„Ich bin als Mädchen geboren, aber identifiziere mich als Junge.“
„Ich bin ein Junge und ich finde es auch gut, dass mich die meisten Leute dafür akzeptieren.“
Jacques sitzt vor dem Computerbildschirm. Die langen Haare stecken unter einer Mütze. Er ist ein wenig nervös, doch es ist ihm wichtig, öffentlich zu sprechen. Über sich und Menschen wie ihn: Jacques ist 15 und transident.
„Vor zwei Jahren habe ich herausgefunden, dass ich mich nicht wohl als Mädchen fühle, und ich dachte mir, vielleicht bin ich nicht-binär. Aber nach einiger Zeit hat es sich geändert und jetzt bin ich halt ein Junge.“
Die Suche nach transidenten Jugendlichen, die von sich erzählen wollen, ist schwierig. Dabei ist das Thema medial ständig präsent. Allerdings werden die Heranwachsenden in der Folge angefeindet und sind oft nicht mehr bereit, sich öffentlich zu äußern.
Wenn irgendetwas "nicht stimmt"
Besonders seit im Juni 2022 fünf Autoren in der „Welt“ behauptet haben, Jugendliche würden durch die Präsenz und Darstellung des Themas im öffentlich-rechtlichen Rundfunk indoktriniert. Gewissermaßen in die Transidentität reinindoktriniert. Konkret ging es um die Sendung mit der Maus. Sie hatte Kindern erklärt, was Transidentität überhaupt ist.
„Eine Situation kann sein, dass Heranwachsende für sich immer mal wieder die Situation hatten ´ich bin nicht ganz richtig` oder ´irgendetwas stimmt nicht`, sagt Marie Günther, selbst trans Frau und Fachreferentin
des Bundesverbandes Trans*. Sie arbeitet mit Jugendlichen, deren Selbstverständnis nicht mit der Geschlechtszuordnung aus der Geburtsurkunde übereinstimmt.
„Da gibt es ganz viele diffuse Formulierungen, die eigentlich darauf hindeuten, dass sie gar keine Sprache, gar keine guten Beschreibungen für ihre Gefühle bisher gefunden haben. Also da gibt‘s Leute, die dann sagen, ich habe irgendwann gedacht, ich bin gar kein Mädchen und dann habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, ein Junge zu sein.“
Marie Günther setzt sich für die gesellschaftliche Anerkennung von trans Menschen in Deutschland ein. In ihrer Praxis in Berlin berät sie Jugendliche und deren Familien.
„Wenn man das Bild beschreiben soll, kann man sich vorstellen, dass diese Person in ihr Leben geht, Verschiedenes probiert und lebt und ich gehe sozusagen hinterher und schaue, dass ich die Person dabei gut unterstützen kann.“
Doch wie wird geschlechtliche Identität überhaupt erfahren, geformt? Woher wissen wir, wer wir sind – ob Mann oder Frau?
„Das kann ihnen niemand beantworten, aus welchen Gründen sie sich als Frau fühlen. Man hat noch nicht erforscht, woher Cis-Geschlechtlichkeit herkommt.“
Cis-Frau bezeichnet eine Person, die mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde und sich auch selbst als Frau identifiziert. Das Pendant ist der Cis-Mann. Zuweisungsgeschlecht: Männlich, dem entspricht die Selbstdefinition.
Cis-Geschlechtlichkeit galt lange als Norm. Eine Norm, die durch die schiere Existenz von Transidentität infrage gestellt zu sein scheint, auch wenn trans Menschen eine sehr kleine Minderheit sind. Wer heute aufwächst, ist zumindest mal mit der Frage konfrontiert: Wer bist du und woran macht sich das fest?
Du sagst, du bist ne Biofrau ein Wort, das ich nicht gecheckt krieg.
Bin ich vielleicht aus Kunststoff wie Roboter aus Star Treck?
Biofrau und trans, dich gibt’s nicht beim Gemüse, mich nicht im Chemielabor.
Du als Cis-Mensch brauchst in dieser Welt kein Coming-out …
FaulenzA
Trans Frau: Eine Frau, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde. Das Pendant ist der trans Mann – ein Mann, der mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kam. Ob jemand geschlechtsangleichende Maßnahmen trifft, ist nicht entscheidend für die Selbstdefinition als trans. Zudem hat die eigene Identität nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun, damit, ob jemand hetero, homo- oder bisexuell ist.
