Gesellschaft der Zukunft

Selbsterhaltung vor Selbstentfaltung

41:36 Minuten
Freiheitsstatue, New York, USA, überschwemmt und in Trümmern, in einer möglichen Zukunft. Dies zeigt einen Anstieg des Meeresspiegels aufgrund der globalen Erwärmung.
Angesichts des Klimawandels werde Anpassung unausweichlich, sagt der Soziologe Philipp Staab. © imago / Science Photo Library
Philipp Staab im Gespräch mit Stephanie Rohde |
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Corona, Klima, Krieg: Unsere Gegenwart ist von permanenten Krisen geprägt – das werde so bleiben, sagt der Soziologe Philipp Staab. Die Zukunft gehöre deshalb nicht mehr unserer individuellen Selbstentfaltung. Sondern unserem Bemühen um Anpassung.
Ein neues Jahr bringt neue Hoffnung: Darauf, dass wir unser eigenes Leben noch mal neu erfinden können. Auf gesellschaftlichen Fortschritt. Und ein Ende des permanenten Krisenmodus, wie wir ihn seit Jahren gewohnt sind – von Corona bis zur Energieknappheit. Aber was, wenn wir uns von dieser Hoffnung verabschieden müssen?
Mindestens die Klimakrise legt das nahe: Selbst wenn wir es schaffen, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen, „dann wird es immer noch eine Welt sein, die massiv viel heißer und katastrophischer ist“ als die heutige, betont der Soziologe Philipp Staab. In seinem jüngsten Buch „Anpassung“ entwickelt er daher die These, dass das Anpassen zum „Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ werden müsse.

Bemühen um gemeinsame Selbsterhaltung

Während die Moderne stets vom Motiv des Fortschritts geprägt war – verstanden als Ausweitung der individuellen Handlungsspielräume für Selbstentfaltung – müssten wir akzeptieren, dass die kommende, „nachmoderne“ Gesellschaft vom Bemühen um gemeinsame Selbsterhaltung geprägt sein werde.
Genau genommen lebten wir längst in einer Gesellschaft der Anpassung. Nur hätten wir diesen Umstand noch nicht angenommen: Nicht nur käme es für viele Menschen, etwa durch die Inflation, „schon längst zu massiven Anpassungen der Lebensweise“. Auch all die großen sozialen Bewegungen unserer Zeit, vom Klimaaktivismus über Enteignungsinitiativen bis zu Black Lives Matter, stünden letztlich im Zeichen der Selbsterhaltung: „Was die eigentlich thematisieren, ist, dass es viel basalere Probleme gibt, als immer weitere Zugewinne im Bereich individueller Freiheiten, die zunächst einmal erfolgreich bearbeitet werden müssen, bevor gelingende Politiken der Selbstentfaltung wieder möglich sind.“
Philipp Staab, im weißen offenen Hemd und hellblauer Jacke, blickt freundlich in die Kamera. Im Hintergrund: die Frontscheibe eines Straßencafés, vor der Tische und Stühle in der Sonne stehen.
Die Gesellschaft der Zukunft muss sich überwiegend mit Selbsterhaltungsfragen beschäftigen, meint der Soziologe Philipp Staab.© Robert Poorten
Die traditionell negative Konnotation von Anpassung haben Staab zufolge auch die Sozialwissenschaften mitgeprägt. Aber Anpassung als Ausdruck von Herrschaft, als Widerspruch zur individuellen Freiheit also, sei nicht mehr aufrechtzuerhalten: „In dem Moment, wo das Primat der Selbstentfaltung zunehmend zu einem Problem für die Selbsterhaltung der Individuen und der Gesellschaft als ganzer geworden ist, können Sie Anpassung nicht mehr in dieser alten Weise denunzieren.“

Wir haben etwas zu gewinnen: soziale Freiheit

Allerdings betont Staab: Auch in einer „adaptiven“ Gesellschaft gingen nicht alle Spielräume für Selbstentfaltung verloren. „Sexuelle Freiheiten, Tätowierungen, Nasenringe, bunte Turnschuhe, was weiß ich – das alles ist natürlich in großen Teilen völlig unberührt von der Tatsache, dass sich diese Gesellschaften mit Selbsterhaltungsfragen befassen müssen.“ Zumal Anpassung nicht heißen müsse, dass alle ihre Wohnungen nur noch auf maximal 16 Grad heizen dürfen, sie lasse sich auch über eine stärkere Umverteilungspolitik erreichen.
Vor allem aber hätten wir durch Anpassung nicht nur etwas zu verlieren, sondern auch zu gewinnen. Und zwar "etwas, wonach sich große Teile der Bevölkerung durchaus sehnen, nämlich ein politisches Projekt, das das Gemeinsame gegenüber den Einzelinteressen in den Vordergrund rückt. Es gibt so etwas wie eine kollektive, soziale Freiheit zu gewinnen – weil wir uns gemeinsam anstrengen müssen, um die Anpassung überhaupt zu bewerkstelligen.“
Im Gespräch mit Sein und Streit geht Philipp Staab außerdem darauf ein, wie man die Zivilgesellschaft für nötige Anpassungen mobilisieren kann, ob Anpassungsprojekte einem politischen Lager zuzuordnen sind und wie sich Anpassung demokratisch und nicht technokratisch gestalten lässt.
(ch)

Philipp Staab: „Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“
Suhrkamp, Berlin 2022
240 Seiten, 18 Euro

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