Die Stadt als Paradies
Alexander Kluge will mit einer Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt den Gang der Menschheitsgeschichte ergründen. Dabei sei eines von drei elementaren Prinzipien die Stadt. Denn mit ihr begann das friedliche Zusammenleben von Fremden. Und Kluge plädiert für mehr Vertrauen in die Kreativität der Menschen.
Katrin Heise: "Stadt - Religion - Kapitalismus", drei Grundsätze oder besser gesagt Wendepunkte der Zivilisation, ohne die sich unsere heutigen Gesellschaften nicht begreifen lassen. Das sagt der Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Alexander Kluge und der Soziologe Richard Sennett lassen ab heute für drei Tage im Haus der Kulturen der Welt über diese Prinzipien nachdenken und diskutieren, und zwar mit Filmen und Podiumsgesprächen. Im Vorfeld konnte ich mit Alexander Kluge im Haus der Kulturen der Welt sprechen. Ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit nehmen, Herr Kluge.
Alexander Kluge: Ich freue mich auch.
Heise: Warum, Herr Kluge, eigentlich diese drei Prinzipien, "Stadt - Religion - Kapitalismus"? Warum nicht beispielsweise Intelligenz, Konkurrenz, Gefühl?
Kluge: Das könnten Sie genauso gut machen. Sie würden aber auf eines nicht stoßen: Es gibt ein Wunder, möchte ich mal sagen, dass eine Menschheit, die in Afrika ursprünglich 70.000 vor Christus auf 7000 Exemplare zusammengeschrumpft ist, dieses Nadelöhr dann überwunden hat, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Und dieser Menschheit, unsere Vorfahren, gelang 3000 vor Christus so etwas, was sie vorher nie geahnt haben, nämlich dass sie auf engem Raum als Fremde zusammenleben können. Das ist das Prinzip Stadt.
Das heißt, man wird stimuliert, aber man identifiziert sich nicht mit den anderen. Früher hätten die Clans jemanden, der fremd ist, entweder unterworfen, oder totgeschlagen, und jetzt plötzlich vertragen sich Menschen. Das ist leider nur eine ganz kurze Zeit gewesen, denn so wie der Turm von Babel zusammenfällt, ist auch diese frühe Zivilisation ganz schnell beendet worden, durch Bürgerkriege und dadurch, dass Assur sich als Eroberer darauf gesetzt hat. Aber die Sehnsucht nach der Stadt, die gibt es immer noch.
Heise: Sie machen vor den Diskussionsveranstaltungen Angebote, nämlich Filme zu diesen Komplexen. Der Film zur Stadt lautet im Untertitel "Die Entstehung aus Paradies und Terror". Jetzt haben Sie das ja schon so ein bisschen umrissen. Sehen Sie diese Phase vor der Menschenansammlung, vor der Siedlung, vor der Stadt, also diesen Clan-Zusammenhalt, sehen Sie den als den paradiesischen?
Die Stadt als Paradies - Zusammen besser überleben
Kluge: Nein, denn vorher ist es eine Zeit der Not und die Menschen müssen sehr schnell laufen, um die tägliche Nahrung zu bekommen. Jetzt entsteht etwas, wo sie Kooperation erfinden, Plantagen bauen können, richtige Treibhäuser, die sie ernähren. Das ist die Stadt. Und da braucht man drei Dinge für: Drogen, Bier in dem Fall, man braucht Religion, irgendetwas, was kommuniziert zwischen den Menschen und Fremde einheitlich macht, Schrift und Buchhaltung.
Das ist die frühe Zivilisation, und die ist natürlich emotional unterfüttert. Aber ich könnte Ihnen für die Emotionen, die Liebe, nicht in gleicher Weise ein Gründungsdatum sagen, und einen Hochbau gibt es bei der Liebe überhaupt keinen. Das heißt, einen Turm von Babel der Liebe gibt es nicht.
Nur da ist etwas, was ganz seltsam ist. Sehen Sie, ich habe mich immer als Kind gewundert über die Geschichte der Paradiesdarstellung, dass die Gazellen und die Löwen miteinander nachbarlich zusammenleben. Das wusste ich, das gibt es nicht. Aber dass Menschen, die vorher so eng nie hätten gestapelt werden können, sich in einer Stadt vertragen, das ist neu und das ist das Paradies, und tatsächlich liegt das Paradies nach der biblischen Beschreibung genau dort zwischen Euphrat und Tigris.
Heise: Stadt ist, wenn sie dann größer wird, Unordnung, und Sie haben auch gesagt, es ist das Zusammenkommen von Unterschieden. Das ist anders als im Dorf beispielsweise.
Kluge: Fremd.
Heise: Außer es gibt in der Moderne Städte, die am Reißbrett geplant sind. Mir fällt da Astana ein in Kasachstan oder Brasilia. Aber auch die wuchern dann ja.
