Geschwisterbeziehungen

Lernen, füreinander einzustehen

27:39 Minuten
Zwei kleine Mädchen sitzen dicht aneinander gelehnt auf einem Sofa und scheinen fernzusehen.
Die Beziehung unter Geschwistern prägt ein ganzes Leben lang - dafür ist sie aber noch erstaunlich wenig erforscht. © Unsplash / Josue Michel
Von Teresa Sickert |
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Geschwister sind nicht nur Konkurrentinnen und Rivalen, sie bilden im besten Fall auch eine Solidargemeinschaft. In der Forschung ist diese Beziehung noch viel zu wenig beleuchtet. Dabei legt sie die Grundlage für unser gesellschaftliches Handeln. (Erstsendung am 3.11.22)
Aus evolutionärer Sicht sind Geschwister Rivalen. Sie buhlen um Nahrung, Sicherheit, Liebe. Doch Geschwister schenken einander auch Liebe und Kraft. Sie sind die ältesten Zeugen unseres Lebens und können enge Bezugspersonen sein. In Geschwisterbeziehungen kann der Umgang mit Konkurrenz, Rivalität, aber auch Solidarität erprobt werden, sie sind damit eine Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben.
Doch in den vergangenen Jahrzehnten gab es immer weniger Kinder - und Geschwisterkinder, der soziale Ort “Familie” hat sich verändert. Seit dem Babyboom in den 60er-Jahren ging die Zahl der Geburten stark zurück und erreichte im Jahr 2011 die niedrigste Geburtenzahl seit 1946. Seitdem hat sich die Lage wieder etwas entspannt. Doch der Trend bleibt: Familien mit vielen Kindern gibt es immer seltener. Etwa ein Viertel aller Kinder wächst heute ohne Geschwister auf.
Was bedeutet das für eine Gesellschaft, in der es immer weniger Kinder - und vor allem Geschwister - gibt? Gerade in Zeiten, in denen eine Krise die nächste jagt. Wie können die Mitglieder einer Gesellschaft lernen, füreinander einzustehen? Welche Rolle spielen hierbei Institutionen, wie Kitas oder Schule? Inwiefern sind sie geeignet, diese geschwisterliche Lücke zu füllen?

Geschwisterbeziehung als elementare Erfahrung

Ein Beispiel dafür, wie wichtig und bereichernd diese Beziehung sein kann, sind Helene und Tatjana. Als Schwestern haben sie eine elementare soziale Erfahrung gemacht, die Einzelkindern unbestritten fehlt: die der Geschwisterbeziehung.

Ich glaube wirklich, was das bedeutet, für jemanden immer bedingungslos da zu sein und den anderen immer zu unterstützen und sich immer unterstützt zu fühlen, das ist schon so was, was ich absolut von dir gelernt habe.

Helene zu ihrer älteren Schwester Tatjana

„Ich glaube, als Allererstes ist mir eingefallen, was ich von dir gelernt habe oder was ich von meiner großen Schwester gelernt habe, ist so, was es bedeutet - es klingt jetzt vielleicht bisschen kitschig -, aber so jemanden so bedingungslos zu lieben, weil ich glaube, so von den Eltern und mit den Eltern ist noch was anderes, aber so das, was wir haben. Und es gab einfach so viele Situationen, schwierige Situationen, aber auch schöne Momente, die wir geteilt haben. Und ich glaube wirklich, was das bedeutet, für jemanden immer bedingungslos da zu sein und den anderen immer zu unterstützen und sich immer unterstützt zu fühlen, das ist schon so was, was ich absolut von dir gelernt habe“, sagt Helene.
Helene und ihre große Schwester Tatjana heißen eigentlich anders, wir haben ihre Namen für dieses Feature geändert. Die beiden sind heute 31 und 34 Jahre alt. Ein Herz und eine Seele. Das war einerseits schon immer so und andererseits auch nicht.
„Wir haben unglaublich viel gestritten, weil wir eben ganz, ganz viel Zeit miteinander verbracht haben. Wir haben immer viel zusammen gespielt, viel gelacht, aber genauso viel auch gestritten. Also als wir Kinder waren“, erzählt Helene weiter.
„Pubertät kam ganz extrem und bei mir ist auf jeden Fall hängen geblieben, so eine extreme Frustration und sich unverstanden fühlen und auch dieses, dass man das Gefühl hatte, der andere provoziert einen und kennt einen so gut. Also, dass wir immer genau beim anderen das getriggert haben, wo wir wussten, dass das den anderen auf die Palme bringt.
Und für mich persönlich, weil ich war eben die Jüngere und konnte mich dann oft noch nicht so ausdrücken und das war, glaube ich, auch dann immer oft diese Frustration, dass mir meine Schwester ein bisschen überlegen ist. Und ich habe dann irgendwann eine ganz lange Zeit angefangen zu schreien.“