Dir soll ich’s erklären, damit du mich akzeptierst,
vielleicht in deiner Sprache mein Pronomen korrigierst?
Erklär mir deine Jacke oder deine neuen Schuh.
Die Fragen find ich kacke, deshalb lass mich doch in Ruh.
Heißt du Julian oder Juliane – was ist denn hier Mann,
was hier Frau ich ahne, dass es geben kann eine Welt aus Sahne, Zuckerguss und Marzipan …
FaulenzA
Selbsteinordnung, gesellschaftliche Zuordnungen, klare Kategorien – klingt eigentlich nach den Schubladen, in die man nicht gesteckt werden möchte – einerseits. Andererseits: Für Menschen, die sich nicht mit der ihnen zugewiesenen Geschlechtsidentität eins fühlen, ist die Suche nach der Selbstbezeichnung, der eigenen Zugehörigkeit, enorm wichtig, sagt Marie Günther.
„Dazu braucht es eine große Stärkung hinsichtlich von internalisierter Transnegativität. Weil die Menschen, die geschlechtlich suchend aufwachsen und für sich reflektieren – hm, welches Geschlecht wird es denn wohl? – erleben immer wieder Abwertung, Diskriminierung, ein Reden über geschlechtliche Vielfalt, was sie eher verletzt. Das kann dazu führen, dass solche Konzepte verinnerlicht werden. Also dass es auch eine innere Stimme gibt, die sagt: ´Ach, das bist du gar nicht wert.`“
„Wir haben Ella immer ernst genommen“
„Ich wusste es schon immer, aber die haben immer gesagt und haben einfach weiter so gemacht.“
Das ist Ella. Ella ist sechs. Bei der Geburt wurde ihr das Geschlecht als „männlich“ identifiziert. Wie sie den anderen erklärt hat, dass sie ein Mädchen ist?
„Weiß ich nicht mehr und ist auch schon so lange her.“
Ella hat keine Lust, darüber zu sprechen wie es war, damals, als sie alle für einen Jungen hielten. Immerhin weiß sie ziemlich genau, was sie will. Ellas Mutter Claudia war die Erste, die sich auf die Suchanfrage nach transidenten Kindern und Jugendlichen gemeldet hat und erzählte, sie habe eine transidente Tochter.
„Wir haben Ella immer ernst genommen und das ist die logische Schlussfolgerung, dass wir eben auch die kontinuierliche Aussage, dass sie ein Mädchen ist, ernst nehmen und dementsprechend handeln.“
Claudia und ihr Mann Imran sitzen am großen Esstisch ihrer Wohnküche. Sie möchten gern sprechen, über ihre Familie, ihre Tochter – ihre richtigen Namen wollen sie allerdings nicht nennen. Das Thema ist erfahrungsgemäß ein Aufreger.
„Ich habe von vielen anderen Eltern im Kindergarten zum Beispiel oft zu hören bekommen, dass es doch in meiner Hand liegt. Dass ich doch dem Kind verbieten kann, dieses oder jenes anzuziehen oder dieses oder jenes zu spielen. Ich glaube, das ist gar nicht so, ich kann dem Kind nicht sagen, wer sie ist.“
Der Leidensdruck des Kindes
Kleidung und Spielsachen sind in vielen Haushalten heute weniger stark auf Geschlechtszugehörigkeit zugeschnitten als in Generationen zuvor. Kinder müssen weniger geschlechtsspezifische Erwartungen erfüllen. Doch bei Ella sei da noch etwas anderes gewesen, erzählt ihre Mutter.
„Wir haben Ella auch ernst genommen, als sie sagte, dass sie gern ein Kleid anziehen möchte. Aber das hat nichts damit zu tun und war auch zeitlich kein Zusammenhang damit, dass wir irgendwann gemerkt haben, dass dieses Kind anders sein könnte. Unsere Beschäftigung hat eigentlich angefangen bei dem Leidensdruck beim Kind. Ziemlich früh, zwischen drei und vier hat das schon heftig angefangen. Ella hat immer gesagt: ´Ich bin ein Mädchen.` Dann hat die Freundin gesagt: ´Nein bist du nicht.` Das waren die heftigsten Streitereien.“
Mädchen sein, Junge sein – ab wann wissen Kinder, wer sie sind und welchem Geschlecht sie zugehören? Und ab welchem Alter ist das überhaupt wichtig?
