Gesellschaft

Der Mensch, das soziale Wesen

Spaß bei der Arbeit: Marianne Buchhalt (r) und Gerlinde Nagel vom Verein "Weinbaufreunde im Bliesgau"
Auch eine gemeinsame Weinlese kann für das soziale Leben förderlich sein. © dpa / picture alliance / Jörg Fischer
Um die Lebensqualität in Deutschland zu verbessern, haben CDU und SPD im Koalitionsvertrag den ressortübergreifenden Aktionsplan "Gut leben" vereinbart. So seien vor allem soziale Bindungen wichtig, sagt Stefan Bergheim, Direktor vom Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt in Frankfurt am Main.
Um für bessere Lebensbedingungen zu sorgen, wird die Bundesregierung auch die Erkenntnisse des Projekts "Gut leben - Lebensqualität in Deutschland" aufnehmen, ist der Direktor des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritts, Stefan Bergheim, überzeugt.
Er sei sicher, dass er und seine Kollegen gehört würden, sagte Bergheim einen Tag vor einem Treffen von Vertretern von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Sozialverbänden zum Thema Lebensqualität im Bundeskanzleramt. Auch dass die Politik die Anregungen des Projekts für eigene Zwecke verwenden könnte, glaubt Bergheim nicht: "Das würde ich sonst nicht mitmachen und das würden die Bürger auch nicht mitmachen. Wenn man das riecht, merkt, da werde ich instrumentalisiert, da werde ich benutzt – ob jetzt als Wissenschaftler oder als Bürger - warum soll ich mich da dran beteiligen?“
Vorteilhaft sei, dass der Koalitionsvertrag vorsehe, einen ressortübergreifenden Aktionsplan "Gut leben" zu schaffen, so Bergheim. Das morgige Treffen hält der Direktor des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt für eine wichtige Etappe auf diesem Weg. "Da einfach die Köpfe in so einem strukturierten Prozess zusammen zu stecken und darüber zu reden ´Was machen wir denn schon, was macht ihr denn schon, was gibt es da noch an Möglichkeiten, was kann man da noch auf die Beine stellen‘ – das ist dort sehr wichtig."
Außerdem berichtete Bergheim über die Erkenntnisse, die durch ein ähnliches Projekt im Raum Frankfurt gewonnen werden konnten: "Wir haben zum Beispiel erfahren, wie wichtig den Menschen das Thema Zusammenleben ist. Das war das große Aha-Erlebnis aus dem gesamten Prozess.“ Ob sie nun Gespräche mit Investmentbankern oder in der Bahnhofsmission geführt hätten - überall sei das Thema Zusammenleben mit den anderen "ganz weit oben auf der Prioritätenliste“.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wer will das nicht, gut leben? Und so hört sich das Projekt "Gut leben – Lebensqualität in Deutschland" erst mal so an, als wären da Glücksforscher am Werk. Mitnichten. Beim Treffen im Kanzleramt geht es morgen viel pragmatischer zu. Die Regierung will nämlich erforschen, was dem Bürger wirklich wichtig ist. Wow, denkt man da, ist das nicht eigentlich ihr Job? Gut, also um die Fragen zu erkunden, wie wichtig sichere Jobs sind, oder ob die Krise in der Ukraine wirklich die Menschen ängstigt, treffen sich also morgen rund 50 Vertreter von Arbeitgebern, Sozialverbänden und Arbeitnehmern mit Kanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Gabriel und wollen eben über besagte Lebensqualität in Deutschland sprechen. Mit dabei ist auch der ehemalige Investmentbanker Stefan Bergheim. Er sitzt im Beratergremium des Projekts "Gut leben – Lebensqualität in Deutschland". Guten Morgen, Herr Bergheim!
Stefan Bergheim: Guten Morgen!
Brink: Sie haben das Projekt "Gut leben" vorgeschlagen und schon mal auf kommunaler Ebene in Frankfurt ausprobiert. Was haben Sie gemacht?