Natürlich war es damals echt anstrengend, weil wir einfach wirklich fies zueinander waren und wirklich genau wussten, wie man sich wehtut.

Tatjana über ihre Beziehung zu ihrer Schwester Helene

„Auf jeden Fall sind wir von Schreien irgendwann auf Türen knallen umgestiegen und irgendwann schon auch mal so ein bisschen körperliches sich angehen oder versuchen sich aus dem Zimmer zu schieben“, sagt Tatjana. „Aber ja, heute kann man wirklich drüber lachen in der Rückschau. Also weiß ich aber, dass es einfach in meinem Kopf sehr komisch aussieht. Natürlich war es damals echt anstrengend, weil wir einfach wirklich fies zueinander waren und wirklich genau wussten, wie man sich wehtut.“

Kompetenz, Emotionen auszubalancieren

Doch das Ausbalancieren von ganz unterschiedlichen Emotionen ist eine wichtige Kompetenz, die in der Geschwisterbeziehung geübt wird. Dabei ist kaum eine Beziehung so ambivalent wie die von Geschwistern, sagt auch Nicola Schmidt. Sie ist zweifache Mutter, Politik- und Sozialwissenschaftlerin und Gründerin des „artgerecht-Projekts“.
„Viele Leute fragen: Artgerecht - was ist das denn? Und die Antwort lautet: Wir kümmern uns um artgerechte Kinderhaltung. Also tatsächlich um die Frage: Was wäre eigentlich artgerecht für den Homo sapiens, wenn man einfach nur fragt jenseits von Kultur, Ideologie und Mode? Was brauchen denn Kinder, um körperlich und mental gesund aufzuwachsen? Und Eltern auch?“
Porträt von Nicola Schmidt
Kaum eine Beziehung ist so ambivalent wie die von Geschwistern, sagt auch Nicola Schmidt, zweifache Mutter, Politik- und Sozialwissenschaftlerin.© picture alliance / dpa / Malina Ebert
Nicola Schmidt hat schon einige Ratgeber zu artgerechter Erziehung geschrieben, unter anderem auch ein Buch über “Geschwister als Team”. Darin setzt sie sich damit auseinander, wie die Beziehung zwischen Geschwisterkindern gelingen kann. Sie hat auch eine Antwort darauf, warum die Beziehung zwischen Geschwistern so ambivalent ist. Das liegt vor allem an einer Erfahrung, die nur Geschwister miteinander teilen können.
"Geschwister können nur von Geschwistern lernen, wie man Konflikte aushandelt, die sich um die primäre Bindungsperson drehen. Die müssen sich ja Mama und Papa teilen. Oder Mama, Mama oder Papa und Papa. Aber ihre primären Bindungspersonen müssen diese Kinder teilen und die Konflikte, die daraus entstehen, die müssen sie lernen auszuhandeln. So was lernt man tatsächlich nur von Geschwistern.“
„Wie kommt das bei den Geschwistern an? Sie streiten. Und das sind alles Dinge, die natürlich einen Einfluss haben zu Einstellungen, die man dann hat, zu anderen Menschen, zu Verhaltensweisen, die man entwickelt. Also wie streitet man, wie gibt man nach?
Wie überlistet man dann das Geschwister? Wie behauptet man sich gegenüber den Eltern, weil man sieht, dass das andere Geschwister das anders macht? Und so weiter. Also das sind ganz viele Beziehungsmuster und Gefühlsmuster, die eben auch in dieser Geschwisterbeziehung mitentwickelt werden. Neben dem Beziehungs- und Gefühlszustand, die man mit den Eltern lernt und einübt“, sagt Jürgen Frick.
Der Schweizer Psychologe und Geschwisterforscher beschäftigt sich seit 25 Jahren intensiv mit Geschwisterbeziehungen. Das hat wenig damit zu tun, dass er selbst ein Geschwisterkind ist, sondern mehr damit, dass Frick feststellt: Die Geschwisterbeziehung hat eine enorme - eine unterschätzte - Bedeutung.