„Es gibt ja immer diesen Begriff der Phase. Wenn man sich mit anderen austauscht, heißt es häufig, das ist eine Phase des Kindes. Da es unser erstes Kind war und wir keine Erfahrung hatten, haben wir gedacht, wir werden einfach mal abwarten.“
Imran sagt, sie hätten immer auf Ella reagiert, und Ella selbst habe ihr Mädchensein zunehmend vehementer angesprochen und sich dagegen gewehrt, als Junge zu gelten.
„Dann war das so unter der Dusche: Krieg ich auch noch eine Scheide? Irgendwann hieß es dann: Kannst du meinen Penis wegzaubern? Und dann merkte man auch, dass sie das wirklich bedrückt.“
Auf der Suche nach Antworten
Ellas Mutter Claudia geht auf die Suche. Stößt im Onlineforum auf Ratschläge: Sie solle ihrem Kind weniger Puppen und mehr Autos zum Spielen geben. Ob sie sich in der Schwangerschaft zu sehr ein Mädchen gewünscht habe? Andere trösten.
„Bei mir gab’s noch einen Punkt, der sehr wichtig war in meiner Entwicklung, das war die Mutter von Ellas bester Freundin. Ich habe immer gesagt: Na ja, das Kind ist noch so klein – da war Ella noch nicht drei. Da sagte sie: Na, mit drei wissen sie das schon ganz gut, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind. Das sagte diese Mutter, also eine Freundin von uns, weil sie in England mal mit jemandem zusammengewohnt hat, der transident war und der ihr seine Geschichte erzählt hat.“
Bis Claudia sich mit ihrem Mann an eine ausgewiesene Beratungsstelle wendet, dauert es noch fast ein Jahr.
Inzwischen besuchen Claudia und Imran mit ihrer Tochter die Fachberatung des Clementinenhospitals in Frankfurt am Main. Der
Kinderpsychiater Thomas Lempp leitet die Klinik.
„Zu uns kommen Kinder und Jugendliche, das fängt so im Alter zwischen vier und fünf Jahren an und dann betreuen wir die, bis sie 18 sind und manche noch ein bisschen länger. Wir kriegen Anmeldungen aus ganz Deutschland, vor allem aber fühlen wir uns für das Bundesland Hessen zuständig, wo die Anmeldungen durch die Decke gehen und wir uns gar nicht retten können.“
Steigende Zahl von Menschen, die Rat suchen
Die Londoner Tavistock-Clinic, europaweit führend in der Behandlung transidenter Jugendlicher, beriet im Jahr 2009 in ihrem „Gender Identity Development Service“ gerade mal rund hundert Heranwachsende. Im Jahr 2018 hingegen waren es 2500. Im selben Jahr berichtete die Wochenzeitung „Die Zeit“ davon, dass sich die Zahlen von Rat suchenden Jugendlichen auch in verschiedenen führenden deutschen Kliniken, die sie befragt hatten, seit dem Jahr 2013 verfünffacht habe.
„Ja, es gibt Jugendliche, die sich sehr kurzlebig, sehr wechselhaft mit ihren Geschlechtsidentitäten auseinandersetzen. Die meisten von denen lernen wir nie kennen. Die machen das auf dem Pausenhof oder auf Instagram und spielen damit und erleben sich spielerisch und lassen die Geschlechtsgrenzen da mal für sich weg.
Die Jugendlichen, die wir sehen, die in unsere Sprechstunde mit unserer Warteliste von mindestens einem Jahr kommen, das sind keine Jugendlichen, die da völlig verloren mit ihren Identitäten spielen. Das sind in der Regel leidende Menschen. Und das ist so massiv, so eindrücklich dieses klinische Bild, dass ich es so gar nicht deckungsgleich bekomme mit dem Schulhofchat, mit dem ich sonst konfrontiert bin.“
Thomas Lempp ist einer der führenden Mediziner in Deutschland auf dem Gebiet der Geschlechterdysphorie oder Geschlechtsinkongruenz.
