Forscher entzaubern die Steinzeit-Klischees
Der Mann ging auf die Jagd, die Frau saß in der Höhle bei den Kindern: So war die Rollenverteilung in der Steinzeit. Oder etwa doch nicht? Wissenschaftler äußern inzwischen Zweifel - und rütteln damit an uralten Geschlechterklischees.
Das Colombischlössle in Freiburg wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von der reichen Gräfin Colombi erbaut – als Witwensitz. Hinter der neugotischen Fassade öffnet sich ein lichtdurchflutetes, repräsentatives Treppenhaus. In den umliegenden Räumen – weiße Wände und knarrendes Parkett – befindet sich seit über dreißig Jahren das Archäologie-Museum der badischen Stadt.
"Hallo, willkommen im Colombischlössle. Mein Name ist Helena Pastor. Ich leite zusammen mit Frau Doktor Grimmer-Dehn das archäologische Museum Colombischlössle in Freiburg. Was uns als Museum ganz wichtig ist, ist, dass wir diese Rolle wahrnehmen als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Und es ist wichtig, dass das, was die Forschung macht, aufbereitet wird, so dass die Öffentlichkeit das auch aufnehmen kann, und das ist unsere Aufgabe."
Seit 2005 ist die gebürtige Spanierin Helena Pastor für das archäologische Museum Colombischlössle tätig. Im Sommer 2015 ging eine der bisher erfolgreichsten, aber auch aufwändigsten Ausstellungen des Colomibschlössles zu Ende.
"Die Ausstellung heißt 'Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?' mit einem Fragezeichen am Schluss, das ist uns besonders wichtig. Und die Resonanz auf die Ausstellung von Seiten der Besucherinnen und Besucher: über 15 000 Leute waren da. Das zeigt, dass da wirklich Nachfrage da ist."
Die wissenschaftliche Fragestellung hinter der Freiburger Ausstellung stammt aus der archäologischen Geschlechterforschung. An deutschsprachigen Universitäten eine noch eher junge Disziplin, die das Zusammenleben der Geschlechter in der Urzeit erforscht.
"Ich hatte schon vor Jahren die Idee. Weil man immer wieder diese Aussagen in der Presse, in den Büchern, sogenannten Ratgebern, liest: Das war immer so - und deswegen ist es heute noch so. Da habe ich immer gedacht: Da wird es langsam Zeit, dass die Archäologie dazu Stellung bezieht. Aber es war nur eine ganz vage Idee und mir war bewusst, ich bin ja nicht in der archäologischen Geschlechterforschung tätig, dass ich so ein Thema nicht allein anpacken kann.
Dann habe ich irgendwann die Frau Röder kontaktiert, das ist bestimmt sieben oder acht Jahre her, bei einem Abendessen. Ich habe sie angesprochen, ob sie sich so was vorstellen könnte. Und sie war gleich Feuer und Flamme und hat gesagt, das wär ja spannend und das könnte man machen. Und dadurch, dass sie in Basel sitzt, war natürlich die Kooperation auch einfach. Und dann haben wir immer wieder mal darüber gesprochen."
Der Mann auf der Jagd – die Frau an der Feuerstelle, bei den Kindern: Wie müssen wir uns das Leben unserer fernen Vorfahren vorstellen?
"Ich denke schon, dass es die Vorstellung gibt, dass in der Urgeschichte die soziale Welt noch intakt war. Dass es wirklich so eine Art urgeschichtliches Geschlechterparadies gab. Jetzt mal ganz aus unserer heutigen Perspektive, in der ja sehr viele Turbulenzen im Geschlechterverhältnis sind. Wo man nicht so recht weiß, wie es jetzt eigentlich weitergeht. Und da erscheint die Urgeschichte als Ruhepol, als ein Ort, an dem die Welt vermeintlich noch in Ordnung war."
War die heterosexuelle Zweierbeziehung wirklich die Norm?