Bergheim: Wir haben Menschen gefragt, was Ihnen im Leben wichtig ist. Wir sind rausgegangen in Frankfurt, haben mit ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen darüber gesprochen, was für sie Lebensqualität ausmacht, was für sie wichtig ist im Leben, und welche Veränderungen sie sich wünschen in Frankfurt. Wir haben also nicht in einen Raum Menschen geholt, eingeladen, Experten für was auch immer, sondern wir sind auf die normalen Menschen zugegangen, wir nennen das die nicht so oft gehörten Stimmen, die in den gesellschaftlichen Diskursen über gesellschaftliche Prioritäten nicht diese Stimme normalerweise haben. Auf die sind wir zugegangen, und das ist ja auch das, was auf der Bundesebene geplant ist. Das morgige Treffen ist ein Vorbereitungstreffen, dafür zu schauen, wie kommt man mit den normalen Menschen tatsächlich ins Gespräch über diese großen Fragen.
Brink: Ich muss mich immer wundern: Ist das denn so schwierig? Wie sind Sie vorgegangen?
Bergheim: Das ist in der Tat schwierig, mit Menschen zu sprechen. Ich erinnere mich an das erste kleine Treffen, das wir hatten in einem islamischen Kulturverein. Das ist nicht normal, dass eben, wie Sie gerade gesagt haben, ein ehemaliger Investmentbanker mit einem marokkanischen Bauarbeiter telefoniert, um ihn zu fragen, dürfen wir mal vorbeikommen, um mit Ihnen beziehungsweise dann sehr schnell Euch über das Thema Lebensqualität zu reden. Aber es hat wunderbar funktioniert, die Türen sind aufgegangen, die Leute waren total begeistert, dass jemand vorbeigekommen ist und sich tatsächlich für ihre Perspektiven interessiert hat.
Brink: Wie haben Sie das ausgesucht, Ihre Kontakte? Also einfach im Telefonbuch geblättert, oder im Internet?
Bergheim: Das ging relativ pragmatisch über private persönliche Kontakte, die wir im Netzwerk hatten. Also, es gibt eine Gruppe von Menschen, die das in Frankfurt gemeinsam vorantreibt, und die haben einfach in ihre Netzwerke hineingehorcht, wer hat da Zugang zu Gruppen, die normalerweise nicht so oft gehört werden. Und da haben wir dann angeklopft, haben Vorgespräche geführt, haben erklärt, was wir tun, und dann haben die sich entschieden, ob sie die Türen für uns aufmachen oder dann auch eher nicht.
Zusammenleben ist das wichtigste Thema
Brink: Was haben Sie denn erfahren, als die Türen aufgingen? Was waren Ihre Erkenntnisse?
Bergheim: Wir haben zum Beispiel erfahren, wie wichtig den Menschen das Thema Zusammenleben ist. Das war das große, würde ich sagen, Aha-Erlebnis aus dem gesamten Prozess. Allüberall, ob wir jetzt mit Investmentbankern gesprochen haben oder in der Bahnhofsmission oder im Altenclub und so weiter, überall haben die Menschen gesagt, Zusammenleben mit den anderen, beginnend bei dem Nachbarn, über Zusammenleben im Straßenverkehr zu Zusammenleben zwischen Weiß und Bunt und zwischen Jung und Alt und Menschen mit Kindern und ohne Kinder - das liegt bei den Menschen in Frankfurt tatsächlich ganz weit oben auf der Prioritätenliste.
Brink: Und was noch?
Bergheim: Dann kommen eher so die Standardsachen, natürlich ist das Thema Wohnen in Frankfurt ein großes Thema, das ist aber allseits bekannt. Einen Arbeitsplatz zu haben, das wissen wir auch aus der Zufriedenheitsforschung, ist natürlich enorm wichtig für die Lebenszufriedenheit der Menschen. Eine gesunde Work-Life-Balance, also solche Sachen kommen natürlich auch auf.
Brink: Jetzt ist ja die große Frage, wie setzt man das um in Politik? Haben Sie da ein Konzept gefunden?
Bergheim: Im nächsten Schritt geht es erst mal darum, den großen Reichtum überhaupt zu sichten, eben zu strukturieren, in verschiedene Themen aufzuteilen. Dann dort auch schon Kontakt aufzunehmen mit Wissenschaftlern, mit Fachexperten zu den einzelnen Themen, und mit Politikern zu den einzelnen Themen. Zu sagen, das ist das, was wir rausgehört haben und damit die Idee in der Politik zu verankern. Wir sind ja ein rein zivilgesellschaftliches Projekt. Im Unterschied zu der Regierungsstrategie "Gut leben" auf der Bundesebene sind wir nicht von der Politik beauftragt. Und dann geht es bei uns im nächsten Schritt darum und auch auf der nationalen Ebene, Indikatoren abzuleiten.