Geschwisterbeziehungen - zu wenig betrachtet

„Aber ich glaube, das Thema habe ich jetzt nicht einmal speziell wegen der Beziehung zu meiner Schwester so spannend gefunden, sondern ich habe sehr früh gemerkt, als ich dann begonnen habe zu unterrichten, und später dann auch eben in der Beratung, dass das ein Thema war, was die Leute eigentlich sehr stark beschäftigt oder wo ich auch gemerkt habe, dass die Leute Probleme haben und diese Probleme unter anderem auch mit ungeklärten Geschwisterbeziehungen verknüpft sind.“
Porträt von Jürg Frick an seinem Schreibtisch.
Der Schweizer Psychologe Jürg Frick beschäftigt sich seit 25 Jahren intensiv mit Geschwisterbeziehungen.© privat
Wenn es persönliche Probleme gibt, dann schaut unsere Gesellschaft bis heute immer noch am liebsten auf die Mutter-Kind-Beziehung. Sie stand auch viele Jahre im Fokus der Forschung. Später entdeckte man die Väter. Die Geschwisterbeziehung folgte erst danach und wird bis heute - so Frick - nach wie vor viel zu wenig betrachtet. Dabei verbringen Geschwisterkinder in der Regel mehr Zeit miteinander als mit ihren Eltern.
„Aber ich staune eigentlich auch immer wieder trotzdem, dass das auch bis heute immer noch vernachlässigt wird. Dieses Thema. Es gibt auch keinen Lehrstuhl für Geschwister, Psychologie zum Beispiel. Das finde ich auch erstaunlich. Also zumindest im deutschsprachigen Raum gibt es das nicht und da staune ich auch heute noch darüber.“

Geschwisterforschung in den Kinderschuhen

Bis heute steckt die Forschung dazu, wie prägend diese wichtige Beziehung ist, noch in den Kinderschuhen. Klar ist aber: Eine toxische Geschwisterbeziehung, in der Rivalitäten den Alltag bestimmen und Streits in schweren Verletzungen, Mobbing oder gar physischer Gewalt ausarten, kann den Selbstwert nachhaltig negativ beeinflussen. Gute Geschwisterbeziehungen aber können das Leben bereichern und den eigenen Selbstwert erhöhen.
„Sie können ein Schutzfaktor sein. Das ist die positive Botschaft der Resilienzforschung. Und sie können, und das wäre dann die Botschaft eben der psychopathologischen Forschung, sie können auch einen erheblichen Risikofaktor darstellen. Aber wir sprechen ja über den Schutz und hier sind eben gute Geschwister, Beziehungen, verlässliche Geschwister zum Beispiel auch später für das Leben unter Umständen ganz entscheidend“, sagt Jürgen Frick.
Doch wie gelingt eine gute Geschwisterbeziehung? Das hängt weniger vom Altersabstand, dem Temperament, der Reihenfolge, dem Geschlecht oder den Lebensumständen ab, sondern: Relevant ist vor allem, wie die Eltern mit den Geschwistern umgehen und wie sie ihnen beibringen, Konflikte zu lösen - wie sie zu einem Team werden.

„Vergleichen Sie die Kinder niemals!"

