch keine indische Familie liebt, bei Gott nicht. Es ist ja nicht so, dass das in irgendeinem Interesse einer indischen Familie wäre. Es ist im Zweifelsfall eine Entscheidung, die vollkommen aus der Not geboren ist.
Heise: Wie kann die Gesellschaft diese Not aber hinnehmen? Das klingt so verroht und das ist mir zu pauschal.
Hein: Das ist auch verroht, mit unseren westlichen Augen betrachtet, keine Frage. Jetzt kommen Einflüsse natürlich in einem solchen Land hinzu, die wir kaum beurteilen können, wenn wir hier im Westen sitzen. Traditionell ist die Frau in Indien in einer vollkommen anderen Rolle, als wir das im Westen haben und gewohnt sind. Es kommt die Armut hinzu, über die wir gerade schon sprachen.
Es kommt natürlich auch eine gewisse Ausbeutung hinzu, die Eliten betreiben. Die bereichern sich in Indien. Das führt dazu, dass das Parlament über Jahre nicht funktioniert hat, es führt dazu, dass die Politik sehr einseitig ausgerichtet ist, und es führt dazu, dass am Ende weite Schichten der Bevölkerung in ihrer ökonomischen Entwicklung zurückbleiben.
Heise: Jetzt haben wir im Westen ja sehr stark wahrgenommen diese Massenproteste anlässlich der Vergewaltigungen, die da ans Licht kamen. Da hatte man doch das Gefühl und man hörte auch von Frauen, die jetzt tatsächlich vermehrt sich trauen, zur Polizei zu gehen, das was ihnen angetan wurde anzuzeigen, die auch vor Gericht gehen. Man hat das Gefühl, es ändert sich etwas. Wie nehmen Sie das wahr?
Hein: Es ändert sich massiv was, und das sind natürlich aus unserer Sicht gute Nachrichten. Es ändert sich auf allen Ebenen was, allerdings vor allem in der Mittelschicht im Augenblick. Die findet ihre Stimme, die findet sie in der Frauenbewegung, die findet sie in einer starken Anti-Korruptions-Bewegung. Die Leute gehen auf die Straße, sie setzen sich zur Wehr. Aber es ist natürlich überhaupt nicht so, dass in dem ganzen Land in irgendeiner Form Aufruhr aufseiten der Frauen herrsche gegen die Bedingungen. Das ist nicht der Fall. Das sind Einzelfälle, wo es zu solchen Demonstrationen kommt. Die Machen auch Mut. Aber es ist nicht so, dass in Indien sich innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Frauenbewegung herausbilden würde, die das ganze Land auf den Kopf stellen würde.
Heise: Sie schildern in Ihrem Buch auch Beispiele: Eine Hebamme, die irgendwo auf dem Land in einem kleinen Dorf immer wieder wagt, weibliche Kinder zur Welt zu bringen, obwohl sie das vorher weiß. Das kann die mit ihren Mitteln auch schon während der Schwangerschaft herausbekommen, ob das Kind weiblich oder männlich wird. Weil wir jetzt gerade den Unterschied ja festmachen: In der Stadt, Mittelschicht, Demonstrationen, da ändert sich vielleicht teilweise etwas. Auf dem Land ist es dem Mut ganz einzelner nach wie vor geschuldet?
"Alte, hierarchische, patriarchalische Strukturen"
Hein: Nun ja, es ist natürlich immer dem Mut einzelner geschuldet, denn wir haben einen Polizeiapparat in Indien, der zumindest bis Kurzem dieses Problem überhaupt nicht wahrgenommen hat, der absolut männlich bestimmt war. Das hat sich in den Städten etwas geändert. Wir haben jetzt weibliche Beamte, die sich gerade um Vergewaltigungsopfer kümmern sollen.
Auf dem Land ist das natürlich noch mal viel schwieriger. Da haben Sie alte, hierarchische, patriarchalische Strukturen, die können Sie nicht einfach so aufbrechen. Aber es gibt einzelne Fälle, wo sich Frauengruppen auf dem Land bilden. All dieses macht Mut, aber das sind eben nur einzelne Leuchtfeuer und das ist noch keine Bewegung, die Traditionen in einem Land, die seit Jahrhunderten herrschen letztendlich, umkehren würde.
Heise: Jetzt wird ja innerlich sich etwas tun, nämlich gewählt werden dieser Tage, eine ganze Weile an Tagen. Hat irgendjemand in der Politik dieses unmenschliche System Frauen gegenüber auf seiner politischen Agenda?
Hein: Ja, alle haben das auf der Agenda. Sie müssen das auf der Agenda haben, denn gerade Delhi wurde zur Hochburg nach diesen fürchterlichen Gruppenvergewaltigungen einer gewissen Frauenbewegung, die entstanden ist. Da kommt keiner mehr darum herum. Natürlich gibt es Lippenbekenntnisse von allen Parteien.
Wir haben eine relativ junge Partei, die entstanden ist aus der Anti-Korruptions-Bewegung, AAP. Die erregt sehr viel Aufsehen im Augenblick, aber wird sich kaum durchsetzen können auf nationaler Ebene. Die anderen Parteien, geführt von Herrn Modi und Herrn Gandhi, haben das Thema auch auf der Agenda, aber wie weit sich das in einem Land mit 1,2 Milliarden Menschen in den nächsten Jahren überhaupt durchsetzen lässt, ist eine vollkommen offene Frage.
Ich glaube nicht, dass wir große Änderungen in dieser Hinsicht erleben werden.
Heise: ... , vermutet Christoph Hein. Frauendiskriminierung in Indien, "Indiens verdrängte Wahrheit", so nennen es die Journalisten Georg Blume und Christoph Hein, und ihr Buch ist in der Edition Körber-Stiftung erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.