Brigitte Röder ist Professorin für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Basel. Einer ihrer wissenschaftlichen Schwerpunkte ist die prähistorische Geschlechterforschung. Die versucht, Erkenntnisse über das urzeitliche Verhältnis von Männern und Frauen zu gewinnen, über soziale Ordnungen, Geschlechterrollen, Machtstrukturen. In der Archäologie werden diese Fragen erst seit ungefähr 30 Jahren gestellt.
"Offensichtlich gibt es eine verbreitete Gewissheit, dass man die sozialen Verhältnisse in der Urgeschichte kennt, nämlich dass die übliche Beziehungsform die heterosexuelle Zweierbeziehung war, die dann in biologische Kleinfamilien mündete. Dass also biologische Kernfamilien die Basis und Grundstruktur der Gesellschaft bildeten usw. und dass es auch eine bestimmte Rollenteilung gab, dass nämlich der Mann der Ernährer, Versorger war, während die Frauen Hausfrauen, Mütter und Gattinnen waren."
Mit der Ur- und Frühgeschichte wird eine Epoche erforscht, aus der nur materielle Objekte erhalten sind und keinerlei schriftliche Zeugnisse. Was nicht heißt, dass diese Zeit im Nebel verschwindet: Das Interesse daran ist so groß, dass medial relativ scharf konturierte Bilder gezeichnet werden.
"Das kann man ja auch in diversen Bestsellern, in denen es um Geschlechterdifferenz geht, nachlesen, dass Männer und Frauen damals noch wussten, was ihre natürlichen Rollen sind und sich auch daran hielten. Ich glaube, das macht auch einen großen Teil der Attraktivität dieser fiktiven Steinzeit aus, die gerade in populären Medien sehr breitgetreten wird."
Archäologie studierte Brigitte Röder in den 80er-Jahren in Freiburg.
"Ich kam schon als Studentin auf Themen der Geschlechterforschung durch die Frage: Du bist doch Archäologin, gab es jetzt das Matriarchat in der Urgeschichte oder gab es das nicht? Ich wurde von außen, von Kommilitoninnen, die nicht in der Archäologie waren, mit dieser Frage konfrontiert. Und da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass geschlechtergeschichtliche Fragen in meinem eigenen Fach überhaupt keine Rolle spielen, dass aber offenbar in der Öffentlichkeit ein großes Interesse besteht."
In populären Medien wusste man ziemlich genau, wie bei unseren frühen Vorfahren das Familienleben aussah – aber in der Forschung? Wissenschaftliche Publikationen zur Geschlechterforschung in der Archäologie gab es damals fast ausschließlich im englischsprachigen Bereich. Nur zur Matriarchatsforschung wurde auch hierzulande schon viel veröffentlicht, vor allem von Nicht-Archäologinnen.
"Die Fragestellungen der Matriarchatsforschung kamen mir etwas eindimensional vor, einfach zu fragen, Frauenherrschaft oder Männerherrschaft. Und da habe ich mich dann nach etwas komplexeren Ansätzen, auch anderen theoretischen Konzepten umgesehen und bin so bei der archäologischen Geschlechterforschung gelandet."
Ende der 80er-Jahre gründete Brigitte Röder mit anderen Kommilitoninnen der Freiburger Universität eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe. Die zuerst einmal als Brückenschlag gedacht war zwischen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Archäologie und der außeruniversitären Matriarchatsforschung. Am Anfang stand vor allem die kritische Lektüre der Fachliteratur.
Falsche Analogien von heute auf früher
"Ein Augenöffner war für mich beispielsweise ein Text aus einem Ausstellungskatalog über altsteinzeitliche Kunst. Da konnte man lesen, verfasst von einem Fachkollegen, mit einem ganz selbstverständlichen Duktus: Wie auch heute, so wurde auch damals Kunst von Männern gemacht. Das stand da einfach so. Aber mit diesem Beginn, Texte mal kritisch zu lesen, blieb ich daran hängen und habe mich dann massiv geärgert. Und ich habe mir überlegt, wie es kommt, dass jemand mit so einer Analogie von heute auf früher – die ja auch für heute absolut nicht stimmt –, auftritt, als ob es sich hier um eine wissenschaftliche Erkenntnis handeln würde."