„Die Diagnostik fußt in großen Teilen auf der Selbstaussage der Patienten. Denen wir erst mal einfach alles glauben, was sie uns sagen. Ich glaube auch nicht, dass mich irgendjemand in den vergangenen zehn Jahren angelogen hätte oder mir da was vormacht.“
Nicht zu handeln und Jugendlichen, die sich in ihrem Zuweisungsgeschlecht unwohl fühlen und auf der Suche sind, nicht zu helfen, ist keine Option.
Suizid von transidenten Jugendlichen
Zahlreiche Studien zeigen: Selbstverletzendes Verhalten bis hin zum Suizid ist bei transidenten Jugendlichen wesentlich häufiger als bei Heranwachsenden, die sich als Cis identifizieren. Laut einer kanadischen Erhebung, die im Sommer 2022 veröffentlicht wird, sogar fünfmal so hoch.
Hinweis der Redaktion: Solltest Du oder sollten Sie Hilfe in einer schwierigen Situation benötigen, kannst Du Dich oder können Sie sich jederzeit an die kostenlose Hotline der Telefonseelsorge wenden: 0800/1110111. Spezielle Hilfsangebote zum Thema Suizid findest Du und finden Sie auch bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter https://www.suizidprophylaxe.de/
„Das sehe ich als Verpflichtung an, dass wir den Menschen, die zu uns kommen erst mal sagen: Das, was du uns sagst, das wird so sein. Wenn man kriminalistisch ermittelnd vorgeht, indem man misstrauisch ist, indem man sagt: ´Das ist alles Ausdruck einer anderen Geschichte, die du gar nicht verstehst, aber die ich in dich hineininterpretieren kann, das ist dein Unterbewusstes, das kann aber nur ich aufdecken. Sie merken diese immense Machtstruktur", sagt Thomas Lempp.
Transidentität ist laut Weltgesundheitsorganisation keine Krankheit oder mentale Störung. Transidente Menschen haben allerdings das Bedürfnis nach ärztlicher und medizinischer Unterstützung.
Wird auch deine Identität als ‚krank‘ abgehakt?
Wird auch dir oft der Zutritt zu Toiletten versagt?
Hätt‘ der WC-Kassierer dich fast bis Italien gejagt?
Wie oft wirst denn du nach deinen Genitalien gefragt?
Und seh‘n dich Menschen falsch, deine Stimme, dein Gesicht?
Kennst du diese Frage: „Hab ich Passing oder nicht?
Wirke ich gerade eher männlich oder eher weiblich?“
Du kennst nicht mal das Wort ‚Passing‘? Da werd‘ ich neidisch.
All das sind Privilegien, mach dir das mal klar!
Vielleicht nimmst du sie als selbstverständlich wahr.
Aber das hier ist kein Battletrack, der nur so zum Streit disst.
Hier spricht nur ‘ne trans*Frau, die das Rechtfertigen leid ist.
FaulenzA
Die meisten von Thomas Lempps Patienten seien vollkommen gesund, andere hätten körperliche oder auch psychische Erkrankungen, sagt er. Mit ihrer Transidentität aber habe das nichts zu tun. Fast nie ist die ursprünglich vorgetragene Geschlechtsidentität am Ende klassisch differentialdiagnostisch Ausdruck etwas ganz anderem. Das ist praktisch nie der Fall.
In seiner Praxis muss der Kinderpsychiater nicht nur die Bedürfnisse der Heranwachsenden, sondern auch die der Eltern berücksichtigen, das Umfeld mit einbeziehen. Die meisten seiner jungen Patienten sind um die 15 und dann mitten in der Pubertät.
Nicht selten stünden sie unter enormem Druck, wollten den Stimmbruch oder das Brustwachstum aufhalten und fragen nach Hormonen. Blocker stoppen die Pubertät zunächst. Die Beantwortung der Frage, ob und wie dann weiter körperlich eingegriffen werde, sei ein Prozess. Die Entscheidung darüber träfe er nur gemeinsam mit den Jugendlichen – und mit den Eltern.
„Ich verstehe jedes Elternteil, das große Sorgen hat. Weil das sind massive Auswirkungen auf den Körper. Und ein besorgtes Elternteil darf nie als Gegner aufgenommen werden. Auch das Elternteil muss erleben, dass seine Sorgen hier richtig aufgenommen werden und auch ernst genommen werden. Nicht nur der aktuell vorgebrachte Wunsch des Jugendlichen.“
Cis-Menschen müssen nicht beweisen, dass sie Cis sind.