Wie messen wir denn, ob wir da tatsächlich gut dastehen oder nicht? Es kann auch durchaus sein, dass die Menschen Befindlichkeiten haben, aber rein die objektiven Kriterien oder auch subjektive Umfragewerte darauf hindeuten, na ja, so groß ist das Problem eigentlich nicht. Das kann man mit Indikatoren aufarbeiten. Oder man sieht dann tatsächlich, oh ja, da haben wir ein richtig großes Problem. Wenn ich denke, im Bildungsbereich eine Zahl von 15 Prozent funktionale Analphabeten in Frankfurt ist durchaus etwas, was einem zu Denken geben sollte.
Ressortübergreifend über Lebensqualität nachdenken
Brink: Ja, auch im Zusammenleben funktioniert ja alles nicht so prächtig, wie man sich das gerne vorstellen möchte. Noch mal die Frage der Umsetzung: Sie werden ja dann auf nationaler Ebene auch tätig in diesem Projekt, in dem Beratergremium, morgen trifft man sich ja im Kanzleramt. Irgendwann muss man doch ein Stadium erreicht haben, wo man dann ganz konkrete Vorschläge macht?
Bergheim: Genau. Das ist natürlich geplant, und da haben wir auf der nationalen Ebene den Vorteil, dass, wie im Koalitionsvertrag ja festgehalten ist, ein ressortübergreifender Aktionsplan "Gut leben" entstehen soll. Und nach meiner Beobachtung liegt da wirklich die Betonung auf dem Punkt ressortübergreifend. Viele von den Themen, die aufkommen werden vermutlich, liegen irgendwo zwischen den Ressorts oder beziehen verschiedene Bundesministerien mit ein. Und da einfach die Köpfe in so einem strukturierten Prozess zusammenzustecken und darüber zu reden, was machen wir denn schon, was macht ihr denn schon, was gibt es da noch an Möglichkeiten, welche Projekte kann man da noch auf die Beine stellen, das ist dort sehr wichtig.
Bei uns im Frankfurter Projekt, wie gesagt, ein zivilgesellschaftlich organisiertes Projekt, ist es ein bisschen anders. Die Projekte, die wir zunächst aus unserem Gesamtprozess heraus angehen können, sind natürlich Dinge, die wir Bürger selbst anstoßen können. Und da geht es, ja, ich würde sagen, für manche sehr trivial, für uns total begeisternd, schlicht darum, mit den Menschen, mit den Nachbarn besser ins Gespräch zu kommen. Und etwas, was wir nächstes Jahr im Mai anstoßen werden, sind Hausfeste oder Nachbarfeste, wo man einfach seine Nachbarn einlädt, sagt, oh, wir kennen uns nicht so wirklich, lasst uns doch einfach mal an einem Sonntagnachmittag Tisch und Stühle vor die Tür stellen und eine Runde "Mensch-ärgere-dich-nicht" zusammen spielen, und darüber ins Gespräch kommen. Vielleicht erzählt man sich dann, wann man in den Urlaub fährt, wann man gerade nicht da ist, gibt vielleicht sogar mal den Schlüssel weiter zum Blumengießen, solche ganz kleinen Sachen, die irgendwie verloren gegangen sind über die letzten Jahre und Jahrzehnte, die lassen sich darüber vielleicht wieder beleben.
Brink: Glauben Sie denn, dass, wenn Sie morgen dort sich treffen, dass die Politik Sie dann wirklich hört, oder dass sie das nicht einfach nur benutzt, um meinetwegen Wahlkampffutter zu sammeln?
Bergheim: Also, da bin ich mir ganz sicher. Sonst würde ich da auch nicht mitmachen. Und sonst würden die Bürger auch nicht mitmachen. Wenn man das riecht, merkt, da werde ich instrumentalisiert, da werde ich benutzt, ob jetzt als Wissenschaftler oder als Bürger – warum soll ich mich daran beteiligen? Da habe ich andere Dinge zu tun. Also da habe ich keine Sorge.
Brink: Der ehemalige Investmentbanker Stefan Bergheim und sein Projekt "Gut leben – Lebensqualität in Deutschland". Zuerst mal in Frankfurt erforscht, und morgen also findet ein Treffen im Kanzleramt statt, und 50 Vertreter von Arbeitgebern, Sozialverbänden und Arbeitnehmern wollen sich da mit der Kanzlerin treffen, um über die Lebensqualität zu sprechen. Stefan Bergheim, vielen Dank!
Bergheim: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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