Eine weitere Irritation: die "Chronik der Frauen", 1992 herausgegeben von der Historikerin Annette Kuhn.
"Da gab es ein Kapitel zu einem archäologischen Befund, den ich kannte. Eine Doppelbestattung, wahrscheinlich von einem Mann und einer Frau, die in der Fachliteratur immer interpretiert wird als 'Der Fürst, der mit seiner Gattin bestattet wurde'. In diesem Grab, das sehr reich ausgestattet war, gab es einen Wagen, reiche Beigaben. Und in dieser 'Chronik der Frauen' wurde der Befund dann unter der Überschrift präsentiert: 'Keltische Fürstinnen gingen nicht allein in den Tod'. Und der ganze Befund wurde so erklärt, dass es sich hier um eine Fürstin handelt, der nicht nur der Wagen ins Jenseits mitgegeben wurde, sondern gleich noch der Chauffeur."
Der erste Gedanke der Archäologin Brigitte Röder war damals: "So ein Quatsch." Doch Skelette, die man hätte untersuchen können, sind nicht erhalten und so kam sie zu dem Schluss, dass ein Szenario tatsächlich so plausibel oder unplausibel wie das andere ist.
Mitte der 90er-Jahre landete Brigitte Röder, gerade frisch promoviert, zusammen mit ihrer Freiburger Studentinnengruppe einen Coup: Ohne professoralen Beistand stellten sie einen Antrag auf Drittmittelförderung von Matriarchatsforschungen beim Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg – und erhielten die Förderung.
"Dass wir diese Förderung bekamen, war für unsere Dozierenden an der Uni eine unglaubliche Überraschung. Und wir wurden gleich aufgefordert, im Institutskolloquium dieses Projekt vorzustellen, was wir auch gemacht haben. Und dann gab es eine große Erleichterung, dass wir ganz offensichtlich, obwohl wir uns mit Matriarchat beschäftigen wollen, auf dem Boden der Wissenschaft bleiben."
Die Karawane der wissenschaftlichen Forschung zieht gern auf eingefahrenen Bahnen weiter. Wer daraus ausbricht, verursacht Unruhe. Genau das geschah vor 20 Jahren, als Brigitte Röder und die Studentinnengruppe die etablierte Forschung im archäologischen Institut der Freiburger Universität herausforderten.
"Das war eine ganz typische Reaktion, die zeigt, dass zumindest damals das Matriarchatsthema an sich als unwissenschaftlich galt. Als ob man sich nicht aus einer wissenschaftlichen Perspektive ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen könnte. Ich bin der Ansicht, immer nur die Beschäftigung mit einem Thema kann wissenschaftlich oder unwissenschaftlich sein, aber im Prinzip kann jedes Thema wissenschaftlich bearbeitet werden."
Die "Familie Feuerstein" mit Fred und Wilma, mit ihren Nachbarn Betty und Barney Geröllheimer - auch das sind Bilder, die wir im Kopf haben, wenn wir an die Steinzeit denken, von der nur archäologische Funde Zeugnis geben.
"Wilma und Fred von den Flintstones, also von der Familie Feuerstein, bilden das Superklischee der Steinzeitfamilie. Wo er wie in einem Familienmodell der 60er-Jahre arbeiten geht, sie ist daheim und kocht", sagt Christian John, Archäologe und Projektleiter der Freiburger Ausstellung.
Was haben wir mit der Steinzeit zu tun? Die Zuschauer der Feuerstein-Serie wissen das: In uns stecken die Rollenmuster, die die Feuersteins damals auslebten. Mit Wilma als Heimchen am Herd und Fred, dem Ernährer der Familie, der sich draußen in der Welt durchschlägt. Sicher prägt die Zeichentrickserie aus den 60er-Jahren unsere Wahrnehmungsmuster vom Leben in der Urzeit. Ob sie etwas mit der historischen Realität zu tun hat, steht auf einem ganz anderen Blatt.