Bei Gutachter_Innen, die das besser als sie wissen.
Sonst gibt’s keine Korrektur zum Beispiel in dem Reisepass.
Ich dreh‘s um, dann verstehst du, wie ich diese Scheiße hass‘.
Er fragt dich: „Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?
In dem Geschlecht zu leben, in dem Sie leben sollen?
Und wie war Ihre Kindheit, eher Fußball, oder Puppe?
Und sind Sie sich schon sicher, seid Ihrer Krabbelgruppe?“
Wenn du Glück hast, hat er dir geglaubt und dich gehört.
Und er sagt: „Sie haben Recht, Sie sind identitätsgestört."
FaulenzA
Musik von der Berliner Künstlerin FaulenzA. In ihren Songs singt sie über ihr schwieriges Coming-out als trans Frau, ihre Transition, die noch ganz anders war als Ellas Geschichte oder das, was die Jugendlichen in Thomas Lempps Praxis erleben. FaulenzA wuchs in den 90er-Jahren im Westen der Republik auf – als Junge … gewissermaßen.
„Bin ich als Junge aufgewachsen. Oh je. Ich würde sagen, dass ich als Kind ein Mädchen war, aber von außen, von der Gesellschaft, von meinen Eltern gedrängt worden bin, einen Jungen zu spielen. Das ist ja was anderes. Hört sich für mich passender an. Bei Abweichungen im Verhalten, Kleidung, irgendwas, was nicht männlich zuordenbar ist, mindestens die Information bekommen hab: Das macht ein Junge aber nicht oder dafür gehänselt wurde in der Schule oder so.
Es gibt mehr als Männer und Frauen
Die Vielfalt von Geschlechteridentitäten ist zunehmend sichtbar. Und egal wie ihr unmittelbares Umfeld das bewertet und wo sie sich selbst verorten: Jugendliche wissen inzwischen mehrheitlich, dass es mehr gibt als Männer und Frauen und dass Liebe nicht zwingend heterosexuell ist. Und sie müssen darin ihren eigenen Platz finden – egal, ob sie homo- oder heterosexuell sind, ob sie trans sind oder nicht.
„Ich hatte nicht mal richtige Worte für das, was ich bin. Ich kannte das Wort trans nicht.“
Die Berliner Künstlerin FaulenzA hingegen wuchs noch ganz anders auf – in den 80er- und 90er-Jahren, in einer westdeutschen Kleinstadt. Ein Aufwachsen begleitet von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit und Scham – darüber, irgendwie nicht richtig zu sein.
„Hier und da habe ich im Fernsehen natürlich mal aufgeschnappt, als was Komisches, Ulkiges, dass im Fernsehen halt mal eine trans Frau als Lachfigur auftaucht, wie das heute noch immer viel ist. Also das war nicht ein Lebensentwurf oder etwas, das ich bin oder sein wollte. Ich habe nur gemerkt vor allen Dingen in der Pubertät, dass ich neidisch bin auf den Körper von Cis-Mädchen oder gern so einen Körper hätte. Und dass ich mich eben in meinem Verhalten und allem sehr einschränken musste, um nicht anzuecken.“
Die Angst davor, ausgeschlossen zu werden
FaulenzA – die hier ausschließlich mit ihrem Künstlerinnennamen genannt werden will – ist eine punkige, mit zahlreichen Tattoos versehene Frau, die während sie erzählt, an einem Topflappen strickt. Einen pinken!
„In der Mädchenclique wäre ich durch die körperlichen Merkmale nicht aufgenommen worden, in der Jungsclique durch Verhaltensweisen und Interessen. Da musst man sich schon sehr verbiegen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Und wie ich herausgefunden hab, dass ich trans bin, ich dachte, dass ich ein schwuler Junge wäre, der eben ein bisschen verrückt ist, weil er lieber ein Mädchen wäre. Dann dachte ich, okay, wenn ich das jetzt jemandem erzähle, dann halten sie mich für verrückt, dann bin ich erst recht ausgeschlossen.“
Wer entscheidet über die geschlechtliche Identität eines Menschen?© Getty Images / iStockphoto / Fumika
Schulen sind Gewalträume, singt FaulenzA in einem ihrer Songs und entwirft darin die Vision davon, wie es wäre, würde sie heute zur Schule gehen: Sie hätte eine coole, queere Gang. Nach ihrer Schulzeit ging sie Anfang der 2000er-Jahre in die Punkszene und fand dort Menschen, die das Außenseitertum nicht nur nicht kritisierten, sondern regelrecht zelebrierten. Sie stieß, weiterhin als Mann firmierend, zu einer feministischen Gruppe. Ihr Coming-out als trans Frau wurde ein Desaster.