Für Nicola Schmidt gibt es in diesem Zusammenhang drei wichtige Grundregeln: „Vergleichen Sie die Kinder niemals! Ergreifen Sie niemals für eines der Kinder Partei und rasten Sie nicht aus. Ich weiß, der letzte Punkt ist schwierig, deswegen habe ich danach ‚Erziehen ohne Schimpfen‘ geschrieben. Weil viele gesagt haben. Also spätestens bei Punkt 3 steige ich aus.
Vergiss es. So wie die streiten, raste ich aus. Es ist aber tatsächlich so: Wenn wir die Kinder vergleichen, züchten wir Rivalität und Rache. Wenn wir Partei ergreifen, züchten wir Aggression und Streit. Und wenn wir ausrasten, bringen wir den Kindern bei, dass man auf Stress mit Stress und Aggression reagiert“, erklärt Nicola Schmidt.
Eine Frau sitzt auf einer Bank an einem Aussichtspunkt, links und rechts von sich jeweils ein Kleinkind.
"Es gibt sehr viele Studien, die zeigen, dass eben eine Mehrzahl der Eltern häufiger, ohne dass sie das möchten, ihre Kinder bewusst oder vor allem auch unbewusst bevorzugen oder andere eben auch benachteiligen", sagt Jürgen Frick.© Unsplash / Benjamin Manley
„Wenn wir das alles lassen, dann können wir den Kindern beibringen: Jeder von euch ist gut so, wie er ist. Es geht nicht darum, wer was falsch gemacht hat. Ich sage meinen Kindern immer: Wir sind nicht vor Gericht, wir sind in der Familie. Ich will wissen, wie wir eine Lösung finden, damit wir als Team weitermachen können und nicht, wer jetzt diese Vase umgestoßen oder den letzten Keks gegessen hat.
Wir wissen, wie wir einen guten Nachmittag hinkriegen. Was braucht ihr? Und wenn wir nicht ausrasten und dann schaffen, ruhig zu bleiben, dann schaffen es auch die Geschwister mit zunehmendem Alter, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Und das wird ihnen ein Leben lang ein Segen sein.“

Kinder als eigenständig betrachten

„Was besonders wichtig ist, ist natürlich die Einstellung der Eltern, also dass Eltern ihre Kinder als eigenständige, gleichwertige Wesen betrachten. Und es gibt sehr viele Studien, die zeigen, dass eben eine Mehrzahl der Eltern häufiger, ohne dass sie das möchten, ihre Kinder bewusst oder vor allem auch unbewusst bevorzugen oder andere eben auch benachteiligen. Das ist etwas, was eine zentrale Rolle spielt, ohne dass ich mit dem eine Schuldzuweisung vornehmen möchte. Die Eltern machen das ja nicht einfach absichtlich, sondern es passiert aufgrund von eigenen Erfahrungen“, sagt Jürgen Frick.

Ich war die Launische, die Unausgeglichene, die, die irgendwie anstrengend war und problematisch. Wohingegen meine große Schwester immer so der Sonnenschein war, total ausgeglichen und so happy go lucky, immer gut drauf.

Helene über die Rollenverteilung in der Familie

Neben Bevorzugungen oder Benachteiligungen sind bei der Entwicklung der Geschwisterbeziehung auch die Rollenzuschreibungen der Geschwister entscheidend. Sie werden auch durch die Kinder selbst, aber vor allem aber implizit oder explizit durch die Eltern geprägt. Zum Beispiel: die Ängstliche versus die Mutige, die Fleißige versus die Faule, das Opfer versus die Täterin, die Lustige versus die Ernste, die Schwierige versus die Unkomplizierte. Solche Rollen kennen auch die Schwestern Helene und Tatjana.
„Ich war die Launische, die Unausgeglichene, die, die irgendwie anstrengend war und problematisch. Wohingegen meine große Schwester immer so der Sonnenschein war, total ausgeglichen und so happy go lucky, immer gut drauf. Und ich weiß auch ja, weil wir auch viel darüber miteinander gesprochen haben, wie wir das heute sehen und wie wir es auch damals unterschiedlich wahrgenommen haben. Aber ich glaube, das war so die klassische Rollenverteilung bei uns“, meint Helene.
„Ich würde auf jeden Fall auch sagen, dass ich, also das wurde schon auch oft so kommuniziert, so dieses der Sonnenschein oder gut drauf und immer lächeln, obwohl uns das auch oft beiden gesagt wurde. Aber ich habe das schon auch wahrgenommen, dass bei meiner kleinen Schwester dann öfter mal gesagt wurde, wenn sie zum Beispiel beim Essen irgendwas nicht mochte, so nach dem Motto, Du bist jetzt aber mäkelig und so, und es wurde sehr schnell dann vielleicht auch mal ins Negative so herausgestellt, wo ich mir dachte, es ist einfach auch normal, dass ein Kind mal was nicht essen will“, erinnert sich Tatjana.