"Am Grill findet der Mann zu seiner ureigensten Rolle"
Die Freiburger Geschlechterausstellung griff dieses Problem bereits im Foyer des Museums auf: mit einer riesigen Schlagzeilenwand, auf der Besucherinnen und Besucher mit gängigen Vorstellungen und Klischees vom Leben in der Steinzeit konfrontiert wurden. Helena Pastor:
"Viele der Zitate, die wir haben, erklären angebliche Verhaltensunterschiede heute zwischen Männern und Frauen mit der angenommenen Rolle von beiden Geschlechtern in der Steinzeit. Also Zitate wie: 'Männer suchen bewegliche Beute, Frauen das Nützliche.' Oder: 'Am Grill findet der Mann zu seiner ureigensten Rolle als Jäger und Familienversorger zurück.' Das heißt, heute wird damit argumentiert, dass bestimmte Unterschiede schon immer so waren und dass die aus der Steinzeit, aus dieser Rolle 'Mann als Jäger', 'Frau als Sammlerin und Nesthüterin' herstammen."
Bücher und Medien transportieren die Geschlechterklischees über die Steinzeit. Populäre Sachbuchtitel wie "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" von Allan und Barbara Pease verkaufen sich Millionen Mal. Einer der "Merksätze" daraus:
"Frauen haben keine guten räumlich-visuellen Fähigkeiten, weil sie von jeher kaum etwas anderes jagen mussten als Männer."
In ihren Büchern führen Pease und Pease jede heutige Geschlechterfrage auf die – absolut unbewiesene – Rollenverteilung in der Steinzeit zurück. Woher die weltweit agierenden Kommunikationstrainer so genau wissen, was Frauen in der Millionen Jahre alten Menschheitsgeschichte alles jagten? "Diese Buch basiert auf streng wissenschaftlichen Erkenntnissen", schreiben sie im Vorwort.
"Interessanterweise ist das eine Frage, die die Öffentlichkeit bewegt, aber die Archäologie hat bisher auf diese Frage keine Antwort gegeben. Es gibt zwar eine archäologische Geschlechterforschung, die schon seit Jahrzehnten arbeitet an diesem Thema, die Ergebnisse scheinen aber nicht in die Öffentlichkeit einzudringen."
Offenkundig bedienen populäre Bücher und Medien Rollenklischees, die so festgefügt sind, dass sie sich nicht so leicht von den Infragestellungen durch wissenschaftliche Forschung stören lassen. Warum? Woher stammen unsere gegenwärtigen Vorstellungen vom Leben der Geschlechter in der Urzeit, von der prähistorischen Rollenteilung, von den fest umrissenen steinzeitlichen Tätigkeitsbereichen? Vom Mann draußen und auf der Jagd, der Frau am Herd, bei den Kindern und in der Höhle?
"Die Urgeschichte dient schon seit Längerem, also mindestens seit dem 18., 19. Jahrhundert, als eine Art Projektionsfläche für all das, was in der Gesellschaft für ursprünglich und natürlich und biologisch vorgegeben gehalten wird. Das heißt, dass ganz wichtige kulturelle Konzepte in unserer Gesellschaft rund um Geschlecht, Paarbeziehungen, Familie auf die Urgeschichte zurückprojiziert werden und damit auch legitimiert werden."
Ist das Steinzeit-Traumpaar erst 300 Jahre alt?
Demnach wäre das viel beschworene steinzeitliche Traumpaar nicht älter als dreihundert Jahre? Weshalb sind wir so felsenfest davon überzeugt, alles ganz genau zu wissen, wie das war mit den Männern und Frauen und Kindern in der Steinzeit – obwohl nichts davon wissenschaftlich bewiesen ist und wir eigentlich im Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit allein der Forschung trauen?