„Da bin ich in der feministischen Szene an die gleichen Normen und Grenzen, an das gleiche Zweigeschlechterdenken gekommen, wie ich es sonst so aus meiner Kindheit schon kannte. Das war so ein bisschen das Absurde: Das Männliche galt als das Gute, in der Form, dass Cis-Frauen, das, was als weiblich zugewiesen wurde, abgewiesen haben, selber nicht wollten. Wo in feministischen Workshops und so versucht wurde, sich Männerdomänen anzueignen. Dann gab es Skateworkshops und Technikworkshops und so. Das galt alles als cool, sich einen männlichen Style in Klamotten anzuziehen. Wo eher rational sein als cool galt, emotional sein nicht.“
Der problematische Umgang mit Stereotypen
Dass Mädchen und Frauen sich Verhaltensweisen aneignen, die als männlich gelten, ist längst in Ordnung. Frauen sind dann durchsetzungsstark, emanzipiert. Es gibt Kosenamen für Mädchen, die nicht die Prinzessinnenrollen wählen: Ronja Räubertochter, Wildfang, Tom-Boy, mit dem Papa so viel unternehmen kann.
Wenn Jungen oder Männer aber das, was als männlich gilt, ablehnen und das sogenannte Weibliche entdecken und vielleicht sogar bevorzugen, fällt das stärker auf, wird eher problematisiert und abgelehnt. Die Auswirkungen davon sieht Thomas Lempp auch in seiner Praxis.
„Wir sehen unter sechs Jahren fast keine weiblichen Zuweiser. Das heißt, wahrscheinlich werden die Jungs schneller zugewiesen. Die Mädchen können sich länger jungenhaft ausprobieren. Dann merken sie, dass es einen Raum gibt, ihre männlichen Anteile auszuprobieren. Und einige, die tatsächlich transident sind, bleiben dabei und finden da einen höheren Empfangsraum als die Jungen.“
Die
Deutsche Gesellschaft für Transidentität geht von rund 0,6 Prozent transidenten Menschen in Deutschland aus. In einer Gallup-Umfrage aus den USA wiederum bezeichneten sich im Jahr 2021 ganze 0,7 Prozent der befragten US-Amerikaner selbst als transident. Das kanadische Amt für Statistik wiederum zählt gerade mal 0,33 Prozent transidente Menschen. Dabei sind Zahlen und Erhebungen höchst problematisch: Werden alle, deren Identität nicht dem Zuweisungsgeschlecht entspricht, gezählt oder nur solche, die eine vollständige körperliche Geschlechtstransition samt Personenstandsänderung vorgenommen haben?
Selbstbestimmungsgesetz statt Transsexuellengesetz
„Das war das Wichtigste für mich, da eröffnete sich für mich eine ganz neue Welt“, sagt die Berliner Künstlerin FaulenzA über ihre vollständige Transition zur Frau.
„Also es fielen so die zweigeschlechtlichen Ketten von mir ab. Dass ich dachte: Das ist mir verbaut oder darf ich nicht probieren. Da war eben ganz viel Probieren und ich konnte anfangen, mich überhaupt erst mal selbst zu finden in diesem Zwei-Geschlechter-System. Und mit mehr Mut mich daraus zusammen zu bauen. Mich nicht nur aus einem der Zwei-Geschlechter-Schubladen zu bedienen.“
Die Regierung hat im Juni die Eckpunkte des neuen Selbstbestimmungsgesetzes vorgestellt und erklärt, dass sie das Transsexuellengesetz von 1980 für verfassungswidrig hält. Eine Personenstandsänderung samt Namensänderung dürfen transidente und nicht-binäre Menschen dem Entwurf zufolge ohne ärztliche Gutachten bei den Ämtern beantragen.