Jedes Kind versucht, seinen Platz zu finden

„Psychologen gehen von dieser Nischentheorie aus, die sie auch ein Stück weit evolutionär begründen, dass man davon ausgeht, dass jedes Kind versucht, einen Platz in der Familie zu finden, wo es Aufmerksamkeit, Zuwendung bekommt. Das ist etwas, was elementar ist, um zu überleben. Und diese Aufmerksamkeit und Zuwendung, die bekommt man natürlich eher, wenn man ein Stück weit unterscheidet, dass beide Kinder sehr kreativ und wild sind.
Dann kann man höchstens nur noch kreativer und noch wilder sein als dieses Geschwister, oder da muss man eine andere Rolle suchen, ist dann eher vernünftig. Und jede dieser Rollen hat natürlich Vor- und Nachteile. Aber in dieser Unterscheidung von verschiedenen Rollen hat man danach seinen Platz, wo man vielleicht auch das Gefühl hat, hier ist mein Platz, da bin ich nicht bedroht. Das, das bin ich jetzt als Person“, erklärt Jürgen Frick.
Porträt zweier Schwestern. Eine schaut direkt in die Kamera, die andere verdeckt zur Hälfte ihr Gesicht und ist selbst im Profil zu sehen.
Geschwister, die sich manchmal sogar sehr ähnlich sind, besetzen in ihrer Familie komplett andere Rollen, um sich zu unterscheiden, beobachtet Jürgen Frick.© Getty Images / EyeEm / Ina Art / EyeEm
In der Kindheit erfüllen diese Rollen einen Zweck, sie heben die Geschwister voneinander ab. So kommt es, dass Geschwister, die sich manchmal sogar sehr ähnlich sind, in ihrer Familie komplett andere Rollen besetzen, um sich zu unterscheiden. Auch Tatjana und Helene sehen sich heute - entgegen der Zuschreibung der Eltern - beide als lustige, fröhliche, extrovertierte Frauen. Eine verfestigte Rollenzuschreibung aus der Kindheit kann, weiß auch Nicola Schmidt, im Erwachsenenalter manchmal ein Gefängnis sein.
„Das ist ein ganz wichtiges Thema, weil verfestigte Geschwisterrollen die Menschen tatsächlich begleiten bis ins hohe Alter. Wenn ich in meinen Vorträgen dieses Thema anschneide, dann frage ich immer: Wer von Ihnen kennt dieses Gefühl? Ich trage heute noch die Rolle, die ich als Geschwister von meinen Eltern bekommen habe. Und es ist faszinierend, wie viele Hände da hochgehen. Und die Leute sagen: Ja, ich knabber da heute noch dran, dass ich immer die Vernünftige sein musste oder immer die Kleine oder nicht in Verantwortung genommen wurde oder zu viel Verantwortung hatte.“

Kinder "gegen das Fach besetzen"

Nicola Schmidt empfiehlt Eltern, schon früh gegen diese Rollen zu arbeiten. Der erste Schritt ist diese zu erkennen und dann etwas zu tun, das man im Schauspiel “gegen das Fach besetzen” nennt.
„Die Geliebte nicht durch das junge schöne Mädchen besetzen, sondern durch das wilde, zottelige oder was auch immer. Also gegen das Fach zu sagen, Mensch, du bist zwar immer so ordentlich, aber heute will ich mal eine richtig wilde Sache machen. Hast du Lust, es mit mir zu machen? Heute wälzen wir uns mal Matsch, oder? Mensch, du bist ja eigentlich nicht so das Kind, was sein Zimmer so ordentlich hält. Aber ich würde gern das Gewürzregal mal neu sortieren.
Hast du nur Lust, es mit mir zusammen zu machen, und wir überlegen uns mal wie organisieren wir die Küche, sodass ich Kinder dazu auffordere, Dinge zu tun, die nicht in ihrem normalen Verhaltensrepertoire liegen und dadurch das Verhaltensrepertoire erweitere. Sodass die Kinder lernen: Wow, ich kann mich auch ganz anders verhalten und fühlen und sehen. Und damit holen wir sie aus diesen Rollen raus.“
Gegen die Rollenzuschreibungen zu arbeiten, ist also ein weiterer wichtiger Schritt, um einen ausgeglichenen und respektvollen Umgang zwischen den Geschwistern zu ermöglichen. Doch nicht nur die Eltern nehmen Einfluss auf die Beziehung. Auch ob Großeltern ein Geschwisterkind bevorzugen, wie sich ein Kind in der Schule zurechtfindet, ob es chronische Krankheiten bei einem Kind gibt usw. spielen eine Rolle. Und auch die Gesellschaft, in der wir leben. 