"Meine These dazu ist, dass das mit einer Begründungsstruktur zusammenhängt, die die bürgerliche Gesellschaft damals aufgebaut hat. Die bürgerliche Gesellschaft hat ganz zentrale soziale Institutionen neu definiert, nämlich das Geschlechtermodell und das damit verknüpfte Familienmodell. Indem diese Rollenzuteilung gemacht wurde, der Mann ist Ernährer und Oberhaupt der Familie, die Frau ist Mutter, Ehefrau und Hausfrau. Und dieses neue Geschlechtermodell, mit dem auch neue Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit und von Rollen verbunden waren, wurde damals legitimiert, indem gesagt wurde, es sei schon immer so gewesen."
Eine wichtige Rolle bei diesen kulturellen Prägungen, die noch heute wirken, nehmen Bilder ein: realistisch anmutende Buchillustrationen, quasi-dokumentarische Zeichnungen in Schulbüchern, Skizzen und Gemälde, die das ausgedachte Leben in der Steinzeit abbilden.
"Ich glaube nicht, dass diese Bilder aktiv gemalt wurden, im Sinne eines Mediums, um diese Ideen zu verbreiten. Sondern ich glaube, dass diese Bilder Ausdruck von Ideen sind, die etabliert sind, die man auch für wahr hält. Wenn ich mir zum Beispiel diese Pfahlbaubilder aus dem 19. Jahrhundert anschaue, dann sind das im Prinzip bürgerliche Szenen in prähistorischen Kulissen."
Die schriftlose Urzeit der Menschen lädt dazu ein, die eigenen Vorstellungen, Klischees, Stereotypen auf die damaligen Zustände zu übertragen. Auch darauf will die Geschlechterarchäologie aufmerksam machen. Dass der Blick auf prähistorische Funde bei weitem kein objektiver ist, sondern immer von der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der Forscher und Forscherinnen geprägt ist.
Im Salzbergwerk im österreichischen Hallstatt wurde seit der Steinzeit Salz abgebaut. Das dazugehörige Gräberfeld wurde Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt, und in einer maßgeblichen Veröffentlichung aus dem Jahr 1959 beschreibt der Prähistoriker Karl Kromer das Bergwerk als "klassische männerdominierte Werkssiedlung". Hier konnte durch die Zusammenarbeit von Archäologie und Anthropologie eine ganz andere Realität aufgedeckt werden.
"Da konnte man anhand der Untersuchungen der Skelettreste von Frauen, Männern und Kindern, die in diesem Gräberfeld bestattet wurden, zeigen, dass alle im Berg gearbeitet haben, auch Kinder, und das schon von frühester Kindheit an. Und dass die Frauen auch körperlich extrem belastet waren. Es gab eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung. Die Männer haben das Salz aus dem Berg geschlagen. Die Frauen haben es offensichtlich rausgetragen. Und die Kinder waren auch schon sehr belastet, was man an entsprechenden Abnutzungserscheinungen, die schon an kindlichen Skeletten auftreten, sehen kann."
Ein Grab mit Waffen muss kein Männergrab sein
Vor allem die Analyse von Knochendeformationen bringt uns Tausende Jahre später dem Alltag der Hallstätter sehr nahe. Und dass alle Menschen in Hallstatt von sehr jungen Jahren an auch im Berg waren, belegen auch neue Funde aus den Bergwerksstollen, wie kleine Kinderschuhe und sogar eine Babykappe aus Schafsfell.
"Solche Befunde, die es viel zu selten gibt, weil die Fragen nach Geschlechter- und Kindheitsgeschichte noch viel zu selten gestellt werden, solche Befunde zeigen einfach, dass wir mit archäologischen Quellen zu ganz erstaunlichen Erkenntnissen kommen können. Die uns auch einen Spiegel vorhalten und zeigen, dass wir mit ziemlichen Klischeevorstellungen aus der heutigen Zeit an geschichtliche Quellen rangehen und eine Neigung haben, unsere eigenen Vorstellungen auf die Vergangenheit zu projizieren."