Eine Geschlechtsangleichung ist für eine Personenstandsänderung nicht mehr nötig und auch Jugendliche ab 14 Jahren können den Personenstand ändern lassen. Finden sie bei ihren Eltern dafür keine Unterstützung, würden zukünftig Familiengerichte darüber entscheiden. Damit soll das Recht auf Selbstbestimmung sichergestellt werden.
Entscheidend dafür, ob jemand transident, cis oder non-binär ist, ist die eigene Selbstdefinition – und nicht ein besonders geschlechterkonformes Verhalten, so Kinderpsychiater Thomas Lempp.
„Ich erlebe da Jugendliche, die sich sehr klar transident fühlen, aber nicht gesellschaftliche Stereotype erfüllen möchten. Das halte ich für einen großen Fortschritt. Als ich mit der Sprechstunde begonnen habe vor zehn Jahren, hatten wir oft Jugendliche mit Springerstiefeln, die wollten alle zur Armee und die mussten ultramaskulin daherkommen. Wenn jetzt die trans Jungen mal ein bisschen Nagellack auftragen, verunsichert mich das als Kliniker gar nicht. Ich denke, das ist ein Fortschritt.“
Ein breites Spektrum an Identitäten
Geschlechtszugehörigkeit wird heute nicht mehr als binäre Kategorie gedacht, sondern als Spektrum, an dessen einem Ende männlich und dem anderen weiblich steht. Irgendwo innerhalb dieses Spektrums findet Identität statt.
Dass Menschen sich manchmal auch gar nicht innerhalb dieser Skala verorten, erzählt Lotti. Zuweisungsgeschlecht: weiblich. Die eigene Identität beschreibt Lotti, Mitte 20, als trans und non-binär.
„Mein Verständnis von trans ist einfach, dass sich Personen nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren. Komplett oder auch teilweise nicht. Dementsprechend trifft das auch auf mich zu, weil ich mich nicht mit dem Geschlecht weiblich, das mir bei der Geburt zugewiesen wurde, identifiziere. Und nicht binär sein ist für mich einfach genauso der Überbegriff für alles, was zwischen den Geschlechtern männlich und weiblich steht. Und da ich mich weder auf der einen oder anderen Seite wiederfinde, ist das einfach ein Begriff, mit dem ich mich gut identifizieren kann.“
Lotti erzählt von den starken weiblichen Vorbildern in der Familie. Die Großmutter als auch die Mutter seien Feministinnen.
„Deswegen ist es nicht so, dass ich mich von so einem konventionellen Weiblichkeitsbild abgrenzen wollte. Sondern explizit damit, dass ich mich nicht wohlfühle damit, als weiblich oder als Frau angesprochen zu werden. Es geht mir nicht darum, andere Leute zu irritieren, oder es ist kein Hobby oder ein Spaß, den mir das bereitet. Ich fühle mich sehr viel wohler, ich kann sehr viel selbstbewusster sein, seit ich weiß, wer ich bin. Und nicht mehr versuche, in diese Kategorie Frau sein reinzupassen.“
Lotti arbeitet als Sozialarbeiter:in in einer Wohngemeinschaft für transidente Jugendliche.
"Ganz zu Anfang fand ich es spannend, dass mich die Jugendlichen ein Stück weit empowered haben, dass sie zum Teil sehr viel selbstverständlicher mit ihrer Identität umgehen."
Ein Hinweis darauf, dass gerade in jüngster Zeit ein Wandel stattfindet? Weil junge Menschen, Teenager, inzwischen mit größerer Selbstverständlichkeit ihre Transidentität leben als man das vor zehn Jahren noch konnte? Gut möglich, zumindest sind trans- und nicht-binäre Menschen sichtbarer geworden … und hörbarer.
„Mir haben öfter mal Leute geschrieben, meine Musik hätte ihnen auch ein Stück weit Mut gemacht für ihren Weg, ihr Coming-out oder so. Das hat mich natürlich voll gefreut, weil – Vorbilder haben – das hat mir natürlich gefehlt in der Kindheit und Jugend“, sagt FaulenzA.
Es sprechen: Gabi Wuttke und Rosario Bona
Technik: Ralf Perz
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Martin Hartwig