Wer ist der oder die Beste?

„Wir haben ein extremes Bewertungssystem. Alles wird heute gerankt, Leute, jede Leistung, sofort kommt in den Medien: Wer ist der Schnellere? Noch besser, noch eine Zehntelsekunde schneller. Und die Leute, die dann ganz top sind, die werden unglaublich für das belohnt, bekommen Aufmerksamkeit. Also hier die Rivalität. Wer ist der Beste?
Noch etwas besser, noch besser. Da werden Leute dann bekannt und berühmt und belohnt. Und leider weniger Menschen, die sich eben zum Beispiel sehr sozial verhalten. Das ist, denke ich, ein ganz großes, aus meiner Sicht unerkanntes gesellschaftliches Problem, dass wir hier etwas zusätzlich gesellschaftlich schüren permanent, das eigentlich eher problematisch ist“, kritisiert Jürgen Frick.
Rivalitäten, die bis zu einem gewissen Grad normal sind und für Kinder Entwicklungsanreize schaffen, werden durch den ständigen Leistungsdruck der Gesellschaft verschärft. Hinzu kommt, dass Kinder einst in großen Gemeinschaften aufgewachsen sind, in denen mehrere Erwachsene - aber vor allem auch viele Kinder - nach den Kindern geschaut haben.
„Wir sind eine kooperativ aufziehende Art, also ich bin gar nicht dafür gemacht, meine zwei Kinder alleine großzuziehen. Wir sind dafür gemacht, das in der Gruppe mit vielen Menschen zu tun. Und immer wenn uns das gegeben ist, kriegen wir das in der Regel gut hin. Und immer werden wir damit alleine gelassen werden, weil diese Institutionen, diese Wahlverwandtschaften, diese sozialen Räume nicht mehr funktionieren, dann zerbrechen wir daran“, sagt Nicola Schmidt.

Eltern bräuchten mehr Zeit für soziale Kontakte

„Und was unsere Eltern einfach brauchen, wäre Zeit. Also Zeit, um soziale Kontakte zu pflegen. Es gibt ja diese Idee der vier Stunden Arbeitszeit jeden Tag mit 20-Stundenwoche von dem Niko Paech. Und der sagt ganz klar: Wenn wir alle nur 20 Stunden die Woche arbeiten müssten, dann wäre es besser für den Planeten.
Wir würden weniger konsumieren, weniger verbrauchen, wir würden weniger gehetzt mit dem Auto von rechts nach links fahren, weniger CO2 ausstoßen und wir würden uns mehr um unsere sozialen Belange kümmern, uns mehr um unsere Alten kümmern, gemeinsam Dinge reparieren, gemeinsam Feste feiern, essen, gemeinsam kochen. Und es wäre tatsächlich für alle besser.“
Nicola Schmidt hat größte Hochachtung vor allen Eltern, die unter den gegebenen Bedingungen unserer Gesellschaft Kinder - vor allem mehrere - großziehen. Das heute verbreitete Konstrukt der Kleinfamilie hat dazu geführt, dass Eltern die vielen Herausforderungen, die ein Leben mit Arbeit und Kindern mit sich bringt, oft kaum bewältigen können. Gerade Menschen, die über weniger Ressourcen verfügen, haben es schwerer.
„Leute, die mehr Ressourcen haben, die haben generell von Anfang an mit Kindern bessere Chancen. Wir wissen, dass sie interventionsärmere Geburten haben, dass sie häufiger anfangen zu stillen und die Kinder länger stillen und dadurch die Kinder weniger krank sind, weniger fehlen. Dass diese Leute eine bessere Fremdbetreuung für die Kinder suchen und finden und sich leisten können, dass die Kinder auf bessere Schulen gehen etc. pp. Ist also eine Kette ohne Ende. Und da hätten wir ganz viel gesellschaftliche Chancen, um mehr Chancengleichheit zu schaffen und damit ganz banal gesellschaftliche Kosten, Folgekosten zu senken. Und wir verschenken diese Chancen an ganz vieler Stelle.“
Ein kleiner Junge im Kindergarten schaut mit frustriertem Blick auf sein Puzzle.
Tagesmütter und -väter, Kindergärten, Schule, Hort, Sportvereine - sie sind wichtige Lernorte, gerade für Kinder aus finanziell schwachen Familien und Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen.© Getty Images / skynesher
Die soziale Ungleichheit macht noch einmal deutlich, dass eine gute institutionelle Kinderbetreuung und andere soziale Orte daher essenziell sind: Tagesmütter und -väter, Kindergärten, Schule, Hort, Sportvereine usw. Sie sind wichtige Lernorte - gerade für Kinder aus finanziell schwachen Familien und Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen. Hier können sie geschwisterähnliche Beziehungen knüpfen, hier lernen sie geschwisterliches Verhalten. Doch für eine gute Betreuung fehlen Fachkräfte und Geld, sagt Schmidt.
„Wenn wir jetzt über kleine Kinder reden, was ja mein Spezialgebiet ist, also nur bis sechs, sind wir in Deutschland wenig gut aufgestellt, weil hochqualitative Kinderbetreuung als sozialer Lernort in Deutschland in den derzeit gegebenen Umständen nach Aussage der aktuellen Studien kaum möglich ist. Das heißt, es lastet sehr viel auf den Schultern der Eltern“, weiß Nicola Schmidt.