"Ich Mann, du Frau" – im ersten Raum der Freiburger Ausstellung waren Gräber mit Beigaben ausgestellt. Ein weibliches Skelett, das mit Schmuckknöpfen bedacht wurde. Das Grab eines Mannes mit Pfeilspitzen. Aber…
"Solche Fallbeispiele haben wir hier in dem Raum gesammelt, um zu zeigen, was passiert, wenn man sich wirklich der Sache annimmt, den Mut hat, unabhängig voneinander zu untersuchen und zu gucken und von den festgelegten Vorstellungen wegzukommen. Es ist zum Beispiel so, dass wir bei manchen Gräbern – ein Grab mit Schmuck, ein Grab mit Waffen aus dem Frühmittelalter –, dass es hier so ist, dass die Anthropologie uns sagt: das Grab mit Schmuck, der Schmuck gehörte einem Mann und die großen Messer gehörten einer Frau. Das zeigt, manchmal bestätigen sich unsere Vorstellungen, aber manchmal nicht."
Ein Grab mit Waffen muss kein Männergrab sein. Und in einem Grab mit Schmuck liegt nicht immer eine Frau. Neuartige Analysen verhelfen zu solchen Einsichten, aber es braucht einen unvoreingenommenen Blick auf die Funde. Den Hobbyarchäologen im 18. und 19. Jahrhundert fehlte der zumeist. Sie brachten die Waffen und Perlen nach Hause, die Skelette blieben oft nicht erhalten. Und noch als sich die Ur- und Frühgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts an den Universitäten etablierte, galt für die Archäologen erst einmal die Gleichung Waffe=Mann, Schmuck=Frau.
"Es gibt in der Altsteinzeit, das kennen die meisten Leute, diese wunderschönen Tierbilder aus den Höhlen in Südfrankreich und Nordspanien, Lascaux, Altamira und so weiter. Was weniger bekannt ist, dass häufig neben diesen Tierbildern auch Handnegative erscheinen. Die Menschen haben eine Hand auf die Felswand gelegt und dann mit einem Röhrchen Farbpigment draufgeblasen, und dann blieb der Umriss der Hand erhalten. Und die Biologie hat schon vor einiger Zeit eine Methode entwickelt, die es erlaubt, an den Händen, an den Größenverhältnissen der Finger, Männer- und Frauenhände zu unterscheiden."
Tatsächlich kamen vor wenigen Jahren zwei unterschiedliche Forscherteams zu dem Ergebnis, dass gut drei Viertel dieser Hände von Frauen stammt.
"Es heißt ja immer, diese Tiere sind so wunderbar dargestellt, so naturalistisch, weil die Menschen damals auf der Jagd die Tiere beobachtet haben, und das konnten sie dann wiedergeben bei den Felsbildern. Wenn jetzt die Frauen die Bilder gemacht haben, dann ist natürlich die Wahrscheinlichkeit da, dass sie zumindest mit dabei waren auf der Jagd. Und darum geht es uns. Also, es ist keine Ausstellung, die fertige Antworten liefert, können wir nicht. Aber wir versuchen, den Fächer zu öffnen, damit man nicht Sachen übersieht, nur weil man nicht bereit ist, das zu sehen."
Etablierte Weltbilder in Frage stellen
Auch wenn die Freiburger Ausstellung viele Fragezeichen und wenig gesicherte neue Forschungsergebnisse präsentiert hat, regte sie die Besucher offenbar dazu an, etablierte Weltbilder in Frage zu stellen.
Besucher: "Für mich hat sich viel verändert: Ich bin an steinzeitlichen Ausgrabungsstellen aufgewachsen, und für mich war das Bild sehr fest, was die Männer gemacht haben, was die Frauen. Für mich hat auch grad die Auswertung der Handflächen, oder bei den Gräbern, die eindeutig zuzuordnen waren, das hat mein Altertumsbild völlig auf den Kopf gestellt."
Besucherin: "Vorhin dachte ich mir, dass vielleicht junge Frauen auch mit zum Jagen gegangen sind. Die saßen bestimmt nicht alle daheim am Herd und haben Körner gestampft und Kleider geflickt."