Kluge: Aber richtig wuchern Lagos und Sao Paulo und so etwas oder Shanghai.
Ein Plädoyer für weniger Planung in den Städten
Heise: Und da sind wir an einem Punkt, den Sie auch ansprechen und der sicherlich sehr wichtig ist dafür. Wenn eine Stadt funktionieren soll, dann braucht sie aber nur eine gewisse Größe oder dann muss sie aufhören zu wachsen. Dann braucht sie ein Maß, oder?
Kluge: Kann man sagen, aber die Menschen zaubern. Und Richard Sennett hat festgestellt bei seinen Untersuchungen, dass in Lagos beispielsweise Erfindungen gemacht werden an Community, wie sich Menschen in diesem Dschungel fast von Hütten einrichten. In einer unmöglichen Stadt richten sie sich menschlich ein, und das ist etwas, wo die Stadtplaner hinterherlaufen und studieren. Das ist mir sehr interessant gewesen, dass Richard Sennett sagt, die open city ist viel wichtiger als geplante Städte. Le Corbusier würde damit nicht fertig.
Heise: Und auch wichtiger als die Kontrolle?
Kluge: Kontrolle ist der Feind der Zivilisation in dem Punkt. Das heißt, die Menschen können sich selber besser regulieren, als die Kontrolle es je könnte.
Heise: Sie haben gesagt, Le Corbusier könnte damit nicht leben. Damit könnten viele nicht leben.
Kluge: Le Corbusier war ja für Ordnung. Der Straßenverkehr muss geordnet werden, das ganze muss irgendwie gewissermaßen schön sortiert und geordnet werden.
Weniger Kontrolle, mehr Kreativität
Heise: Das ist doch eigentlich unser Prinzip auch jetzt immer, denn wir streben immer nach Sicherheit, nach Kontrolle, nach Ordnung.
Kluge: Da sagt Richard Sennett – und das würde ich sehr unterstützen, sage ich auch von ganzem Herzen -, das ist der falsche Weg. Menschen können selber mehr, sind ja auch älter als alle Planer.
Heise: Das heißt, da würden Sie sagen, das ist das, was wir aus der Betrachtung der Stadt durch die vielen Jahrtausende lernen sollten?
Kluge: Ganz genau.
Heise: Sehen Sie das denn, dass wir genau daraus lernen, quasi auf uns in dem Durcheinander zu bauen?
Kluge: In dem Durcheinander zu leben, sich einzurichten, weil Menschen haben mehr Glück als Verstand, sagt man, und insofern gelingt ihnen doch immer wieder, auf die Füße zu fallen. Sehen Sie mal, nächstes Jahr werden wir 1945 als Jubiläumsjahr haben. Von dem Nullpunkt sind wir wieder aufgestanden. Und so gibt es überall verwunderlicherweise und gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Lösung, die aber die Menschen selbst machen.
Heise: Da sprechen Sie gerade was an. Sie haben in Ihrem Leben erfahren oder durchlitten, was passiert, wenn eine Stadt zerstört wird. Als Kind haben Sie die Bombardierung von Halberstadt, Anfang April '45, erlebt. Was bedeutet Zerstörung einer Stadt? Den Leuten fällt jetzt vielleicht aktuell Aleppo ein oder Dubrovnik, Städte, die zerstört worden sind oder noch zerstört werden.
Sehnsucht nach Stadt als Bedürfnis der Menschen, zueinander zu kommen
Kluge: Ich war damals 13 Jahre und ich sage Ihnen, das ist etwas, was Sie erst ganz allmählich verstehen. Es ist tatsächlich die Wegnahme des eigenen Vaterhauses, aber es ist gleichzeitig die Zerstörung einer Stadt, die so nie wieder entsteht, und das ist bitter. Es können aber auch große Flotten von Investoren eine Stadt zerstören, und dann machen das nicht Bombenflugzeuge, sondern das macht das Geld. Und dagegen gewissermaßen Beobachtungsgabe und eine Empfindung zu organisieren, das ist das, was Richard Sennett und mich interessiert, weil Städte sind Öffentlichkeit und diese Öffentlichkeit ist etwas, was Menschen brauchen, genauso wie ihre Intimität.
Heise: "Stadt - Religion – Kapitalismus", eine Tagung über diese Wegmarken der Zivilisation im Haus der Kulturen der Welt, und ich spreche mit Alexander Kluge. Da merkt man schon, Herr Kluge, dass in dem Begriff Stadt oder in dem Prinzip Stadt eigentlich ja schon alles drinsteckt. Im Film kann man das auch beobachten. Da ist die Bildung mit drin, da ist auch das Geld mit drin, da ist Kampf mit drin, Konflikte, Religion ist da mit drin. In der Stadt ist doch eigentlich alles schon enthalten?