Abwärtsspirale der Betreuungsqualität in Kitas

Expertinnen warnen derzeit sogar vor einer Abwärtsspirale der Betreuungsqualität, insbesondere Kitas seien auf dem Weg von “Lernorten” zu “Aufbewahrungsstätten” zu werden. Die Betreuungssituation für Kinder in Deutschland müsste dringend verbessert werden.
„Auf der einen Seite ist das ganz wichtig für die Eltern und auf der anderen Seite staune ich immer noch, wie wir hier gesellschaftlich wirklich auf beiden Augen blind sind. Aber die Situation von Krippen und Kindergärten ist aus meiner Sicht dringend nötig, die zu verbessern. Also die Leute müssten viel besser ausgebildet werden. Es müsste viel mehr Personal da sein.
Der Personalschlüssel von Kind zu den Betreuungspersonen ist schlecht, das wissen wir aus vielen Untersuchungen schon lange. Und für mich ist es schon bezeichnend, dass wir hier einfach weiter gesellschaftlich schlafen und so den Tenor haben, Erziehung ist Privatsache, und da haben wir kein Geld. Und das ist etwas, was ich denke, das ist verheerend und wird auch Auswirkungen haben, die ungünstig sind“, sagt auch Jürgen Frick.
Frick befürchtet, dass Kinder, die bereits aus problematischen Verhältnissen kommen, durch zu wenig Personal und zu wenig qualifiziertes Personal in Kitas und Schulen nicht genügend Beziehungs- und Bindungserfahrungen machen.
„Dann erleben Kinder dieses Bedürfnis, dass sie anerkannt werden, dass sie Verlässlichkeit, Stabilität, Sicherheit haben - das erleben sie zu wenig. Und das hat natürlich dann Auswirkungen später, dass diese Menschen das, auch wenn sie spätestens im Jugendalter sind, dass sie das eben auch ausleben, dann und dieses Beziehungsmanko sich dann eben auch in Verhaltensstörungen zeigt.“

Immer weniger Geschwisterkinder

Schon heute hat die mangelnde Betreuungsqualität für Kinder negative Auswirkungen. Sie hat - unter anderem - dazu geführt, dass es in Deutschland immer weniger Kinder und vor allem Geschwisterkinder gibt. Weitere Faktoren sind: fehlende Infrastruktur, teurer Wohnraum, gesellschaftliche Normen, die schlechte finanzielle Unterstützung und mangelnde Anerkennung von kinderreichen Familien.
Auch Nicola Schmidt blickt kritisch auf die Entwicklungen und ihren Einfluss auf die Familie. Sie sieht ein weiteres Problem: die Individualisierung. Das Privileg, in westlichen Gesellschaften frei und autonom zu leben, führt gleichzeitig dazu, dass wir immer weniger in Gruppen eingebunden sind, die sich solidarisch verhalten. Das kann beim Einzelnen zu Gefühlen von Angst und Unsicherheit führen. Nicola Schmidt glaubt, hier könnten Geschwister im Vorteil sein.
„Das ist etwas, was wir tatsächlich in der Familie generell, aber natürlich auch mit Geschwistern fühlen können. Dieses Gefühl von, das ist keine Freundschaft, denn Freundschaften muss man pflegen, sondern das ist Blutsbande. Wir sind Geschwister, selbst wenn wir uns aufs Blut streiten. Wir sind Geschwister. Und wenn wir es schaffen, an dieser Konstellation Solidarität zu lernen und zu sagen:
Auch wenn ich dich nicht gut finde, halte ich zu dir, denn du bist Familie und ich weiß, dass wir eine Lösung finden werden. Und dann kann es tatsächlich auch nach außen wirken im Sinne von, dass diese Kinder wissen, wie man Solidarität vielleicht auch erhält, wenn man sich mal nicht so gut versteht und weiterhin zusammen als Team arbeitet. Und klar, im Idealfall hat das eine Wirkung.“