Die Museumsdirektorin Helena Pastor ist sichtlich erfreut.
"Das ist super, das zu hören. Man denkt sich so viel, wenn man so was macht, man hat dann doch nicht in der Hand, gerade wenn man so ein offenes Thema macht, wie es dann richtig ankommt. Wenn ich Sie beide höre, für mich ist das so: Gott sei Dank, wir haben es irgendwie geschafft, dass sich das ein bisschen bewegt und dass die Menschen das wieder in die Öffentlichkeit tragen. In der Hoffnung, dass sich das peu à peu vielleicht ein bisschen verändert. Wir sind ja ganz bescheiden."
Unsere starren Vorstellungen vom Leben in der Urzeit sind noch aus einem weiteren Grund fragwürdig. Schließlich umfasst die Alt- und Mittelsteinzeit in der Archäologie einen Zeitraum von rund 2,5 Millionen Jahren. Während dieser Zeit gab es Warm- und Kaltphasen, entsprechend auch ein unterschiedliches Nahrungsangebot und unterschiedliche Aufgaben für die jagenden, sammelnden und fischenden Frauen und Männer.
"Es geht ja nicht um Statistisches. Das können wir in der Archäologie sowieso nicht feststellen, weil wir nur einen Bruchteil von den damaligen Funden haben. Aber das sind ja unglaublich lange Zeiträume, und da fragt man sich natürlich auch, warum soll das immer gleich geblieben sein, wenn es um Jahrtausende oder noch mehr geht?"
Zur Freiburger Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der mit vielen gängigen Klischees aufräumt. "Das Gehirn von Jägern und Sammlerinnen. Evolutionäre Mythen" lautet der Titel eines Beitrags. "Rosarot und Himmelblau. Die Farbe süßer Beeren und des Himmels bei prächtigem Jagdwetter" ein anderer. Rosa für die Mädchen, blau für die Jungen? Die Gottesmutter Maria wurde fast immer mit hellblauem Schutzmantel dargestellt – umgekehrt: in Teilen Frankreichs und Deutschlands schmückte noch bis in die 60er-Jahre bei der Geburt eines Jungen eine rosa Schleife die Geburtsanzeige, bei der Geburt eines Mädchen eine blaue. So wandelbar und kurzlebig sind unsere heutigen Gewissheiten.
Auf einem anderen Blatt steht, ob die Frühgeschichte der Menschheit neu geschrieben werden muss. Die Archäologieprofessorin Brigitte Röder hat die Erfahrung gemacht, dass es schwierig war, mit den Matriarchatsforscherinnen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu kommen.
"Wir hatten damals mit unserem Matriarchatsprojekt wirklich versucht, mit Frauen aus der außeruniversitären Matriarchatsforschung ins Gespräch zu kommen. Und das war sehr schwierig, weil uns sehr schnell, ich zitiere, 'patriarchale Verbildung' vorgeworfen wurde. Da war schon ganz klar die Haltung: Wenn wir jetzt nicht gewillt sind, die archäologischen Quellen so zu verstehen, wie sie halt nun mal sind, nämlich als Beweise für das Matriarchat, dann sind wir für die gute Sache verloren und patriarchal verbildet."
Brigitte Röder und ihre universitäre Arbeitsgruppe kamen zum Schluss, dass man das Matriarchat mit archäologischen Quellen allein weder beweisen noch widerlegen kann - und dass dasselbe natürlich auch für das Patriarchat gilt. Ihre archäologischen Untersuchungsmethoden und die offene Befragung archäologischer Funde wurden von den Matriarchatsforscherinnen nicht akzeptiert.
"Insofern war der Dialog leider nicht möglich. Es war eher eine Art Konvertierung weg von kritischem wissenschaftlichen Arbeiten hin zur Übernahme von, ich würde mal sagen, Glaubensgrundsätzen. Die Welten sind nach wie vor getrennt, sind separate Diskussionskreise, die wenig miteinander Berührung haben."