Kluge: Es ist eine eigenartige Errungenschaft, und dass im Jahre 2040 vermutlich 70 Prozent der Menschen in Städten leben werden, zeigt, dass es eine Sehnsucht nach Stadt gibt – oft unverständlich vom Aussehen der Städte her gesehen. Sie sind ja manchmal Monstren. Aber es gibt ein Bedürfnis der Menschen, zueinander zu kommen, und das wird mit der Stadt verbunden.
Heise: Lassen Sie uns mal zur Religion kommen. Das ist ja auch wieder ein Ding. Zueinander kommen, haben Sie jetzt gerade gesagt. Was ist Ihnen wichtig bei der Religion, die positive Kraft der Religion oder die damit einhergehende Ausgrenzung, Auseinandersetzung?
"Glaube – Märchensammlung spiritueller Art – muss respektiert werden"
Kluge: Beides nicht, denn ich bin nicht der Oberrichter und Grenzwächter, sondern ich möchte zunächst mal Religiosität verstehen. Ich kenne sehr ernsthafte Menschen, die ich auch mag, die religiös sind, und ich kann sagen, dass manchmal die Religion Wunder gewirkt hat, und zwar immer an der Stelle, wo man es nicht erwartet. José Casanova, der beste Religionsforscher, den wohl die Welt hat, aus Washington, der hier sprechen wird, der legt sehr großen Wert darauf, dass man sieht, dass die Gegenreformation die Musik gerettet hat, nämlich mit einer Messe von Palestrina auf dem Trienter Konzil wurde die ganze mittelalterliche Musik at it’s best gerettet, und das ist jetzt die H-Moll-Messe des Protestanten Bach. Ohne das gäbe es die nicht. Und das ist Mozart. Das geht nur mit den Kräften im Menschen, die unverkäuflich sind, und wenn ich etwas nicht verkaufe, dann glaube ich daran, und dieser Glaube, der muss respektiert werden. Was man verlangen kann ist, gehorcht den Gesetzen.
Heise: Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen, dass Glaube ja häufig dann auch das Gegenteil von Menschlichkeit bedeutet.
Kluge: Glaube ist nicht tolerant und nimmt Fremde nicht auf wie eine Stadt. Aber es ist trotzdem ein Gebäude, ein nicht städtisches Gebäude des Bewusstseins, und dieses muss man ernst nehmen und es hat eine eigenartige Art zu erzählen. Und wenn Sie so hören in dem Film, wie die Apokryphen erzählen, also die Gemeinden – jede Gemeinde hat ein anderes Evangelium zu bieten. Und die Gemeinde, die das Judas-Evangelium hat, toppt natürlich die einfachen Evangelien, die heute kanonisch sind, und hat was Besonderes. Wenn Sie so wollen, diese Märchensammlung spiritueller Art, die muss man ernst nehmen lernen.
Heise: Kommen wir mal auf ein anderes Märchen, was Sie nämlich im Kapitalismus suchen: Das Vertrauen. Sie wollen sprechen über, ich zitiere, "über das, was an der Börse nicht gehandelt wird, aber jedem Kapitalismus vorausgeht: das Vertrauen". Eigentlich ist doch genau das aber inzwischen verloren gegangen?
Suche nach einem Kapitalismus, der den Menschen dient
Kluge: Und dann ist es kein Kapitalismus mehr, der brauchbar ist. Das heißt, der Kapitalismus muss unter Umständen neu lernen. Es gibt hundert Arten davon und der Produktionskapitalismus ist etwas total verschiedenes vom Finanzkapitalismus. Manche Formen davon sind überhaupt kein Kapitalismus, sondern ein Derivat davon, eine Verirrung.
Heise: Und es lohnt sich, über all dieses, über diese Ausformungen des Kapitalismus nachzudenken, um was zu schaffen, einen neuen Kapitalismus?
Kluge: Nein, eine Reinschrift dessen, womit Menschen leben können, denn es gibt immer die Ökonomie des Kapitals. Die ist relativ abstrakt, aber sehr, sehr kommunikativ und sehr geschickt. Und es gibt zweitens die Ökonomie der lebendigen Arbeit. Das heißt das, was die Menschen in ihrer Lebenszeit machen. Und dazwischen gibt es ein Ringen und mal gewinnt der eine und mal der andere. Ich habe jetzt gerade ein Buch geschrieben über den 30. April 1945. Das ist sozusagen ein einzelner Tag, kurz vor der Kapitulation. Das ist die Nullstellung im deutschen Reich. Da haben wir keine Regierung, die irgendwas machen kann, ein Vakuum mit ungeheuerer Potenz, wo was Neues entsteht. Und das, was da neu entsteht, das kann das Kapital nicht machen, das machen die Menschen.
Heise: … sagt Alexander Kluge. Was wir hier in wenigen Minuten versucht haben, das findet heute, morgen und Samstag ausführlich statt im Haus der Kulturen der Welt in Berlin: das Nachdenken über die Wendepunkte unserer Zivilisation.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.