Solidarität lernen unter Geschwistern

Geschwister als Team in Zeiten der gesellschaftlichen Dauerkrisen? Gute Idee! Die Geschwisterbeziehung als wichtiges Lernumfeld für solidarisches Verhalten? Unbedingt! Auch Helene glaubt, dass diese unaufkündbare Beziehung zu ihrer Schwester mit der unaufkündbaren Beziehung, die man als Mensch mit der Gesellschaft hat, vergleichbar ist.
Sie sagt über ihre Schwester: „Egal, wie viel Kontakt wir haben: Du bist immer so viel in meinem Kopf und in meinen Erzählungen und in meinen Erlebnissen. Und ich glaube, genauso ist es ja auch in der Gesellschaft. Dinge stören einen an der Gesellschaft und man findet Dinge gut. Man kann versuchen, sich dem zu entziehen, ein Stück weit. Oder es gibt Momente, wo man sich mehr damit auseinandersetzt oder aktiver und passiver. Und ich glaube, man ist vielleicht durch Geschwisterkinder eventuell mehr anpassungsfähig oder mehr in der Lage damit umzugehen, auch mit seinem Verhältnis als Individuum in der Gesellschaft.“

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Dass der langfristige Trend zu weniger Kindern sich komplett umkehrt, ist unwahrscheinlich. Möchte eine Gesellschaft dennoch von guten Geschwisterbeziehungen profitieren, muss der Staat gute geschwisterähnliche Beziehungen ermöglichen. Und er muss Familien und vor allem - kinderreiche Familien - stärker fördern: finanziell, aber auch mit Erziehungshilfen, sagt Jürg Frick.
„Ich würde mir wünschen, dass wir wirklich massiv und ich meine das wirklich so, wie ich sage, massiv mehr investieren in die frühe Kindheit, in die Schulung der Eltern, in eine bessere Ausbildung der Kindergärtnerinnen, der Mitarbeiterinnen, in eine Sensibilisierung. Wenn Sie denken, jeder, der Autofahren lernt, der muss einen Ausweis machen, eine Prüfung, er muss Fahrstunden nehmen.
Und in diesem Bereich lässt man aus meiner Sicht die Eltern viel zu sehr im Stich. Man geht davon aus, diese wurden selber erzogen und wenn sie Hilfe brauchen, suchen sie die schon. Und in vielen Fällen leider fehlt das. Und das müsste mehr eine gesellschaftliche Übereinkunft sein, dass man hier etwas macht, und zwar nicht, um Defizite aufzuarbeiten, sondern im Sinne von Prophylaxe, Prävention. Eltern schon sehr früh zu unterstützen, da zu helfen.“
Eine Investition in Kinder ist immer eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Gerade angesichts der andauernden gesellschaftlichen Krisen müssen wir diesen Geist der “Brüderlichkeit” unterstützen. Heute würde man wohl eher “Geschwisterlichkeit” sagen, die Bedeutung bleibt aber dieselbe:
Menschen in einer Gruppe oder Gemeinschaft verhalten sich sozial und solidarisch, unabhängig davon, ob nun ein tatsächliches verwandtschaftliches Verhältnis vorliegt oder es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss handelt. Die "Brüderlichkeit" war eine der Kampfparolen der Französischen Revolution. Der Gedanke findet sich auch im ersten Artikel der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
Packen wir es an. Werden wir Brüder und Schwestern, werden wir ein Team.
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